Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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November 2007
Betende Hände
von Claudia Schäckel

Mia schlenderte durch die Vernissage, betrachtete die Ausstellungsstücke und fand zu den meisten keinen Zugang. Nur weil sie es ihrer Freundin versprochen hatte war sie hier. Als sie die hinterste Ecke der Räume erreichte glitt ihr Blick noch immer über Bilder und Skulpturen, ohne dass irgendetwas ihre Aufmerksamkeit erregen konnte. Mit einem gelangweilten Seufzen blieb sie am Ende des Flurs stehen und wollte zurückgehen, ihr Sektglas abgeben, ihrer Freundin noch viel Erfolg wünschen und unauffällig verschwinden. Doch im umdrehen blieb ihr Blick an einer Zeichnung hängen, die neben all der großen und aufdringlichen Kunst unauffällig schien. Mia ging einen Schritt zurück zu dem Bild. Sie kannte das Motiv, die Idee, aber diese Zeichnung hatte ansonsten keine Ähnlichkeit mit ihrem berühmten Gegenstück. Schlanke, weiche Frauenhände, durch enge Fesseln in eine flehende Haltung gezwungen. Die Lederriemen waren mit dünnen Dornenranken umwickelt und pressten die Hände aneinander, spitze Dornen drangen tief durch die Haut und ließen feine, rote Tropfen entstehen.
„Ungewöhnlich, nicht war?“
Mia zuckte erschrocken zusammen und drehte sich zu ihrer Freundin Jenny um. Ein wenig blass und aus ihrer Betrachtung gerissen brachte Sie nur ein schwaches: „Ja, sehr ungewöhnlich.“ zustande.
„Ich habe es vor längerem zwischen den Erbstücken meiner Oma gefunden. Es lag mit alten Büchern und einigen anderen Zeichnungen in einer Kiste in ihrem Keller.“
„Es ist bedrückend.“ Mia fühlte sich unwohl mit dem Bild im Rücken. „Man möchte ihr helfen, sie befreien.“
Jenny nickte begeistert. „Ja, es wirkt so echt. Die anderen Zeichnungen sind auch gut, aber sie haben keine so starke Ausstrahlung wie diese betenden Hände. Bei den Vorbereitungen für die Ausstellung habe ich mich an die Bilder erinnert und einige davon rahmen lassen.“
Jenny hatte ihre Freundin untergehakt, führte sie durch die Ausstellung und erklärte ihr jedes Stück. Doch Mia konnte sich kaum auf ihre Worte konzentrieren, immer wieder drängten sich die gefesselten Hände in ihr Unterbewusstsein.

Zwei Tage später hängte Mia das Bild in ihrem Flur auf. Sie hatte einen Platz gewählt an dem es nicht sofort ins Auge fiel. Noch immer löste sein Anblick Beklemmung in ihr aus. Es war zur gleichen Zeit schön, traurig und grausam. Mehr als einmal suchten ihre Gedanken nach der Geschichte, der Geschichte des Bildes, des Malers, der Hände und der Frau, zu der diese Hände gehört hatten. Mühsam riss sie sich von dem Bild los.

Seit über einer Stunde konnte Mia nicht einschlafen, wieder und wieder sah sie auf die leuchtenden, grünen Ziffern ihres Weckers und ärgerte sich darüber, dass die Zeit ohne Schlaf verging. Frustriert und eigentlich müde, gab sie auf und krabbelte aus ihrem Bett um etwas zu trinken und noch einige Seiten im ihrem Buch zu lesen. Es war dunkel, nur das Licht der Straßenlaternen fiel in ihre Wohnung und tauchte die Räume in ein ungleichmäßiges Halbdunkel. Mia sah im vorbeigehen auf das Bild und erstarrte. Ihre Müdigkeit und das schummrige Licht hatten sie einen Moment glauben lassen, dass die Hände sich bewegten. Mit einem Kopfschütteln schimpfte sie auf ihre Einbildungskraft. Kälte kroch in ihren Körper. Als sie merkte, dass sie fror, stand sie noch immer vor dem Bild. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und ging eilig zurück in ihr Bett. Ein Blick auf ihren Wecker zeigte, dass sie beinahe eine halbe Stunde vor dem Bild verbracht haben musste. Irritiert und frierend rollte sie sich eng in ihre Decken. Mit der sich ausbreitenden Wärme kam der Schlaf.

... Grobe Hände packten ihre Arme und zerrten sie von ihrem Lager. Ihre Beine schleiften über rauen Holzboden. Aus dem Tiefschlaf gerissen bemühte sie sich, verwirrt und erschrocken, auf die Füße zu kommen. Nur wenig Licht fiel durch die alte Holztür und die Gestalten in ihrer Kammer waren stumme Schatten ohne Gesichter. Panik stieg in ihr auf. Sie schrie und versuchte sich los zu reißen. Jemand zwängte ihr einen Knebel in den Mund und erstickte ihre sich überschlagende Stimme. Sie stöhnte gequält auf, als ihr die Arme auf den Rücken gedreht und gefesselt wurden. Der Knebel erschwerte ihr das Atmen und die Kapuze, die sie ihr über den Kopf zogen machte sie blind. Verzweifelt und ohne auf die Schmerzen zu achten stemmte sie sich gegen die, die sie mitzerrten und trat um sich. Vergebens. Sie konnte den starken Händen nicht viel entgegensetzen. Irgendwann fühlte sie Wiese unter ihren Füßen. Noch immer blieben ihre Häscher stumm, außer einigen unterdrückten Flüchen, wenn sie nicht nur in die Luft trat. Dann wurde sie gezwungen stehen zu bleiben und ein Ruck an ihren gefesselten Händen ließ sie auf die Knie stürzen. ...

Mia schlug hart auf dem Boden in ihrem Schlafzimmer auf und schmeckte Blut. Zitternd und orientierungslos befreite sie sich aus der Umklammerung ihrer Bettdecke und bemühte sich, die Panik in ihrem Inneren niederzukämpfen.
„Du hast nur schlecht geträumt und bist aus dem Bett gefallen.“, murmelte sie vor sich hin. „Nur ein Traum. Nur aus dem Bett gefallen.“ Langsam konnte sie wieder klar denken und an ihre eigenen Worte glauben. Alles war wie es sein sollte, außer dass sie auf dem Boden lag und sich die Lippe aufgebissen hatte. Sie war schweißnass und ihrer Haare klebten wirr in ihrem Gesicht. Wasser. Sie brauchte Wasser zum Trinken und in ihrem Gesicht. Sie stemmte sich hoch, tastete sich an der Wand entlang in ihr Badezimmer und beugte sich über ihr Waschbecken. Das kalte Wasser tat gut, obwohl es auf ihrer aufgerissenen Lippe brannte. Sie machte das kleine Licht an ihrem Spiegel an, um sich die Verletzung genauer anzusehen und starrte ungläubig auf das Bild, das sich ihr bot. Sie sah eingefallene Wangen und tiefschwarze Ränder unter grünen Augen. Ihre Finger tasteten über den Riss an ihrem Mund, aus dem ein roter Tropfen lief, aber den bemerkte sie nicht mehr. Ihre Augen waren schon immer braun und nicht grün. Sie begann wieder zu zittern und versuchte den grünen Augen in ihrem Spiegelbild auszuweichen. Dabei fiel ihr Blick auf etwas anderes, das sie in dem Spiegel sehen konnte. Hinter ihr im Flur hing das Bild mit den gefesselten Händen und dort liefen roten Tropfen auf dem Papier entlang über den Rahmen hinaus und an der Wand hinunter. Sie presste beide Hände an die Schläfen, taumelte zur Seite und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand, verzweifelt um Fassung bemüht.

... Ein durchdringender Schrei ließ sie die Augen wieder aufreißen. Die Wand in ihrem Rücken war kalt und feucht. Sie schlug beide Hände vor den Mund, um ihren eigenen Schrei zu verhindern und starrte auf die Frau, die wenige Meter von ihr entfernt vor einem Steinkreuz auf dem Boden kniete. Im Schein der aufgestellten Fackeln konnte Mia ihr Gesicht sehen, ihr Gesicht und ihre grünen Augen. Ihre Hände waren mit dornenumwickelten Fesseln in eine betende Haltung gezwungen und an das Kreuz gebunden, rote Rinnsale liefen an ihren Fingern und Armen entlang.
Erst jetzt bemerkte Mia die Menschen, die um die Frau herum standen. Ein Mann begann in einem gleichmäßigen Rhythmus zu sprechen in einer Sprache, die Mia nicht verstehen konnte. Im gleichen Moment bemerkte sie neben sich ein Geräusch und sah erschrocken zur Seite. Auf dem Boden hockte ein junger Mann und redete leise und konzentriert vor sich hin während er auf dem Block, der vor ihm lag, zeichnete. Mit schwarz entstanden auf dem etwas gelblichen Papier die Umrisse von zwei Händen. Mia stöhnte auf und ließ sich an der Wand hinunter gleiten, bis sie neben dem jungen Mann saß, der sie nicht zu bemerken schien.
„Bereue deine Sünden und rette deine Seele.“
Mia sah hoch. Der Mann stand neben der gefesselten Frau und hatte ihr eine Hand auf den Kopf gelegt. Neben ihn trat ein zweiter Mann mit einem Seil in den Händen, das er von hinten um ihren Hals legte.
„Ich habe nichts zu bereuen!“, brachte die Frau mühsam hervor, dann sah sie den Jungen mit dem Zeichenblock und ihre Augen weiteten sich überrascht. Sie konzentrierte ihren Blick auf dessen Hand und den Stift, und begann vor sich hin zu murmeln.
„Hexe!“ schrie der Mann und riss seine Hand von ihrem Kopf, während der Andere den Strick um ihren Hals mit einem Ruck zu zog.
Mia wollte schreien, wollte aufspringen, wollte der Frau helfen, aber sie bekam keine Luft. Sie presste in Todesangst beide Hände um ihren Hals, bis die Welt um sie herum ins Schwarz zu kippen schien und sie mit sich riss. ...

Vorsichtig tastete ihre Hand über den Boden bevor sie es wagte, die Augen zu öffnen. Sie lag auf grauen Fliesen in einem Badezimmer. Erleichtert atmete sie auf und wurde sofort von einem Hustenkrampf geschüttelt. Vorsichtig zog sie sich an der Badewanne auf die Füße und machte einen wackligen Schritt auf den Spiegel zu. Sie starrte das Spiegelbild an, das erst nur verschwommene Konturen liefern wollte. Dann begann ihr Gesicht wieder eine Form anzunehmen, allerdings war es nicht das Gesicht, das zu ihr gehörte, nur die stechenden, grünen Augen gehörten zu ihr und auch die verloren sich nach und nach in einem warmen Braunton. Dann glitt ihre Hand über den roten Striemen, der sich über ihren Hals zog und sie sah die kleinen Löcher, die ihre Hände bedeckten. Ihr Blick blieb an etwas hängen, das ihr ebenfalls von dem Spiegel gezeigt wurde. Ein Bild. Ein Bild von zwei gefesselten Händen. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein erleichtertes Lächeln aus. Sie war frei. Sie hatte ein neues Leben. Das Bild musste verschwinden, so dass es keiner finden konnte, damit die Seele, die den Platz mit ihrer getauscht hatte, nicht befreit werden konnte. Den Tag an dem sie das Bild gefunden hatte stand ihr noch deutlich vor Augen, genau wie die darauf folgende Nacht, in der sie in es hineingezogen wurde. Seit dem hatte sie darauf gehofft befreit zu werden von den Fesseln, dem steinernen Kreuz und der Schlinge um ihren Hals. Wissend, dass sie dafür eine andere, unwissende Seele dazu verdammte, diesen Platz einzunehmen.

Letzte Aktualisierung: 22.11.2007 - 16.11 Uhr
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