Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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November 2007
Schlechter Tausch
von Herbert Dutzler

Es bereitete ihr Unbehagen, sich in einem Eisenbahnwagen einen Platz suchen zu müssen. Sie war ängstlich und deshalb wählerisch, was Reisegefährten betraf. Doch diesmal schien die Wahl leicht. Im Großraumwagen gab es nur einen Viererblock, in dem nur eine Person saß. Ein junger Mann, sehr gepflegt, bürgerliches Aussehen, Sakko und rote Krawatte. Sie fragte, ob ein Platz frei sei, er sah sie an, lächelte, schwieg und nickte. Als er ihre Tasche sah, sprang er auf und wollte helfen, doch sie lehnte ab. Sie war durchaus in der Lage, eine mittelschwere Reisetasche in ein Gepäcksnetz zu heben. Der junge Mann setzte sich wieder, sie spürte seine Blicke auf ihren Beinen. Vielleicht hätte sie sich doch zu einer Frau setzen sollen. Oder einen längeren Rock anziehen. Sie setzte sich ihm schräg gegenüber und schlug die Beine übereinander. Unwillkürlich heftete sich ihr Blick wieder auf den Mann, der sein Gesicht hinter einer lachsfarbenen Zeitung verbarg.
Gelegentlich, wenn er umblätterte, tauchte sein Gesicht hinter der Zeitung auf. Seine Blicke streiften immer wieder ihre Augen, ihre Brüste, ihre Beine. Nicht in einer unangenehm bedrängenden Weise. Man konnte seine Blicke sogar als Komplimente auffassen. Ihr war warm. Der Waggon war zu stark geheizt. Wie meist schien die Klimaanlage nicht zu funktionieren. Entweder war es zu warm oder zu kalt, es stank oder war zugig. Sie nahm den obersten Knopf ihrer Bluse zwischen Daumen und Zeigefinger und schüttelte sie, um etwas Frischluft an ihren Oberkörper zu fächeln. Sie spürte, wie sich ein Rinnsal von Schweiß zwischen ihren Brüsten bildete und auf den Weg über das Brustbein bis zum Nabel hinunter zu machen begann.
Der junge Mann legte seine Zeitung beiseite. „Heiß?“, fragte er lächelnd. Es war etwas in seinen Augen. Er war wirklich sehr attraktiv. Eigentlich genau ihr Typ. Dunkelhaarig, etwas herb, kantiges Kinn, nicht wirklich frisch rasiert. Kurze Haare, die aber Naturwellen oder sogar eine leichte Krause erahnen ließen. Er roch auch gut. Was war das bloß für ein Parfum … Sie meinte, es zu erkennen. Ob sie es schon einmal verschenkt hatte?
Sie war dankbar, dass er das Eis gebrochen und die Konversation eröffnet hatte. Schweigende Bahnfahrten hatten etwas Bedrückendes an sich. Ebenso allerdings zu geschwätzige. „Ja!“, seufzte sie und lächelte zurück. „Diese Klimaanlagen…“. Etwas Geistreicheres hatte sie im Moment nicht zu bieten. Ob er wohl eine Freundin hatte? Bald hatte der junge Mann erfahren, dass sie auf dem Weg von einem Wochenendbesuch bei ihren Eltern nach Hause war, dass sie gerade an ihrer Diplomarbeit schrieb und hoffte, als Mikrobiologin einen Job bei einer Pharmafirma zu ergattern. Sie wusste, dass er Rechtsanwalt war, mehr nicht. „Und wohin sind Sie unterwegs?“ „Ich habe morgen Früh in Innsbruck einen Gerichtstermin, eine Anreise morgen wäre sich nicht mehr ausgegangen.“ Sie erklärte ihm, dass sie gedacht habe, Rechtsanwälte führen in dicken, schwarzen Limousinen zu ihren Terminen. So weit sei er noch nicht, antwortete er.
Die Konversation war auf dem besten Wege, wieder einzuschlafen, er blickte aus dem Fenster, durch das es außer Dunkelheit und vorbei huschenden Lichtern nichts zu sehen gab, und sie gab einem plötzlichen Impuls nach, streifte die Schuhe von den Füßen und legte sie auf den Sitz neben ihm, ihr gegenüber. Er merkte die Bewegung, streifte ihre Beine mit seinen Blicken, gab keinen Kommentar ab und rückte, wieder aus dem Fenster blickend, ihren Beinen ein wenig näher, sodass sie nun mit Zehen und Rist sein Gesäß berührte. Die Berührung war ihr angenehm, aber sie spürte mehr als nur den Stoff seiner Hose. Eine unerklärliche Unruhe, ein leichter Schwindel, fast so, als hätte sie Alkohol getrunken. Hatte sie aber nicht.
Er lehnte sich zurück, lächelte ihr noch einmal zu, drückte seinen Kopf in die Ecke der Kopfstütze, so als wolle er schlafen, und bald fielen ihm auch die Augen zu. Ihr Fuß lag noch immer an seinem Gesäß. Sie ertappte sich dabei, dass sie seit längerem seine rote Krawatte anstarrte. Eine schöne Krawatte. Sicher aus Seide. Sie wollte so eine Krawatte haben. Nein, sie wollte genau diese Krawatte haben.
Plötzlich schoss es aus ihr heraus, ohne dass sie sich dafür entschieden hatte, etwas zu sagen. „Ich will Ihre Krawatte haben.“ Er öffnete die Augen, wirkte aber nicht so, als wäre er aus dem Schlaf geschreckt oder erschrocken worden. Im Gegenteil, er lächelte ihr freundlich zu. Sie hingegen war es, die, schockiert davon, einen plötzlich aufkeimenden Wunsch so spontan ausgesprochen zu haben, die Hand vor den Mund schlug. „Entschuldigen Sie,“, kicherte sie, peinlich berührt, „das ist mir so rausgerutscht, ich weiß selbst nicht, wieso.“
„Keine Ursache!“, antwortete er, nestelte am Knoten seiner Krawatte, öffnete ihn, zog sie von seinem Hals und überreichte ihr die Krawatte mit einer galanten Verbeugung. „Ich habe noch mehrere davon. Sie sollten sie aber auch einmal tragen.“
Die Situation war unangenehm, dennoch nahm sie das Geschenk mit einem verlegenen Lächeln an und stopfte es in ihre Handtasche, die sie neben sich auf dem Sitz platziert hatte.
Danach sah sie ihm wieder in die Augen und verspürte dabei einen Cocktail völlig widersprüchlicher Gefühle, der in ihr Unruhe auslöste. Einerseits wollte sie diesen Mann, nicht nur sein Äußeres, sondern auch etwas anderes an ihm zog sie unwiderstehlich an, aber sie meinte auch zu spüren, dass eine Gefahr von ihm ausging. Plötzlich verschwammen seine Umrisse vor ihren Augen, so, als ob zwischen ihnen heiße Luft aufstieg. Sie meinte, durch ihn hindurch sehen zu können, anstatt seines Kopfes konnte sie die blauen Polster der Rückenlehne sehen. Dann wurde ihr Sicht wieder klar, doch gleich darauf versank sie in seinen Augen, sein Gesicht verschwand, die Ahnung eines grauen Totenschädels wurde für Sekundenbruchteile sichtbar, und gleich darauf war alles wieder normal.
Plötzlich war sie sich sicher, dass sie die Reaktionen des Mannes kontrollieren konnte. Sie wünschte sich, er solle nun wieder aus dem Fenster sehen. Er tat es. Sie probierte es noch einmal. Nun wollte sie, dass er sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand über den Nasenrücken fuhr, so als ob es ihn dort juckte. Er tat genau das. Gänsehaut breitete sich von ihrem Rücken sternförmig am ganzen Körper aus. „Sieh mir in die Augen.“, dachte sie, und er wandte den Kopf vom Fenster ab, sah ihr in die Augen und dachte: „Du kannst mich nicht kontrollieren. Ich kenne deine Gedanken. Ich kontrolliere dich.“ Ihre Ohren hatten nichts gehört. Er lächelte. Grinste. Ihr wurde übel.
„Ich muss mich mit irgendwas angesteckt haben,“ sagte sie zu dem jungen Mann, „mir ist gar nicht gut.“ Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie hörte ihn irgendwo herum kramen. Sie wusste, er würde ihr eine Tablette anbieten. Als er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte, tippte er sanft gegen ihren Knöchel. Eine heiße Welle stieg von dort ihren Körper hinauf. Sie öffnete die Augen. Er hielt einen Streifen Tabletten und eine Mineralwasserflasche in der Hand. „Möchten Sie vielleicht eine Parkemed? Habe ich immer dabei, hilft immer.“
Ihre verrückten Gedanken beiseite schiebend, nahm sie beides an und spülte die Pille mit einem kräftigen Schluck hinunter. Sofort fühlte sie sich besser. Konnte sie so schnell wirken? Wieder trafen sich ihre Augen mit denen des jungen Mannes. „Ich hätte auch gerne ein Souvenir von ihnen.“, lächelte er.
Nach kurzem Überlegen stand sie auf und ging auf die Toilette. Dort schloss sie ab, schob ihren Rock hoch, hakte ihren Strumpfhaltergürtel auf, löste ihn von den Strümpfen, ließ den Rock wieder fallen und barg den Gürtel in ihrer Faust. Den Rock ließ sie wieder hinunter gleiten. Die Strümpfe würden halten, bis sie zu Hause ankam. Ob der junge Mann die Botschaft verstehen würde? Noch niemals in ihrem Leben hatte sie etwas so Gewagtes getan, aber heute musste es sein.
Sie kehrte zu ihrem Platz zurück, setzte sich wieder, beugte sich zu dem jungen Mann hinüber und stopfte ihren Gürtel in die Tasche seines Sakkos. „Wehe, Sie holen das jetzt heraus!“, flüsterte sie ihm dabei ins Ohr. Dass sie ihm dabei einen tiefen Einblick in ihren Ausschnitt gewährte, war ihr bewusst.
Sie setzte sich wieder auf ihren Platz, ihr Herz schlug heftig, als er mit der Hand in seine Sakkotasche fuhr und nach dem Gegenstand tastete, den sie hinterlassen hatte. Zuerst Ratlosigkeit, dann ein breites Grinsen. Und wieder verschwand sein Bild vor ihren Augen.
An der Endstation des Zuges sprach der Schaffner die junge Frau, die offenbar eingeschlafen war, zuerst leise, dann immer lauter an. Sie wollte nicht wach werden. Als er sie sanft auf die Schulter tippte, kippte sie zur Seite, ihr langes schwarzes Haar floss vom Sitz bis auf den Boden. Der Schaffner tastete nach ihrer Halsschlagader, fühlte keinen Puls, holte sein Mobiltelefon heraus und rief seinen Vorgesetzten.
Die Polizei fand später eine rote Seidenkrawatte in der Handtasche der toten Frau. Auf dem Fensterplatz ihr schräg gegenüber lag ein Strumpfhaltergürtel der Marke Triumph, Modell Tender Temptation, in der Farbe rococo.

Letzte Aktualisierung: 18.11.2007 - 20.17 Uhr
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