Punktfeuer, Wassertrieb, Schmelzfieber.
Amelie begreift nicht, was vor sich geht. Die Anzeige auf dem Computer verwirrt sie. Solche Geräusche hat sie noch nie zuvor gehört, derartige Farbpixel noch nie gesehen. Dann dieses leise Zischen. Unheimlich. Ihre Haut fängt an zu kribbeln, Gänsehaut. Sie starrt auf die Bildschirme.
Die Computer laufen einwandfrei, verarbeiten wie jeden Tag beachtli¬che Datenmengen aus Industrie und Forschung. Auch die Konso¬lidierung der Serverfarmen funktioniert. Dennoch wird Amelie das Gefühl nicht los, dass sich hier etwas Furchtbares anbahnt.
Plötzlich spürt sie eine Mobilisierung. Die Wand der Monitore schwankt, dann entfernt sie sich kontinuierlich. Immer wieder um einige Zentimeter.
Jetzt flackern die Bildschirme in grellbunten Farben.
In Marseille müssten längst die Warnlampen leuchten.
Plötzlich ein Gefühl von Übelkeit und Schwindel. Sie rutscht, langsam aber stetig, über den Boden der großen Halle, als hätte sie Rollen unter den Füßen. Sie kann sich nicht festhalten. Der zuvor ebene Boden senkt sich ab. Schieflage.
Warum? Die Instrumente funktionieren, trotz veränderter Farbpixel. Hat jemand das Netzwerk manipuliert? Ihr Nacken ist mit Schweißperlen übersät.
Amelie gilt als treibende Kraft der Zukunft. Alle großen Computerfirmen legen ihre Hoffnung in sie. Ein Genie im Bereich virtual network. Die Welt blickt gespannt auf ihre Arbeit.
Zufällig streift sie einen Pfeiler. Sie hält sich fest. Schlagartig muss sie an Professor Baath denken. Der Mann, der eventuell Rat wüsste. Ihre Gedanken wirbeln wild durcheinander. Er ist ein begnade¬ter Forscher. Ein Wissenschaftler für Elektronenhirne. Die Erörterung der Frage, ob Maschinen denken können, hält er für die intellektuelle Basis einer modernen Welt. Amelie hat sich in der Vergangenheit nur ein einziges Mal dazu treiben lassen, über philosophische Streitfragen zu diskutieren.
„Meine Damen und Herren, es liegt doch auf der Hand“, hatte sie bei einem ihrer Vorträge verlauten lassen, „dass im Computer nur das existiert, was vorher programmiert wurde. Sie brauchen keinerlei Sorge haben, dass sich die Maschinen eines Tages verselbstständigen. Das liegt außerhalb ihrer Fähigkeiten. Wenn Ihnen Herr Professor Baath etwas anderes suggeriert, dann nur, weil er Angst um seine Professur hat. Seine Ansicht, dass Berta, das von ihm erfundene Automobil, das sich durch die künstliche Computerwelt bewegt und angeblich eine Art fühlende Dampfmaschine sein soll, also dass diese Berta lebt, ist völliger Blödsinn. Eine fixe Idee Herrn Baaths. Dass Berta wie ein Mensch empfinden und reagieren soll, ist reines Wunschdenken. Sie hat Durst, wenn sich ihr Tank leert, lässt sich reparieren, wenn Öl ausläuft und ärgert sich über schlechte Straßenverhältnisse. Simulierte Straßen. Leben tut Berta noch lange nicht. Stecker raus, Strom abstellen und Berta löst sich in Luft auf. Sicher, auch der Mensch verhält sich aufgrund seiner Neuronengeflechte auf die eine oder andere Weise, denn die Biochemie funktioniert nach bestimmten Gesetzen, aber eine Maschine ist nicht autonom. Unsere Seele kann als informationsverarbeitendes System verstanden werden. Natürlich. Aber hat Berta das Bedürfnis nach Meditation und Gebet? Wessen Hostie, wessen Leib und Blut isst und trinkt sie? Hat sie wie wir einen freien Willen? Sie kann sich nicht selbst als Objekt betrachten. Doch das ist es, was den Menschen auszeichnet. Er erkennt sich selbst als Objekt, betrachtet, untersucht und forscht an sich. Das ist einmalig. Wir sind einmalig, meine Damen und Herren. Selbsterkenntnis. Wenn Ihnen Herr Professor Baath versichert, dass es nur eine Frage der Zeit sei, wann die Maschinen ein autonomes Bewusstsein haben werden, dann, vertrauen Sie mir, ist das der Irrsinn eines senilen, verwirrten Mannes.“
Sie wird jäh aus ihrer Erinnerung gerissen.
Der Pfeiler bebt. Amelie verliert das Gleichgewicht.
Sie findet nichts, woran sie sich ein zweites Mal festhalten könnte. Die Wasseroberfläche rückt beängstigend nahe. Sie wird eintauchen, in wenigen Minuten.
Das Areal liegt mitten im Meer.
Zwischen Marseille und Korsika.
Wie eine riesige Ölplattform, der selbst starke Windböen bis jetzt nichts anhaben konnten. Das Ozeandorf ruht auf vier Grundpfeilern, und einem Hauptast, in der Mitte. Von Wind und Meer umgeben. Aber normalerweise geht es in dem Gebiet nicht abwärts, sondern wie auf normalen Festlandwegen aufrecht und ge¬radeaus.
Dann der Ruck. Stillstand.
Amelie kann an nichts anderes mehr denken als an das Augen¬flimmern Nasas. Sie hat ihn gestern zum ersten Mal wahrgenom¬men. Nach zwei Jahren. Trotz Rampenlicht und Medienrummel um ihre eigene Person. Oder gerade deswegen.
Dann wieder ein Ruck.
Endzeit, denkt sie, alles wird untergehen.
Sie fällt ins Wasser, taucht mehrere Meter ein, ins kalte Nass.
*
Lautes Husten. Prusten, wieder Husten, Amelie würgt Wasser aus ihren Lungen. Erschöpft öffnet sie langsam ihre Augen. Sie ist an einer ihr unbekannten Küste gestrandet. Der weiße Sandstrand erscheint ihr unendlich weit. Ge¬blendet von grellem Licht, wähnt sie sich tot, im Himmel, einem Gott nahe, an den sie nie geglaubt hat.
Bedächtig steht sie auf. Ihre Kleidung hängt in Fetzen an ihr herunter. Nass triefend blickt sie auf den Ozean, der sich in seiner endlosen Weite vor ihr auftut. Die Sonne lässt die Wasserfläche wie silbriges Glas glitzern. Sie erinnert sich an die Bildschirme, an das Desaster mit den Computern.
Dann sieht sie sich um, kann in einiger Entfernung eine Art Prome¬nade erkennen. Und Menschen. Hoffnung, Funken letzter Energie, Zuversicht.
„Sie haben es geschafft deine Synapsen zu verändern“, flüstert Jürgen und schubst Amelie in eine Art Scheune. „Per biotechnischem Virus sind die Computer manipuliert worden. Meinen Recherchen zu¬folge steckt Baath dahinter. Aber er sagt, du hättest es entdeckt.“
„Was ist mit den anderen Bewohnern des Network-Bereichs?“
„Die gibt es nicht und gab es nie. Wie gesagt, sie haben deine Synap¬sen manipuliert. Du zehrst von Dingen, die nie existiert haben.“
„Nein“, entgegnet Amelie. „Wenn meine Erinnerungen gefälscht sind, dann bist du möglicherweise nicht mein Freund. Ich kann dir nicht vertrauen.“
„Ich bin der Einzige, dem du vertrauen kannst. Man hat sich gegen dich und deine Computer gewendet. Baath herrscht jetzt über die Elektronenhirne. Er ist ein Kontroll¬mensch. Du bist für ihn das Chaos. Eliminierung sein ewig gleicher Gedanke. Die einzige Chance, die du hast, um zu überleben, ist, in die Berge zu flüchten. Ich habe alles organisiert.“
Amelie wendet ihren Blick ab. Sie will nicht glauben, was sie gehört hat. Was, wenn man Jürgen geeicht hat, sie glauben zu lassen, was nicht wahr, was erstunken und erlogen ist. Veränderte Synapsen. Unsinn, denkt Amelie. Sie sträubt sich, will nicht annehmen, was ihr vermeintlicher Freund erzählt hat. Aber ich muss ihn glauben lassen, dass ich ihm vertraue. Sie wirft Jürgen einen hoffnungsvollen Blick zu.
„In Ordnung, ich werde in die Berge ziehen. Wann?“
„Gleich morgen.“
Als sie am nächsten Morgen im Gebirge ankommen, versinken sie fast bis zu den Knien im Schnee. Und als sie die Hütte betreten, überrascht Amelie ihren Freund von hinten, schlägt ihm mit einem Knüppel auf den Kopf, zieht ihn auf ein mit Tierfell bezogenes Sofa, und macht sich auf den Weg, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Sie wird nicht zurückkommen.
Ihr Ziel ist das Dickicht der Baathschen Computerwelt.
*
Das Letzte, was Amelie in Erfahrung bringt, bevor man sie eliminiert, ist die Entstehung des biotechnischen Virus, das sich in die Neuronengeflechte künstlicher Intelligenzen einbringen kann. Sie zum Leben erweckt. Die Formel ist unglaublich kompliziert, aber für Amelie nicht schwer genug. Ein Virus, das schnell außer Kontrolle gerät, von Professor Baath bewusst inszeniert, um die Welt neu zu erschaffen. Anders zu erschaffen als Amelie Beuner – oder wie sie von In¬sidern genannt wird Nasa.
*
Sie loggen sich wieder aus, verlassen die virtuelle Welt, fahren die Computer runter. Es ist vorbei. Nasa ist gestorben, im Beunerspace, auf elektronischen Wegen. Aber die Erkenntnis bleibt: ein biotechnisches Virus, das von einem künstlich erschaffenen Wesen entdeckt worden ist.
Eine Arbeit ohne Lohn, nur um am Ende zu sterben.
Zu sterben, ohne je gelebt zu haben. Wie Berta.
Letzte Aktualisierung: 16.01.2008 - 09.15 Uhr Dieser Text enthält 10178 Zeichen.