'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Dezember 2007
Crossroads
von Dagmar Fischer

„Harry, es...“, der Arzt geriet ins Stocken. Harry schaute ihn fordernd an. Verdammt, dachte er, verdammt, nun sag es schon. Der Arzt setzte von vorne an: „Tut mir leid Harry, die Tests haben meine Vermutungen bestätigt: Du bist HIV positiv.“
*
„Es hat geklappt!“ Petra schossen Freudentränen in die Augen. „Ich bin schwanger, endlich hat es geklappt“. Sie fiel ihrem Frauenarzt um den Hals, entschuldigte sich aber sofort. „Das macht doch nichts“, lachte er. „Ich freue mich doch fast genauso wie sie!“
*
Harry saß in seinem roten Passat und starrte das Lenkrad an. In seinem Kopf hallten die Worte seines Hausarztes. HIV positiv! HIV positiv! HIV positiv! „Verdammt!“ Er schlug mit der Faust aufs Lenkrad. HIV positiv! Dieses Mädchen im Club. Dieses verdammte Mädchen im Club. Warum? Er dachte an seine Frau und die Kinder. Warum hatte er sich auf diesen Mist eingelassen. Dieses eine verdammte Mal. Und dann auch noch ohne Kondom, so betrunken wie er war. Ein Blackout, ein klitzekleiner Blackout und das war jetzt die Quittung. Harry ballte beide Fäuste und trommelte aufs Lenkrad ein, bis ihn die Kraft verließ.
*
Petra war so aufgeregt, dass sie gar nicht losfahren konnte, obwohl sie schon eine ganze Weile im Auto saß. Seit fünf Jahren hatten sie diesen Kinderwunsch. Probieren und probieren und jeden Monat wurden sie aufs Neue enttäuscht. Und vor anderthalb Jahren schließlich die Nachricht: Auf natürlichem Wege würde es nicht klappen. Sie waren am Boden zerstört. Aber der Arzt hatte ihnen Hoffnungen gemacht: Künstliche Befruchtung. Es könnte dauern, aber die Erfolgschancen seien recht hoch. Und es dauerte und dauerte und dauerte, aber nun, nun hatte es geklappt. Ihr Mann würde ausflippen vor Freude. Mit einem Lächeln drehte sie den Zündschlüssel um.
*
Ausgemergelte Gestalten, mit dunklen Flecken übersät. Harry schossen die Bilder durch den Kopf, die er von AIDS Kranken gesehen hatte. Er fuhr sich mit der Hand über den Arm, schüttelte sich. „Die modernen Medikamente können den Ausbruch der Krankheit auf Jahre hinauszögern“, hatte der Arzt gesagt. Hinauszögern! Harry lachte höhnisch. Er versuchte sich vorzustellen, wie er es seiner Frau sagen würde. „Beate, ich habe Dich betrogen und nun bin ich HIV positiv... Entschuldigung... auch wegen der Kinder...“ Ihm schossen Tränen in die Augen. Konnte man sich für so etwas überhaupt entschuldigen? Er hatte nicht nur sein Leben zerstört, er hatte mit dieser Nacht auch das Leben seiner Frau und der beiden Jungs kaputt gemacht. Angst vor einer Ansteckung müsste seine Frau nicht haben. Dafür hatte er gesorgt. Aber wer sollte sich um seine Familie kümmern, wenn er nicht mehr in der Lage war? Konnte er seine Arbeit überhaupt weiter machen? Verletzungen waren in seinem Job als Tischler an der Tagesordnung. Von jetzt an war sein Blut ein Risiko. Er war ein Risiko. Er hatte in einer betrunkenen Nacht alles aufs Spiel gesetzt - und verloren.
*
Das Haus würde endlich mit Leben gefüllt sein, freute sich die Petra. Endlich nicht mehr diese Stille, diese Langweile. Sie hatten das Haus extra für den Nachwuchs gebaut. „Das Kinderzimmer ist das Wichtigste, alles andere wird drum herum errichtet“, hatten sie immer gescherzt. Die tristen Tage als Nur-Hausfrau sind endlich vorbei. Viel zu früh hatte sie damals den Job aufgegeben, aber sie war sich so sicher, dass es schnell gehen würde, mit der Schwangerschaft. Und sie wollte Zeit haben, sich perfekt auf die Ankunft des Kindes vorzubereiten. Das Kinderzimmer war schon lange eingerichtet, sie hatte sich umfassend über Erziehung informiert und die Anmeldungen für einen Geburtsvorbereitungs- und Schwangerschaftskurs warteten nur noch darauf abgeschickt zu werden. Petra lächelte. Jetzt war sie nicht mehr Nur-Hausfrau, jetzt war sie werdende Mutter. Ein ganz neues Leben begann. Ein Leben mit Sinn.
*
Harry sah das Autobahnschild kaum vorbeifliegen. Schon auf dem Zubringer war seine Geschwindigkeit viel zu hoch. Er versuchte seine ganze Verzweiflung mit dem Fuß aus sich herauszudrücken. Aber es funktionierte nicht.
*
Petra drehte kurz am Radio, um nach einem geeigneten Sender zu suchen, gab es aber schnell auf. Egal welche Musik lief, selbst Schuberts Winterreise würde sie an diesem Tag glücklich machen. Sie konzentriert sich wieder auf die Autobahn. Sie hatte es eilig, nach Hause zu kommen, um ihren Mann mit der freudigen Botschaft zu überraschen.
*
Ich werde es ihr nicht sagen können, dachte sich Harry. Ich will ihrem Blick nicht sehen, wenn sie es erfährt. Sie hat das nicht verdient. Ich habe sie nicht verdient. Sie wird mich nicht verlassen, sie wird mir verzeihen und beistehen wollen. Mich pflegen. Ich werde eine Infektion nach der anderen haben und sie wird mir Tee kochen und das Essen ans Bett bringen. Es lief ihm kalt den Rücken herunter. Die Jungs werden mich so sehen. Irgendwann werden es die Nachbarn erfahren und die Eltern der Mitschüler der Jungs. Dann wird das Gerede losgehen und meine Familie wird jede Menge Probleme bekommen. Alles wegen mir.
*
Lukas Yannick sollte er heißen, wenn es ein Junge wird. Das stand schon lange fest. Lisa Marie war ihr Favorit für ein Mädchen. Ihr Mann bevorzugte Frieda Marie, aber sie war sich sicher, dass sie ihn überzeugen konnte. Sie überlegte, wie sie ihrem Mann die freudige Nachricht sagen sollte. Es sollte eine besondere Überraschung werden. Ach, wie er sich freuen wird, dachte sie und gab Gas.
*
Harry versuchte sich die Tränen aus dem Augen zu wischen und murmelte immer wieder „Ich will das nicht. Ich will das alles nicht“. Er war so geistesabwesend, dass er in einer Kurve leicht von der Fahrbahn abkam. Aber er konnte das Steuer lange vor der Berührung mit der Leitplanke an dem Brückenpfeiler rüberziehen. Er erschrak nicht, stattdessen atmete er kurz durch und riss in einem ruckartigen Entschluss das Lenkrad rum. Er wendete mit quietschenden Reifen auf der fast leeren Autobahn und steuerte sein Auto Richtung Pfeiler.
Er schloss die Augen, bis die Zähne aufeinander und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
*
Petra fuhr zügig durch die Kurve. Erst im letzten Moment entdeckte sie den roten Passat,
der ihr auf ihrer Spur in der Höhe des Brückenpfeilers entgegenkam. Sie schrie und wollte das Lenkrad rumreißen, aber schon hatte sie durch den Aufprall das Bewusstsein verloren.
*

Letzte Aktualisierung: 20.12.2007 - 19.27 Uhr
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