Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Januar 2008
Im Blick
von Michael Rapp

Ina stand an der Bahnsteigkante, der warme Septemberwind zog an ihrem Gesicht vorbei, und sie hatte wieder dieses Gefühl. So stark, so irrational. Die Kameras schienen sie zu beobachteten. Das ist sie. Wir haben sie. Dranbleiben. Doch diesmal war es anders, noch intensiver: wie kalte Finger auf ihrer Haut und Atem im Nacken. Hallo Ina, wir wissen, was du vorhast. Das Panikzentrum in ihrem Gehirn summte nervös.
Sven nahm ihre Hand, die ganz kalt war, wenn ihre Sinne sie nicht trogen: „Entspann dich“, sagte er sanft, doch sie hörte auch Frustration in seiner Stimme, die er nicht verstecken konnte – nicht mehr. Das Ganze dauerte schon zu lange, und es wurde schlimmer.
„Hier ist nichts, wovor du dich fürchten musst. Die Kameras dienen unserer Sicherheit, und vor den Überwachungsmonitoren sitzen ganz normale Leute, wie du und ich.“
„Ich weiß“, sagte Ina, obwohl das nicht stimmte. Dieser Bahnhof – überhaupt alle Bahnhöfe und öffentlichen Plätze – wurden von SFS, dem Sicherheitsmonopolisten, automatisch fernüberwacht. Irgendwo versteckt musste das grüne Schild mit dem stilisierten Auge hängen, auf dem zu lesen war: SFS – Sicherheit für Sie. Aber Ina wollte Sven nicht verbessern. Das hätte sie nur noch verrückter erscheinen lassen.
In der S-Bahn setzten sie sich so, dass Ina nicht von der Kamera über der Glastür erfasst wurde. Die ganze Fahrt über konnte sie die Ungeduld des Gerätes spüren, während es wartete, dass sie wieder ins Bild kam. Unmöglich, sagte sie sich immer wieder. Völlig unmöglich. Doch das Mantra half nicht; es klang für sie wie eine Lüge.
In der Innenstadt stiegen sie aus. Zu dieser Tageszeit war noch kaum jemand in der Fußgängerzone unterwegs. Ina hätte es vorgezogen, in einer Menschenmenge untertauchen zu können, dennoch war sie entschlossen, zu tun, was sie sich vorgenommen hatte. Sie brauchte Gewissheit.
„Wohin willst du zuerst?“ Sven hatte keine Ahnung, für ihn war das ein gewöhnlicher Einkaufsausflug.
„Ich habe noch etwas zu erledigen“, antwortete Ina und versuchte zu lächeln. „Wir treffen uns heute Abend.“
Sven sah sie einen Moment lang stumm an, dann nickte er und ging. Keine Fragen. Ina fühlte sich schuldig. Vielleicht hätte sie sich mehr Mühe geben können – eine Verhaltenstherapie machen können, wie er es so oft vorgeschlagen hatte. Doch dann war da wieder dieses Gefühl, dieses Kribbeln auf der Haut, wie von Ameisen, das schnell stärker wurde. Ihre Lunge wurde eng. Beklemmung. Sie drehte sich, suchte die Quelle und fand zwei: Von einer Bushaltestelle, wenige Meter entfernt, starrte sie ein viereckiges Kameraauge an. Eines dieser alten, fest ausgerichteten Geräte. Die Zweite war raffinierter versteckt. Auf dem Mast einer Ampelanlage stand eine verspiegelte Glaskuppel, unter der eine schwenkbare Kamera arbeitete. Normalerweise diente sie wohl zur Überwachung des Verkehrs. Nun aber war sie auf Ina gerichtet. Sie konnte spüren, wie der kalte Blick über ihren Körper glitt, verharrte und der Zoom in Aktion trat. Ihre Hände sind leer. Über der Schulter trägt sie eine Tasche. Dranbleiben.
Mit klopfendem Herzen drehte sich Ina in Richtung ihres Ziels, das ein Stück die Straße herunter lag: die SFS-Zentrale. In ihrem Hirn blies sich das Panikzentrum auf und lachte: Geh nur in die Höhle des Löwen, du wirst schon sehen, was du davon hast.
Erst kurz vor der Drehtür wurde das Ampelauge von zwei Kameras des Gebäudes abgelöst. Ina versuchte schnell durch ihr Blickfeld zu huschen, doch als sie ins Foyer stolperte und gerade ausatmen wollte, traf es sie, wie eine Welle: Durch ein halbes Dutzend Objektive schlug ihr Missbilligung entgegen. Inas Magen rebellierte. Im schwarzen Granit der Wandverkleidung sah sie, wie sich ihr Spiegelbild krümmte. Mühsam schluckte sie den sauren Geschmack herunter und zwang sich hoch. Die Frau am Empfang beobachtete sie prüfend. Ein toller erster Eindruck.
Wenigstens war der Weg zum Informationsbüro gut ausgeschildert. Ina fand es im dritten Stock, am Ende eines tristen Flurs. Im Wartebereich war sie die Einzige – offenbar interessierte es die Leute nicht wirklich, was man hier über sie wusste. Eine Viertelstunde später wurde Ina aufgerufen.
Das Büro war groß und nüchtern eingerichtet. Eine Kamera. Der Kontrast zu der Angestellten, die durch ein Schild auf dem Schreibtisch als Anna Rhode identifiziert wurde, hätte nicht größer sein können. Die Frau war klein, trug einen grünen Businessanzug und hatte ihr rot gefärbtes Haar mit bunten Schleifchen geschmückt; eine dieser ewig Kind gebliebenen mit überpflegten Gesichtszügen, die ihre Accessoires im Spielzeugladen kauften.
„Was kann ich an einem so schönen Tag für Sie tun?“, fragte die Mädchenfrau, klang dabei aber gar nicht hilfsbereit.
Ina nahm all ihren Mut zusammen. „Ich würde gern von meinem Auskunftsrecht Gebrauch machen.“
„Sie müssen schon etwas genauer werden. Das Gedankenlesen wird bei uns erst im nächsten Quartal eingeführt.“
„Ich will wissen, ob ich überwacht werde ... mehr als andere ...“
Frau Rhode rührte sich noch immer nicht. „Wie kommen Sie darauf, dass Sie überwacht werden?“
„Die Kameras verfolgen mich auf der Straße“, antwortete Ina und war sich dabei bewusst, wie verrückt das klang.
„Das sehen Sie, obwohl die neuen Kamerabehälter verspiegelt sind?“ Die Angestellte spannte die Frage wie eine Falle.
„Ich spüre es.“
Wie fühlt man sich so als irre Querulantin?, spottete das Panikzentrum.
In einem strengen Ton, als würde sie zu einem quengligen Kind sprechen, sagte die Mädchenfrau: „Ich beweise Ihnen das Gegenteil: Ich suche jetzt unter Ihrer ID und vergleiche die registrierte Beobachtungsintensität mit dem Durchschnittswert der gesamten Bevölkerung, und Sie werden sehen... Sie stockte und fixierte den Bildschirm. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Einen Moment bitte.“ Hecktisch hämmerte sie auf die Tastatur ein, warf aber zwischendurch einen ängstlichen Blick auf Ina.
„Ist alles in Ordnung?“
Es dauerte einen Moment, bis die Angestellte auf die Frage reagierte. Sie schien nun etwas ruhiger. „Selbstverständlich ist alles in Ordnung – bei uns hat immer alles seine Richtigkeit.“
„Aber ich werde beobachtet?“
„Selbstverständlich ... Also ja ... ich kann bestätigen, dass Sie ... in signifikantem Maße überwacht werden.“ Die Angestellte wirkte unsicher, so als wüsste sie nicht, wie sie den Stand der Dinge am unverfänglichsten auf den Punkt bringen sollte.
Ina fühlte Erleichterung. Das war die Bestätigung, auf die sie so gehofft hatte, und sie wünschte sich in diesem Moment, sie hätte Sven mitgenommen.
„Was heißt signifikant in diesem Zusammenhang?“
„Also, das heißt, Sie werden schon ... tatsächlich verstärkt vom System erfasst.“
„Einfach so?“
„Natürlich nicht einfach so!“, fauchte die Mädchenfrau. „Der Computer hat ermittelt, dass Sie sich verdächtig verhalten!“
Ina fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. „Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen!“
„Hören Sie“, erklärte die Angestellte genervt, „das System ist schon jahrelang im Einsatz und funktioniert einwandfrei. Ich weiß ja nicht, was Sie in der Öffentlichkeit treiben –“
„Nichts! Gar nichts treibe ich!“
„Das sieht das System anders. Es ist zu dem Schluss gekommen, dass Sie etwas planen.“
„Dann sagen Sie dem verdammten Computer, dass er sich irrt. Ich will nicht ... ich ertrage es nicht länger, ständig beobachtet zu werden.“
„Ganz sicher nicht.“ Die Mädchenfrau schüttelte entschieden den Kopf.
„Warum nicht?“
„Sie machen wohl Witze? Der Computer hält Sie für verdächtig, und ich unterbinde die Überwachung? Das würde ja aussehen, als wäre ich Ihre Komplizin.“
„KOMPLIZIN WOBEI? Ich bin eine unbescholtene Bürgerin!“
„Noch.“
Ina sah in das verkniffene Gesicht der Schleifchenliebhaberin und erkannte, dass sie nichts sagen konnte, um deren Meinung zu ändern. Für diese Frau war sie eine Kriminelle. Der große weise und unbestechliche Computer hatte es so bestimmt, und der hatte immer Recht.
Aus der Überwachungskamera in ihrem Rücken flossen hämische Blicke. Was dachtest denn du? Ich bin der Bestimmer! L'État c'est moi! Für immer und immer und immer. Und ihr Panikzentrum blinkte einen flotten, tiefroten Rhythmus dazu. Ina brach der Schweiß aus allen Poren. Sie konnte nicht mehr. Bisher hatte sie sich selbst die Schuld gegeben – hatte erwartet, das Büro mit der Empfehlung zu verlassen, doch besser einen Psychiater aufzusuchen. Nun aber schien ihr die Lösung – die Erlösung – zum Greifen nah: das Computerterminal ... dieses verdammte Gefühl könnte sofort enden.
Dafür, dass die Mädchenfrau sie für potenziell gefährlich hielt, wirkte sie ziemlich überrascht, als Ina aufsprang, den gepolsterten Besucherstuhl beiseite stieß und um den Schreibtisch herum auf sie losging. „BEENDEN SIE DAS! ICH WILL, DASS ES AUFHÖRT!“
„Sicherheitsdienst! Sicherheitsdienst!“, kreischte die Angestellte und fuhr strassbesetzte Acrylfingernägel zur Verteidigung aus.
Ina würde es selbst tun müssen. Sie griff nach der Tastatur.
„Neiiiin! Finger weg!“ Die künstlichen Klauen schrammten über Inas Arm und hinterließen gerötete Linien. „Sicherheitsdienst!“
Ina schlug zu. Ihre Faust traf die Frau mitten auf der Nase. Ein Knacken war zu hören, dann floss Blut – eine Menge Blut, das der Angestellten über den Mund lief und auf ihren Anzug tropfte.
Das hatte Ina nicht gewollt. Noch während sie überlegte, welche Notfallmaßnahmen nun hilfreich sein könnten, wurde die Tür aufgerissen: Zwei schwarz gekleidete Sicherheitsleute stürmten herein, ihre Taser im Anschlag. Ina hob die Hände, bereit sich zu ergeben. Zwei Lichtblitze zuckten auf sie zu. Sofort krümmte sich ihr Körper unter starken Elektroschocks. Der Schmerz war fürchterlich, doch schnell folgten ihm Dunkelheit und Stille ...
Und dann: Bewegung, ein unruhig schlagendes Herz – ihr Herz –, das immer wieder aussetzte, und eine Stimme:
„Immerhin“, nuschelte die Schleifchenliebhaberin, als Ina fortgeschleppt wurde, „das System konnte die Irre nicht täuschen. Das System hat sie durchschaut.“

Letzte Aktualisierung: 16.01.2008 - 15.12 Uhr
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