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Dezember 2007
Weißer Korridor
von Gerd Schmidinger

Ein weißer Korridor, unendlich lang, mit unendlich vielen weißen Türen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich schon so dasitze, im Schneidersitz an die Wand gelehnt und mit suchendem Blick, der von nichts festgehalten wird. Ich versuche mich zu erheben. Ein bißchen schwach bin ich auf den Beinen, aber es ist nicht weiter schlimm, ich fühle mich lediglich so, als hätte ich ein paar Stunden zu lange geschlafen.

Welche Tür soll ich nehmen? Keine unterscheidet sich auch nur im geringsten von den anderen, also ist die nächste so gut wie die übrigen. Instinktiv klopfe ich an, meine guten Manieren sind wohl noch nicht verschwunden. Ein gedämpfter Ton, selten habe ich ein Geräusch gehört, das sich dermaßen zurückhaltend anhört, fast als verschlucke es sich selbst. Dennoch scheint es mir, als klinge es nach Holz. Eine weiß lackierte Holztüre ohne Dellen oder Verzierungen. Selbst der metallene Griff ist weiß. Ich klopfe fester, doch das Geräusch hört sich kaum lauter an. Nichts. Ich stehe da, höre nichts, fühle nichts, sehe nur die weiße Tür, die weiße Wand, die weiße Decke, den weißen Teppich. Mir fällt auf, daß auch ich weiß trage. Eine Hose und ein T-Shirt. Meine Füße sind nackt, aber das macht nichts. Der Teppichboden ist warm und weich. Und unendlich.

Ich drücke die Klinke nach unten. Abgesperrt. Ich versuche durch das Schlüsselloch zu blicken. Schwarz. Nichts zu erkennen, aber es ist beinah erholsam, nicht mehr dieses penetrante Weiß zu sehen. Eine kurze Zeit bleibe ich stehen, das rechte Auge ans Schlüsselloch gepreßt. Dann wird mir das zu anstrengend. Ich probiere die nächste Türe aus, nun ohne anzuklopfen. Irgendwie überrascht es mich nicht, daß auch diese versperrt ist. Bei der zehnten verschlossenen Türe kommt Panik in mir hoch. Wo ist meine erste Türe? Wie finde ich wieder zurück? Erst als mir klar wird, daß es sowieso keinen Unterschied macht, vor welcher verschlossenen Türe ich sitze, macht die Panik resignativer Verzweiflung Platz.

Ich lasse mich zu Boden fallen. Mein Hirn dreht sich im Kreis. Weiß. Wieso denn nur weiß? Wieso? Plötzlich fahre ich auf. Eine Frage! Ich kann mir eine Frage stellen! Wieso weiß? Wieso nicht schwarz? Woher kommt denn das Licht? Wie elektrisiert blicke ich um mich, suche nach einer Lichtquelle. Rationales Denken! Welch eine Wohltat!

Ich entdecke keine Lichtquelle. Das Licht scheint aus den Wänden zu kommen, der Decke, dem Fußboden. Ein Schatten? Ich habe keinen. Von allen Seiten leuchtendes Weiß. Und ich kann nicht einmal erklären, wieso es leuchtet.

Ich mache weiter, arbeite mich vor, eine Türe, die nächste, einmal auf dieser Seite des Korridors, einmal auf der nächsten, vielleicht gibt es doch eine offene, denke ich, jetzt nur nicht die Nerven verlieren, die sind das Einzige, was du noch verlieren kannst, also halte sie im Zaum! Fast entfährt mir ein Lachen, aber die Angst vor meiner Stimme ist zu groß.

Irgendwann beginne ich zu rennen, schnell, immer schneller den Korridor hinab, vorbei an zig Türen, hundert Türen, tausend Türen. Ich werde nicht müde. Fast habe ich mir so etwas gedacht. Ich lasse mich gegen eine Türe fallen, irgendeine, mit aller Kraft. Selbst dieser Knall ist gedämpft, beinah wie ein nobler Vorwurf, doch nicht so in Rage zu geraten. Ich schlage dagegen, systematisch, bis meine Hand schmerzt. Ich schlage weiter, mit voller Kraft, eigentlich müßte ich mir alle Knochen brechen. Doch als ich innehalte, ist meine Hand unversehrt, und der Schmerz ist nichts anderes als eine Erinnerung. Ich setze mich auf den Boden, fixiere meine Füße. Sie sind nicht weiß, bleich zwar, aber angesichts der allgegenwärtigen strahlenden Helligkeit wirken sie beinah gebräunt. Meine Zehen haben mir nie gefallen, denke ich, doch noch bevor diese Erinnerung andere mit sich zieht, fahre ich auf, mache einen Satz zur Seite, brülle, und das erste Mal seit langem erscheint mir etwas als laut. Doch schon sehe ich, was meine Schulter berührt hat, und ich bleibe stehen, in Verteidigungshaltung zwar, die Arme schützend vors Gesicht gezogen, aber ich blicke den Mann an, der wie aus dem Nichts erschienen ist. Auch er ist weiß gekleidet, doch fällt mir gleich auf, daß er etwas Andersfarbiges in der Hand hält. Jetzt geht er auf mich zu. „Keine Angst,“ spricht er, und seine Stimme klingt bestimmt, aber so, als käme sie von weit her, „nimm das hier!“ Und jetzt sehe ich, was er in der Hand hält und mir entgegenstreckt. Es ist ein Schlüssel, ein großer schwarzer Schlüssel.

Langsam hebe ich meine Hand, greife nach dem Schlüssel. Der Mann hat einen kurzen leicht gräulichen Bart, sein Gesicht ist weder besonders schön noch häßlich, denke ich mir. Eigentlich ein Allerweltsgesicht, nein, nicht nur eigentlich, ich weiß gar nicht, ob ich jemals ein herkömmlicheres Gesicht gesehen habe, denke ich und ein leichter Schauer überfällt mich. Diesen Mann würde ich nicht wiedererkennen, fährt mir durch den Kopf, während meine Finger das kalte Metall umschließen, niemals, ein Gesicht, so unbestimmt, so ohne Ausdruck, es könnte das Gesicht von jedem sein.

„Halt!“ rufe ich dem Mann zu, bevor er sich von mir wegwendet, „wer bist du?“ „Niemand besonderes,“ erwidert er langsam, und wieder wirkt seine Stimme unendlich fern, aber so bestimmt, daß mir der Atem stockt, „probier einfach den Schlüssel aus. Er paßt für jede Türe.“

Schon entfernt er sich, wird kleiner, doch dann dreht er sich noch einmal um: „Vergiß nicht: du kannst jede Türe öffnen, doch gehst du einmal über die Schwelle, dann kannst du nicht mehr zurück. Wähle gut, wohin du gehen willst.“ Und während er sich wieder fortwendet, erhasche ich die erste Regung seines Gesichtes, und sie sieht aus wie beißende Schadenfreude.

Bevor ich auf die Idee komme, ihm nachzulaufen, ist der Mann verschwunden. Blendendes Weiß, absolute Stille und ein Schlüssel in meiner Hand. Ich bewege mich auf eine Türe zu, stecke den Schlüssel ins Schloß und höre das metallene Klicken. Ich blicke mich um, alles ist unverändert, weiß, still, bedrückend. Wer war der bärtige Mann? Warum hat er mir den Schlüssel gegeben? Ich kann mich schon kaum mehr an sein Gesicht erinnern.

Was erwartet mich hinter der Türe? Ich drehe den Schlüssel um und stoße sie auf. Ohrenbetäubender Lärm zerreißt die Luft. Eine Frau auf einem Sofa, ihr Mund eine einzige schreiende Verzweiflung, noch wehrt sie sich gegen den Mann, der wie besessen auf sie einsticht und sie zu einem löchrigen Springbrunnen frischen Blutes macht. Ich möchte nach vorn schnellen, ihr helfen, doch die Warnung des bärtigen Mannes hält mich zurück. Langsam erschlafft der Körper der Frau, die roten Quellen versiegen. Ihre brechenden Augen drehen sich mir zu, und nun erkenne ich meine Freundin, fällt mir alles wieder ein, und ich sinke getroffen auf der Schwelle nieder. Bevor mich der Mann mit dem blutigen Messer erreicht, schlage ich die Tür zu und drehe den Schlüssel um.

Angst rast durch meine Venen. Ein furchtbarer Verdacht kommt in mir auf. Ich zwinge mich dazu, die nächste Türe zu öffnen: meine Eltern, eingespannt in eine sonderbare Maschine, werden unter herzerweichendem Geschrei langsam, ganz langsam entzweigerissen. An der Maschine steht ein kleines blondes Mädchen und klatscht vergnügt in die Hände, während die Sehnen schnalzen.

Meine Angst geht in Wut über. Der schadenfrohe Ausdruck im Gesicht des bärtigen Mannes geht mir nicht aus dem Kopf. Ist es das? Ist das seine Befriedigung, weidet er sich an meiner Verzweiflung, an meiner Unmöglichkeit, zwischen dem Tod dieses oder jenes geliebten Menschen zu entscheiden?

Oder gibt es doch andere Türen, solche, hinter denen niemand stirbt? Fieberhaft schließe ich die nächste auf. – Meine Schwester ertrinkt. Wieder die nächste. Mein bester Freund auf dem elektrischen Stuhl. Weiter. Wieder meine Freundin. Diesmal springt sie selbst. Von einer Brücke. Klatscht auf wie ein nasser Sack. Ich beginne zu schreien, lange, aber es ändert nichts.

Ich torkle den Gang entlang, vielleicht in die Richtung, in die der bärtige Mann entschwunden ist. „Komm zurück!“ schreie ich, schäumend vor Wut, „komm zurück, du verdammtes Arschloch!“

Bleierne Ruhe, weißes Licht. Ich blicke um mich. Vielleicht ist das meine Zukunft, denke ich trotzig, ein unendlicher Korridor voller endlicher Möglichkeiten, von denen ich keine annehme.

Dennoch öffne ich noch ein paar Türen. Mein bester Freund wird von Satanisten gepfählt, meine Schwester rennt vor ein Auto, mein Vater zersägt meine Mutter, meine Freundin verbrennt hinter hitzeresistenten Glasscheiben und vor meinen Augen. Irgendwann breche ich zusammen, übergebe mich dem endlosen Weiß, unschuldig ist es und tot.

Ich werde den Bärtigen austricksen, denke ich, ich werde hier sitzen und meine Füße anstarren und mich heraushalten aus allem.

Weiße Stille umgibt mich ich weiß nicht seit wann, ich habe alles Zeitgefühl verloren, doch es macht sowieso keinen Unterschied, nichts passiert hier, außer daß ich verliere, jede Sekunde, die verstreicht, weiß ich es besser, daß ich ohne Chance bin. Irgendwann werde ich eine Tür durchschreiten, und dabei wird es nicht einmal einen Unterschied machen, ob jetzt oder erst in hundert Jahren, ich werde durch eine Türe gehen und einen Menschen töten, nur damit etwas geschieht. Und mein Leben lang werde ich mir die Frage stellen, ob es nicht doch noch eine andere Türe gegeben hätte, eine, die nur darauf gewartet hat, daß ich sie öffne.

Letzte Aktualisierung: 05.12.2007 - 14.29 Uhr
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