Ein schmaler, gewundener Pfad führte zu dem Haus, das über Felder und Böschungen hinweg zum Deich blickte. Die Möwen schrieen mit grellen, aufgeregten Stimmen und segelten unter tief liegenden grauen Wolken dahin. Der Salzgeruch der Nordsee lag in der Luft und ich sog ihn mit tiefen Atemzügen ein, hob und senkte meinen Brustkorb, versuchte so den stechenden Desinfektionsgeruch von sterilen Krankenhausgängen auszuatmen, der noch immer in mir klebte.
„Moin, Moin. Willkommen in Dünenend, Frau Fender.“
Ein zerknittertes altes Weib im schwarzen Kleid empfing mich vor der Tür des Ferienhauses. Ihre Stimme klang wie rostige Nägel, die sich knirschend aneinander reiben. Der Rücken war krumm und die Hand klammerte sich mit knochigen Fingern an dem silbernen Knauf ihres Stockes.
Ich stand vor einem reetgedeckten Haus mit roten Backsteinen und kleinen Giebelfenstern, die mit verdunkelten Blicken auf mich herabsahen. Mit Mühe hatte ich es aufspüren können, denn mein Navigationssystem hatte versagt. Ein Fischer im Dorf wies mir schließlich den Weg.
„Dünenend?“ In seiner Stimme lag das Knarren von Schiffstauen im Wind und er knabberte lange an dem schwarzen Mundstück seiner Pfeife. Schließlich zeichnete er mit seiner Pfeife den Weg zum Haus in die Luft. „Dor langs“, war seine knappe Antwort und er verschwand in die Kneipe „Zum Strandlöper“.
„Svantje Spieker?“, fragte ich vorsichtig. Die alte Frau grinste mich mit fleckigen Zähnen an, nickte.
„Der Schlüssel steckt.“
Das rechte Bein schleifte über den Boden als sie den Weg mühsam nach unten ging.
„Warten Sie“, rief ich ihr hinterher. „Wo soll ich den Schlüssel abgeben, wenn ich wieder abreise?“
Ihr Kopf ruckte krähengleich in meine Richtung.
„Lassen Sie ihn nur im Schloss, ich hole ihn mir.“
Der Schlüssel knarzte leise als ich ihn umdrehte. Die Tür schwang lautlos ins Innere hinein und abgestandene, muffige Luft schlug mir entgegen. Ich öffnete alle Fenster und ließ die frische Seeluft durch Räume mit alten, dunklen Deckenbalken und gebeizten Kiefernmöbeln ziehen. Zu meiner Freude gab es einen Kamin im Wohnzimmer. Schon bald flackerte munter ein Feuer mit Holzscheiten, die ich säuberlich gestapelt im Schuppen hinter dem Haus gefunden hatte.
Blutrot versank die Sonne hinter dem Deich und Dunkelheit fiel auf die Wiesen und Felder. Die Wärme der knackenden Holzscheite im Kamin und zwei Gläser blutroter Merlot machten mich schläfrig. So kuschelte ich mich alsbald in weiche Daunen mit Kornelius’ Bild silberumrahmt auf dem Nachttisch. Die Erinnerung an ihn schnürte mir die Kehle zu. Ach, Kornelius, kannst du mir verzeihen? Schließlich versank ich in einen unruhigen Schlaf. Wieder wanderte ich durch die kalten Korridore des Krankenhauses. Die Maschinen piepten im beständigen Takt und pressten Luft in seine Lungen. Eine Schere lag kühl in meiner Hand.
Ein Knarren und Poltern schreckte mich auf. Es klang, als ob jemand auf dem Dachboden hin- und herwanderte. Ein dumpfes Pochen folgte auf jeden Schritt. Kälte breitete sich aus und mein Atem zerfiel in weiße Wolken. Angespannt lauschte ich in die Dunkelheit. Jedes Knarren und Seufzen ließ einen Schauer über meine Haut fahren.
Ist dort oben jemand? Oder narrt mich nur der Wind?
Ein Klirren ließ mich hochfahren und ich knipste die Nachttischlampe an. Kornelius’ Bild lag umgekippt auf dem Boden.
„Ach, Kornelius, treibe keinen Schabernack mit mir …“, kicherte ich und schlief schließlich beim Licht der Lampe wieder ein.
Der Morgen begrüßte mich mit Sonnenschein und ließ alle Schatten vergessen.
Nach Kaffee und Toast wanderte ich durch die Dünen. Die Wolken zogen stürmisch über den blauen Himmel und der Wind zerrte an meinen Haaren. Am schilfgrasumsäumten Strand setzte ich mich auf eine Bank und blickte auf schaumgekrönte Wellen. Hinter den Strandkörben knatterten bunte Drachen im Wind.
Sobald ich still saß, wanderten meine Gedanken wieder in kalte Korridore. In der Luft hing der Geruch von Desinfektionsmitteln, Schuhe quietschten über blank gebohnerte Flure, Stimmen murmelten gedämpft. Ich hielt seine Hand, das Beatmungsgerät hob und senkte seine Brust.
Die Sonne verschwand hinter graubäuchigen Wolken und der Wind biss nun in die Haut. Ich sprang auf und hastete mit eiligen Schritten zurück zu dem Haus. Das Feuer im Kamin war verloschen.
Ein Stöhnen durchseufzte das Haus, atmete vom Giebel zum Kamin herunter, wirbelte schwarze Asche auf. Wieder lag ein Schaudern eiskalt auf meiner Haut, stellte jedes Härchen warnend auf. Zimmer für Zimmer ging ich durch, versuchte mit dem Gedanken, dass dort nichts sei, meinen rasenden Pulsschlag zu beruhigen. Eine Holzstiege führte zum Dachgeschoss hinauf. Als ich an der Türklinke rüttelte, rührte sich nichts. Sie war verschlossen. Wie von selbst beugte sich mein Körper zum Schlüsselloch. Ein Auge, tiefblau wie das Meer bei Sonnenschein, blickte mich an. Entsetzt wich ich zurück, spürte, wie das Herz ängstlich in meiner Brust schlug. Ganz langsam, gezogen von unsichtbaren Fäden näherte ich mich abermals dem Schlüsselloch und blickte hindurch. Schatten flackerten auf dem Boden und Staub tanzte in der Luft. Das Auge war verschwunden.
Meine zitternde Hand wischte kleine Perlen von der Stirn. Ach, Kornelius, wärst du doch nur hier. Das wäre eine Geschichte ganz nach deinem Geschmack. Aufgeregt kichernd stakste ich noch immer leicht bebend ich in die Stube zurück, entfachte erneut das Feuer und wärmte mich an den Flammen.
In dieser Nacht schlief ich traumlos mit Kornelius’ Bild in meiner Hand.
Am nächsten Tag wanderte ich pfeifend ins Dorf hinunter. In der Nähe der Kirche entdeckte ich ein windschiefes Häuschen, von Efeu wild bewachsen. Der rote Ziegelschornstein hustete graue Wolken in den Himmel. „Dat Ole Huus van 1869“ stand in schwarzen Lettern auf dem Holzschild über dem Eingang. Dämmriges Licht begrüßte mich als ich es betrat.
„Moin, Moin“, trällerte mir eine freundliche Stimme entgegen. „Für drei Euro können Sie hier historisches Spielzeug sehen.“
Hinter dem Tresen blitzten mich zwei fröhliche Augen einer jungen Frau mit kurzen, blonden Haaren an.
„Gerade erst angekommen? Ich hab’ Sie hier im Dorf noch nicht gesehen“, plapperte die Frau auf mich ein. Ihre Zähne waren makellos weiß, umrahmt von einem rot geschminkten, volllippigen Mund.
„Vorgestern …“, konnte ich noch sagen, da redete sie auch schon weiter.
„Es gibt hier viel zu sehen. Nach Jever müssen Sie unbedingt. Die Brauerei besuchen. Und oben bei Schillig ist der Strand wunderschön. Wenn Sie Fisch mögen, dann kann ich den Strandlöper empfehlen. Dort kommt nur frisch Gefangenes auf die Teller. Wo wohnen Sie denn? Im Friesenhof? Oder haben Sie ein Ferienhaus an der Robbenplaate?“
„Dünenend“
„Oh…“, der Redefluss versiegte abrupt.
„Dünenend. Das Haus der Spiekers…“, murmelte sie schließlich.
Dann beugte sie sich über die Theke zu mir herüber.
„Die sind damals bei der großen Sturmflut 62 umgekommen. Ganz seltsame Geschichte. Alle Häuser hinter dem Deich wurden von der Flut weggefegt. Nur Dünenend nicht. Und trotzdem war keiner von den Spiekers aufzufinden. Vermutlich versuchten sie das Vieh zu retten und sind dabei ertrunken.“
Jetzt lehnte sie lässig an einer alten Registrierkasse.
„Wir haben von den Spiekers auch ein paar Ausstellungsstücke hier.“
Ich bezahlte drei Euro und wanderte durch die verwinkelten Gänge des Museums. Vor einem Regal mit Zinnsoldaten und einem Schmuckkästchen blieb ich stehen. Ein weißes Schild wies auf die Familie Spieker hin. Das Kästchen war mit Muscheln beklebt. Als ich den Deckel öffnete, drehte sich darin eine Ballerina zu den Klängen aus Giselle. Neben der Ballerina war ein Fach mit Muscheln gefüllt und unter den Muscheln blitzte etwas silbrig. Als ich es näher betrachtete, erkannte ich das Ende eines Schlüssels. Schnell blickte ich um mich, griff zu und schon lag der Schlüssel schwer in meiner Jackentasche.
Gemächlich verließ ich das Museum und eilte dann mit den sturmgepeitschten Wolken zu dem Haus zurück. Das Meer brüllte gegen die Küste und schmutzig-gelbe Lichtstreifen durchzogen den Horizont. Zittrig stand ich vor der verschlossenen Tür, fürchtete das blaue Auge, das mich Tags zuvor angestarrt hatte, schwankte noch in meinem Entschluss und steckte schließlich den Schlüssel ins Schloss. Er passte nicht. Enttäuscht hämmerte ich gegen die Tür. Als ich von ihr abließ, schon halb abgewandt stand, sprang sie mit einem Seufzen auf. Es war kalt dahinter. Eisblumen bedeckten die Giebelfenster und Schatten kauerten dunkel in dem Raum.
In einem Schaukelstuhl saß das alte, zerknitterte Weib mit ihrem Stock quer über dem Schoß. Kaltes Blau blickte mir entgegen.
„Er hat alle umgebracht, der olle Spieker. Sein Viechzeug liebte er mehr als uns.“
Dann jammerte und seufzte sie, donnerte mit ihrem Stock auf den Holzboden und starrte mich an.
„Min Deern, du schaust, als ob du ein Gespenst sehen würdest?“
„Sind Sie denn keins?“, fragte ich mit belegter Stimme, wunderte mich, dass ich überhaupt noch des Sprechens fähig war und solch eine Frage stellte.
Sie lachte, rostig und klirrend.
„Unter das Dach haben sie mich weggesperrt. Als die Flut kam, mich vergessen. Ersoffen sind sie jämmerlich. Alle!“
Sie schaukelte nun heftiger und lächelte mich mit ihren fleckigen Zähnen an.
„Mein Sohn ist immer noch hier. Und noch jemand, der nicht hierher gehört, den du mitgebracht hast …“
Sie wiegte sich in dem Schaukelstuhl vor und zurück und schwieg mich lange an, fixierte mich nur mit ihren kalten Augen.
„Kornelius?“, wisperte ich, spürte wie mich Kälte umwirbelte und das Gefühl von etwas Vertrautem, einen Geruch, den ich so geliebt habe, eine Berührung, die mir bis in mein Herz drang. Sah seinen Kuss, der nicht mehr mir gehörte, den Ring, den er nicht mehr trug, den Unfall, den er überlebte, die Fremde, die an seinem Bett stand, und schließlich die Schere, die alles beendete.
Und ich floh wieder, ließ Dünenend in seine Schatten zurückfallen, trug mein Herz kalt mit mir, das ihn nicht loslassen, ihm nicht vergeben wollte, keine Ruhe mehr fand. Bis der Tod uns scheidet, flüsterte es.
Letzte Aktualisierung: 27.11.2007 - 00.03 Uhr Dieser Text enthält 10265 Zeichen.