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November 2007
Goldene Gespenster
von Petra Knobel

Es regnete und regnete und regnete, und langsam schien es Simone, als
wolle der Regen nie wieder aufhören. Nicht heute, nicht morgen, nicht
nächste Woche und auch nicht im nächsten Monat.
"Sei froh, dass das nicht alles als Schnee runter kommt", hatte Daniel
gestern oder vorgestern zu ihr gesagt. Fluchend und tropfnass war sie
abends zurück in die Wohnung gekommen und hatte auf seine Frage, ob sie
denn ihren Regenschirm vergessen habe, nur mit einem gefluchten "Der
Regen kommt doch von überall!" geantwortet. Daraufhin hatte ihr Mann aus
dem Badezimmer ein Handtuch geholt, ihr liebevoll die Haare ein wenig
trockener gerubbelt und gesagt:
"Das ist hier eben so. Du wirst dich schon noch dran gewöhnen."

"Du wirst dich schon noch dran gewöhnen", murmelte Simone jetzt vor sich
hin und wollte gar nicht daran denken, woran sonst sie sich noch
gewöhnen musste, hier, in dieser Stadt am anderen Ende der Welt. In
diesem Land, in dem Daniel geboren und aufgewachsen war und in das sie
mit ihm zurückgekehrt war, nachdem sie ihn daheim kennen gelernt und
geheiratet hatte. Bereitwillig war sie mit ihm in seine Heimat gekommen.
Der Job, den man ihm hier angeboten hatte, war einfach zu gut gewesen,
als dass er ihn hätte absagen können oder wollen. Und Simone hatte ihr
Zuhause mit wenig schwerem Herzen verlassen.
"Ich will endlich etwas anderes sehen", hatte sie zu ihrer Mutter und
ihren Freunden gesagt und voller Vorfreude den nötigen Papierkram erledigt.

Und nun saß sie also hier, nach mehr als vier Monaten in ihrer neuen
Heimat, und alles was Simone sah, wenn sie aus dem Fenster blickte, und
alles was Simone fühlte, wenn sie nach draußen ging, war Regen, nichts
als Regen, Tag und Nacht. Längst hatte sich ihre Stimmung dem trüben
Wetter angepasst. Alles erschien ihr grau, immer gleich und manchmal
fast ein wenig gespenstisch, wenn sie aus dem Fenster schaute und hinter
den tristen Regenschlieren, die sich manchmal mit einer undurchdringlich
scheinenden Nebelwand zu verbünden schienen, nichts sonst erkennen konnte.
Nicht einmal arbeiten durfte sie und hatte keine Ahnung, wann ihr die
nötige Arbeitserlaubnis erteilt werden würde.
"Ich weiß, das ist eine dumme Situation, aber du darfst dich nicht
fertig machen lassen davon", hatte Daniel, dem ihre betrübte Stimmung
keineswegs entgangen war, schon vor Wochen gesagt und sie am gestrigen
Abend mit einer kompletten "Wind-und-Wetter-Montur", wie er es lachend
nannte, überrascht. Mit den farbenfrohen Gummistiefeln und dazu
passender Regenjacke und -hose, einem Regenhut und Regenschirm wollte er
Simone dazu bewegen, die Wohnung wenigstens hin und wieder zu verlassen,
Regen hin oder her.
"Wenn du nur daheim sitzt, wirst du ja komplett verrückt", sagte er, und
Simone konnte nicht widersprechen.

Also hatte sich Simone heute in ihrer Regenkleidung vor die Tür und
hinaus auf die Straße, in die Stadt, gewagt. In die Stadt, von der sie
bislang nur so wenig gesehen hatte. Sofort war sie, nach vorabendlicher
Absprache mit Daniel, durch den Regen bis zum nächsten Tierheim
gegangen. Dort war sie lange von Käfig zu Käfig und wieder zurück
gewandert, bis sie sich schließlich für einen schwarz-weißen Kater
namens Baker entschieden hatte. Er sollte ihr in der Wohnung mit dem
pausenlos gegen alle Fenster prasselnden Regen Gesellschaft leisten.

Baker fühlte sich schnell wohl in seinem neuen Zuhause. Wenn Daniel
morgens aus dem Bett stieg und Simone sich noch einmal auf die andere
Seite drehte, sprang Baker zu ihr und kuschelte sich unter der Decke an
ihre Füße. Später begleitete er sie in die Küche, wo sie sich ein
kleines Frühstück zubereitete, das sie dann an den großen, für sie und
Daniel allein viel zu großen Tisch im Wohnzimmer mitnahm. Auch dorthin
folgte der Kater ihr jeden Morgen.

Der Regen schien ihm wenig auszumachen. Irgendwann im Laufe eines jeden
Tages sprang Baker auf die niedrige, breite Fensterbank vor dem großen
Wohnzimmerfenster. Simone hatte ihm schon nach wenigen Tagen ein dickes,
blaues Kissen dorthin gelegt, nachdem sie bemerkt hatte, dass er seinen
Lieblingsplatz gefunden zu haben schien. Oft setzte sie sich im
Schneidersitz vor ihm auf den Boden und kraulte und streichelte ihn
ausgiebig und war sich manchmal nicht sicher, wer diese
Streicheleinheiten mehr genoss: Baker oder sie selbst.
"Jeden Tag liegt er stundenlang auf dem Kissen und scheint dem Regen
zuzuhören", erzählte Simone ihrem Mann nach einer Weile. Der antwortete:
"Dann scheint es hier ja wenigstens einen zu geben, dem der Regen nichts
ausmacht." Dabei gab er Simone einen liebevollen Knuff in die Seite,
wohl wissend, dass sie den ununterbrochenen Regen seit dem Einzug des
Katers besser verkraften konnte.

Wenn Baker schnurrend auf der Fensterbank lag, vergaß Simone manchmal
den Regen für eine Weile. Und dann, als sie sich wirklich fast daran
gewöhnt hatte, hörte der Regen auf. Von einer Minute auf die nächste. Es
war an einem Vormittag, und Simone wartete gerade in der Küche darauf,
dass das Wasser im Topf zu kochen begann, als plötzlich ein Sonnenstrahl
vorsichtig ins Fenster hinein lugte. Einen Moment lang glaubte Simone,
ihren Augen nicht trauen zu können, und so ging sie hinüber ins
Wohnzimmer, um einen Blick aus dem erheblich größeren Wohnzimmerfenster
zu werfen. Und tatsächlich, auch hier ließ sich die Sonne blicken. Und
mehr noch: Baker sprang aufgeregt auf dem Fußboden herum und es schien,
als wolle er die Sonnenstrahlen, die auf den Boden fielen, jagen,
erhaschen und nie wieder fort lassen. Auch auf die Fensterbank sprang er
hinauf, wieder hinunter, dann auf den Tisch und wieder vom Tisch herunter.
Abends erzählte Simone Daniel lachend:
"Baker hättest du sehen sollen, als die Sonne plötzlich ins Zimmer
herein schien. Ich glaube, er hat goldene Gespenster gejagt, auf dem
Boden, am Fenster, auf dem Tisch...!"

Die Sonne ließ dem Regen in den folgenden Tagen keine Chance mehr. Ab
und zu zog zwar das eine oder andere Wölkchen vorbei, doch nie fiel auch
nur ein einziger Tropfen. Simone unternahm nun ausgiebige Spaziergänge
durch die Stadt und freute sich, wenn Baker sie bei ihrer Rückkehr
bereits an der Wohnungstür erwartete. Dann marschierte er stolz vor oder
neben ihr her und ließ sich dort nieder, wohin die Sonne gerade ihre
Strahlen schickte. Hin und wieder sprang er, ganz wie bei den ersten
Sonnenstrahlen, aufgeregt durch das Wohnzimmer oder trieb auf der
Fensterbank seine Spiele mit Licht und Schatten.
Mit der Sonne kam auch die Nachricht, dass Simone nun endlich arbeiten
durfte. Schon bald machte sie sich daran, Stellenanzeigen zu durchsuchen
und sich nach geeigneten Jobs umzusehen. Und während sie am riesigen
Wohnzimmertisch saß und sich mit einem dicken, roten Stift in der Hand
über die großzügig ausgebreiteten Zeitungen beugte, vergnügte Baker sich
immer weiter mit den Sonnenstrahlen und schien das Leben ebenso zu
genießen wie endlich auch Simone.
,Jetzt wird alles richtig gut', dachte Simone zuversichtlich, als sie
irgendwann einmal von ihren Zeitungen aufblickte und lächelnd ihren
ausgelassen herumtobenden Mitbewohner beobachtete. Manchmal war sie fast
ein wenig erstaunt darüber, dass Baker auch ohne das bei anderen
Katzenbesitzern so übliche Katzenspielzeug seinen Spaß zu haben schien.
Ihm genügten die Sonne, das Licht, die Schatten, die in das Zimmer
fielen und ihn geradezu aufzufordern schienen, seinen Schabernack mit
ihnen zu treiben.
"Manchmal ist das fast ein bisschen unheimlich", hatte Simone irgendwann
zu Daniel gesagt.
"Wieso? Sei doch froh, dass er sich so wohl fühlt und nicht nur faul am
Fenster liegt", hatte der geantwortet. Und Simone hatte nachdenklich
erwidert:
"Ja, sicher. Aber komisch kommt es mir trotzdem hin und wieder vor. So
als würde er mit etwas spielen, das gar nicht da ist."
Mit den amüsierten Worten "Du siehst Gespenster" hatte Daniel daraufhin
den Fernseher angeschaltet und sich in die Abendnachrichten vertieft.

Einige Tage später stand Simone nachmittags in der Küche und schnitt
sich ein Stück von dem leckeren Apfelkuchen ab, den Daniel tags zuvor
gebacken hatte. Dazu machte sie sich eine Tasse Tee und ging schließlich
mit dem Kuchenteller in der linken und der Teetasse in der rechten Hand
zurück ins Wohnzimmer. Dort ging alles ganz schnell, und später brauchte
Simone eine ganze Weile, um sich daran zu erinnern, was genau geschehen
war.
Sie sah Baker. Baker, wie er gerade wieder enthusiastisch durch das
Zimmer und auf die Fensterbank sprang. Auf die Fensterbank vor dem
Wohnzimmerfenster. Dem, und Simone wollte ihren Augen kaum trauen,
geöffneten Wohnzimmerfenster.
,Das kann doch nicht sein, wieso ist das Fenster offen?!', schoss es ihr
durch den Kopf, und Tasse und Teller glitten ihr aus den Händen und
polterten auf den Fußboden. Während sie zum Fenster stürzte, nahm sie
irgendwo draußen eine Bewegung wahr, einen schwarzen, fast unheimlichen
Schatten, einen Vogel womöglich, der gerade dicht am Fenster vorbei
flog. Baker, das wurde ihr später schnell klar, musste die Bewegung auch
gesehen und sich von ihr angelockt gefühlt haben. So sehr, dass er nicht
widerstehen konnte und aus dem geöffneten Fenster sprang -- hinaus in
den strahlenden Sonnenschein, nach dem Simone sich wochenlang so sehr
gesehnt hatte. Hinaus aus dem Fenster und vier Stockwerke tief.

Letzte Aktualisierung: 02.11.2007 - 15.01 Uhr
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