Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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November 2007
Verirrt
von Anna Stern

Die Wahrnehmung des Schattens im Augenwinkel erreichte ihr Gehirn eher als ihr Bewusstsein.
Anette zuckte zusammen, ohne sofort sagen zu können warum. Ihr Kopf fuhr nach rechts.
Nichts. Ihre Augen starrten auf die glänzende Schrankfront, suchten weiter nach dem Dunkel, das darüber gehuscht war. Sie wartete. Angespannt. Atemlos.

Dann drang langsam die Normalität zurück in den Raum. Sie saß in der Küche, die Morgensonne schien durch das große Fenster, aus dem Radio dudelte leise Popmusik. Vor ihr stand eine dampfende Tasse Milchkaffee, daneben lag die Tageszeitung, die sie gerade durchblättert hatte.

Sie atmete tief ein und schüttelte den Kopf, schüttelte sich frei von dem Gedanken. Einbildung. Sie nahm einen großen Schluck Milchkaffee und wandte sich wieder dem Zeitungsartikel zu.

Diesen Vormittag hatte sie keine Termine. Anette war Innenarchitektin und hatte sich ein Büro im Haus eingerichtet. Ihr Ehemann Gregor arbeitete als Immobilienmakler in der Stadt. Er war schon früh zur Arbeit gefahren, und sie hatte geplant, an diesem Morgen Rechnungen zu schreiben und Bestellungen für einen Auftrag vorzubereiten. Außerdem musste sie dringend mit einem Kunden telefonieren, weil sich eine Lieferung verspätet hatte. Anette runzelte die Stirn, während sie den Rechner hochfuhr. Sie würde den Lieferanten wechseln müssen, es war nicht die erste Unzuverlässigkeit gewesen. Eine Weile arbeitete sie konzentriert, den Blick auf den Flachbildschirm geheftet, die Gedanken bei ihren geschäftlichen Verpflichtungen. Bis ihr auf einmal die Stille im Haus bewusst wurde. Ihre Hände erstarrten über der Tastatur, sie sah auf. Lauschte. Dann zuckte sie irritiert mit den Schultern. Was hatte sie von ihrer Arbeit abgelenkt? Kein Geräusch, eher die Abwesenheit eines jeden Geräusches. Die Lautlosigkeit war vollkommen, wurde dichter, saugte sämtliche Schallwellen aus ihrer Umgebung, selbst das Rauschen ihres Blutes, das Klopfen ihres Herzens. Anette sprang auf, der Schreibtischstuhl polterte gegen die Wand hinter. Ärgerlich biss sie sich auf die Unterlippe. „Vielleicht sollte ich nicht mehr so viel Kaffee trinken“, murmelte sie und hörte erleichtert den Klang ihrer eigenen Stimme.

Nachmittags war sie mit einer Kundin verabredet, die ihr Wohnzimmer renovieren wollte. „Ich bin so froh, dass Sie den Auftrag übernehmen“, strahlte die Dame in dem eleganten Kostüm. Anette lächelte. Sie genoss ihren Erfolg, den sie vor allem ihrer Gabe zu verdanken hatte einen Raum visuell zu konstruieren, die imaginären Wände in Farben zu tauchen und mit Gedankenobjekten zu bestücken, die sie im Geiste so lange hin- und herschob, bis ein vollendetes Ganzes vor ihren Augen entstand. Eine Weile unterhielt sie sich mit der Kundin über ihre Einrichtungsvorstellungen, sie sahen Farbmuster durch und blätterten in Katalogen.

Dann klingelte ein Telefon. Die Dame entschuldigte sich und verschwand im Nebenraum um zu telefonieren. Anette sah auf die Uhr, sie war schon über eine Stunde hier. Bald würde Gregor nach hause kommen; vielleicht würden sie heute Abend essen gehen. Oder sie könnte auf dem Heimweg beim Feinkosthändler vorbeigehen und Zutaten für ein schnelles Abendessen besorgen.
Die Berührung an ihrem Hals kam völlig unerwartet.
Anette fuhr hoch, mit einem spitzen, unkontrollierbaren Schrei. Sie schwang herum. Niemand war hinter ihr.

„Ist etwas passiert?“ Die Kundin war zurück ins Zimmer geeilt. Als Anette sich mit klopfendem Herzen zu ihr herumdrehte, spiegelte sich ihre eigene Verwirrung im Gesicht der Mittvierzigerin. Sie schüttelte den Kopf und versuchte ein Lächeln. „Entschuldigen Sie bitte, ich dachte, jemand wäre im Zimmer.“ Sie lachte unsicher. „Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.“ Die Kundin schüttelte den Kopf. „Sie sind bestimmt überarbeitet, weil Sie so viele Aufträge haben. Und dann komme ich auch noch mit meinem Wohnzimmer.“ Es klang fast entschuldigend. Anette beruhigte sie und hob den Katalog auf, der auf den Boden gerutscht war. Ihre Hand zitterte leicht.

Gregor war bereits zu hause, als sie mit einer Einkaufstüte durch die Tür trat, und er hatte den Kopf voll mit den neuesten Entwicklungen am Immobilienmarkt. Mit einem Glas Wein lehnte er am Türrahmen und erzählte von einem Objekt, während er ihr zusah, wie sie zerkleinerten Staudensellerie in den Wok warf. „Und wie war dein Tag, Liebes?“ fragte er schließlich. „Wie üblich“, sagte sie, ohne sich umzudrehen, und rührte mit einem Holzlöffel das Gemüse. Es wäre albern gewesen, Gregor davon zu erzählen. Wie hätte sie es auch in Worte fassen können? Außerdem hatte sie das Gefühl, als wenn Gregors Anwesenheit die seltsamen Ereignisse des Tages immer weiter wegschob, so als wären sie geschehen. Langsam spürte sie, wie sie ruhiger wurde.

Gregor war abends zu seinem wöchentlichen Skat-Termin verabredet und Anette ging früh ins Bett, mit der Absicht sich gründlich auszuschlafen. Als sie jedoch die Augen schloss, war ihre Müdigkeit wie weggeblasen. Sie war hellwach. Ein paar Minuten hielt sie es noch im Bett aus, dann hatte sie das Gefühl, als würde die Wärme der Daunendecke sie ersticken. Sie spürte ihre Nerven wie feine, vibrierende Drähte. Gereizt sprang sie aus dem Bett; sie würde eine Dusche nehmen. Aber auch das heiße Wasser konnte sie nicht entspannen, jeder einzelner Wassertropfen traf ihre Haut wie ein schwacher, elektrischer Schlag.

Die Schwaden des Wasserdampfes verwandelten das Bad in eine stickige Nebellandschaft und sie öffnete die Tür, um frische Luft hineinzulassen. Während sie ihre feuchten Haare durchkämmte, beobachtete sie, wie sich die Dunstschicht auf dem großen Spiegel immer weiter auflöste. Am unscharfen Umriss ihres Kopfes wurden die blonden Strähnen auf der rechten Seite sichtbar, die Wange, die feine Linie des Kinns, die vollen Lippen, die gerade Nase. Dann schien der Schleier zu haften. Sie ließ den Kamm sinken und starrte auf die beschlagene Scheibe. Zäh klebte der Dunst über ihren Spiegelaugen. Langsam hob sie ihren Arm, um die Stelle mit ihrer Haut frei zu wischen, als der Spiegel mit einem Schlag klar wurde.
An Stelle ihrer blauen Augen klafften zwei schwarze Höhlen.
Entsetzen und Ekel pressten die Luft aus ihrer Lunge; ihr Körper revoltierte vor dem Anblick, sie strauchelte und fiel gegen die gläserne Duschwand. In Panik richtete sie sich auf und blickte wild in den Spiegel: in ihrem verzerrten Gesicht waren die blauen Augen weit aufgerissen.

Sie schwankte und setzte sich auf den Badewannenrand, wo sie einige Minuten brauchte, bis sich ihr Atem wieder beruhigt hatte. Dann kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und kroch unter die Bettdecke, wo sie mit den Armen die angezogenen Knie umschlang. Was passierte mit ihr? War sie tatsächlich überarbeitet? Aber der Job machte ihr Spaß, sie fand Erfüllung darin. Und bisher hatte sie nie das Gefühl gehabt, als würde der Stress überhand nehmen. Doch konnte sie die Wahrnehmungen weiter ignorieren?

Später stand sie auf und ging im Bademantel in die Küche, wo sie einen Tee zubereitete. Während sie darauf wartete, dass das Wasser anfing zu kochen, ertappte sie sich bei dem Wunsch, hinter sich zu schauen. Sei nicht albern, dachte sie entnervt. Das ist doch dumm.

Der Wasserkocher brauchte eine Ewigkeit. Immer stärker wurde das Verlangen, sich umzudrehen, immer präsenter das Unbekannte, die Möglichkeit, die sich hinter ihr zu manifestierten begann. Sie spürte Gänsehaut an den Armen, ein Kribbeln in ihrem Nacken. Anspannung stieg in ihr hoch, suchte einen Weg, ließ ihre Hände zucken, verengte ihren Kehlkopf - endlich stieß sie einen wütenden Schrei aus und wirbelte herum, mit geballten Fäusten: „Lass mich in Frieden!“

Ihre kreischende Stimme, von Panik entstellt, erschreckte sie. Wie betäubt drehte sie sich wieder zu dem Wasserkocher um, der mit einem sanften Plöp ausging.

Ihre Hände zitterten, als sie die Tasse mit dem Hagenbuttentee ins Wohnzimmer brachte. Sie setzte sich in den Sessel. Stand wieder auf und setzte sich auf die breite Armlehne. Blieb dort einen Moment, mit aufgerissenen Augen, mit angespannter Aufmerksamkeit, wartend auf Geräusche, Bewegungen, Berührungen. Der heiße Tee schwappte auf ihre Hand, als sie sich zu plötzlich umwandte, war da nicht ein Ruf? Sie schrie vor Schmerz und schleuderte die Tasse im Reflex auf den weißen Teppich, der sich blitzschnell mit der hellroten Flüssigkeit voll saugte.
Wie gebannt starrte sie darauf.
Das ist nur der Tee, den du gerade gekocht hast, formulierte sie mühsam in ihrem Kopf; und es sah auch nicht aus wie Blut, viel zu hell, zu durchscheinend. Aber wurde die Farbe nicht intensiver, dichter, verwandelte sie sich nicht vor ihren Augen? Ein Schaudern ging durch ihren Körper, sie fiel vor dem Fleck auf die Knie, zwang ihren Finger in das Rot, das dickflüssig an ihrem Finger herabrann, an ihrem schmalen Handgelenk.

In diesem Moment begriff sie. Keine Sinnestäuschung. Es war wirklich. Ihre Wirklichkeit. Fremd, angsteinflößend, gespenstisch. Ihr Mund öffnete sich, aber nur ein kratzender Laut kam aus ihrer Kehle.

Zwölf Stunden später saß Gregor an Anettes Bett, das Gesicht in den Händen vergraben. Der Arzt betrachtete ihn mitfühlend. „Wie gesagt, Ihre Frau leidet an einer schweren Psychose. Wir können nur hoffen, dass die Medikamente ihr helfen.“ Gregor sah auf. „Was macht sie jetzt durch?“ Seine Hand suchte die kalten Finger seiner Frau, ergriff sie und drückte sie fest. „Wie kann ich ihr helfen?“ Vorsichtig erklärte der Arzt: „Sie können ihr nicht helfen. Sie ist in ihrer eigenen Welt. Sie sieht Dinge, die wir nicht wahrnehmen.“ Er zögerte einen Moment und ergänzte dann mit einem schiefen Lächeln: „Gespenster, verstehen Sie?“ Gregor schüttelte den Kopf.

Er holte tief Luft und zwang seinen Blick auf das Gesicht seiner Frau. Er unterdrückte ein Frösteln, als er in das maskenhaft verzerrte Gesicht sah, mit dem wie zum Schrei aufgerissenen Mund, und weitgeöffneten Augen, die ihn blicklos anstarrten.

Letzte Aktualisierung: 22.11.2007 - 21.03 Uhr
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