Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Katharina Joanowitsch IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Februar 2008
Unter Schichten
von Katharina Joanowitsch

„Unmöglich!“ schießt es mir durch den Kopf. „Das kann doch nicht...!“
Mit fahrigen Händen zerre ich die Plane weiter herunter. Sie ist verspakt. Ihr einstmaliges Gelb ist zu einem schimmeligen Schwarz verwittert. Die Plane verdeckt die dritte und hoffentlich letzte Schicht, die ich in diesem vermüllten Schuppen abtrage. Die Besitzerin, Edith Kosanke, ist leider keine rechte Hilfe wenn es darum geht, die zum Vorschein kommenden Dinge zu ordnen. Sie leidet unter Altersdemenz. Nein, sie selbst ist von unerschütterlicher Freundlichkeit und Gelassenheit. Ich leide ein wenig, weil ich ihr täglich aufs Neue erklären muss, wer ich bin und warum ich bei ihr bin. An den Inhalt ihres Schuppens kann sich Edith Kosanke nicht erinnern. Schon gar nicht, wer alles so vertrackt geschichtet hat. Nämlich ihr Mann, Handwerker mit manischer Sammelleidenschaft, dessen Schätze ich in mühevoller Kleinarbeit abtrage.
Tatsächlich steht es vor mir: das kunstvoll verschnürte und umwickelte Wägelchen, das Edda – meine Freundin aus Studientagen – als Kunstprojekt Lebens(ge-)schichten gebaut und im Schanzenpark ausgesetzt hatte, um, als Diplomarbeit, seinen Verfallsprozess zu dokumentieren. Doch das Wägelchen war damals schon am nächsten Tag verschwunden. Spurlos. Es blieb uns schleierhaft, wer an diesem Objekt – das oberflächlich betrachtet nichts weiter als ein mehrfach mit rotweißem Absperrband umwickelter, zweirädriger Karren war – solches Interesse gehabt hatte, dass er dies aus dem Gebüsch gezerrt hatte.
Edith Kosanke kommt auf einem ihrer rastlosen Gänge durch Haus und Garten am Schuppen vorbei. Ich bin so aufgeregt über meinen Fund, dass ich ihre Demenz vergesse und rufe:
„Frau Kosanke! Gucken Sie bloß mal! Wie kommt denn das hier her?“
Kopfschüttelnd kommt sie näher, was aber an ihrem Parkinson liegt, und guckt mich forschend an.
„Hallo? Wer sind Sie? Was machen Sie da?“
„Ich bin’s doch, Rosi Weber, Frau Kosanke. Ich komm doch immer zu Ihnen und helf Ihnen im Haushalt und räum Ihren Schuppen auf.“
Edith Krosanke blickt kopfschüttelnd aus das verpackte Etwas. Ihre Silberlöckchen zittern.
„Ist das für mich?“ fragt sie zögernd und guckt mich mit ihren mattblauen Augen an. Doch schon tasten ihre Augen weiter, gleiten ihre Gedanken ab und sie setzt ihren Gang fort.
Behutsam lege ich den Karren frei und mit ihm zwanzig Jahre verschüttete Erinnerung.

Ich weiß nicht und werde nie erfahren, wie Edda ihre restlichen Stunden verlebt hat. Mein letzter Eindruck von ihr ist der einer gelassenen, im Aufbruch befindlichen, viel zu mageren Frau Anfang Dreißig, deren Spott sprühender Blick unter den streichholzkurzen, grauen Haaren, zusammen mit ihrem spöttisch vorgeschobenen Mund, mich eindringlich betrachtet. Endlich war ihr Kunststudium beendet, unser Feiern schien endlos. Trunken wankten wir durch Tage ohne Anfang und Ende, doch schließlich wollte Edda aufbrechen: nach Venedig! An jenem letzten Tag, an dem ich Edda besuchte, wollte sie am Abend ihre heimliche Liebschaft empfangen, eine geachtete Persönlichkeit des Kulturlebens. Als ich eintraf – sie wohnte nur eine Straße entfernt in einem maroden Hinterhaus, ein stehen gebliebener Anachronismus inmitten neuer Wohnblocks – schlang sie gerade ein weißes Tuch um den äußeren Fensterknauf des rückwärtigen Fensters. Sein Flattern sollte das Willkommenszeichen sein für O. Das für ihren Liebesabend ausgewählte Kleid sollte ich begutachten. Während Edda sich mit gerunzelten Brauen kritisch vor dem Spiegelschrank drehte, stieg ein Druck mir in Brust und Hals. Mich würgte ein Weinen, doch wusste ich nur undeutlich, warum. Es war wohl die Kindlichkeit ihres Körpers, seine Zartheit, auf dem ein reifer, grauhaariger Kopf den Eindruck ihrer Verletzlichkeit noch verstärkte. Oder waren es die Nachwehen einer überraschenden Nacht, die wir zusammen nach ausschweifendem Kneipenbesuch bei ihr verbracht hatten und die mir Edda als eine hungrige Liebhaberin zeigte, ohne dass wir später je ein Wort darüber verloren? Vielleicht ängstigte mich auch das Empfinden, dass sich unsere Lebenswege unaufhaltsam voneinander entfernten? Edda hatte den Mut gehabt, weiter zu studieren. Ein Mut, der mir fehlte. Sie wollte ‚fertig werden’ mit den schweren, philosophischen Themen, die sie beschäftigten und deretwegen sie immer mehr vereinsamte, wie ich heute zu wissen glaube. Sie hatte sich für die ‚große Kunst’ entschieden – ich krebste irgendwo in der angewandten Grafik herum, strichelte in Millimeter messenden Formaten, während sie begann, Raum füllende Objekte zu kreieren.
An diesem Tag war ich ihr keine gute Ratgeberin. Mir war sie in Hosen am Liebsten, doch partout eine Entscheidung zwischen Rock und Kleid fallen, vermutlich um einer Vorliebe O.s zu entsprechen – ein Mann fast auf der Schwelle zum Greis.
Als wir dann in Eddas Küche Kaffee tranken – sie war so winzig, dass der zweite Stuhl in der geöffneten Tür zum Flur stehen musste – holte sie eine offenbar bereitliegende Nadel und ein Blatt Papier hervor. Sie wollte, dass wir die Anzahl unserer zukünftigen Kinder erpendelten. Nie hatte ich Anzeichen von Aberglauben bemerkt, so war ich perplex über ihre Ernsthaftigkeit, geradezu Verbissenheit. Sogar ihr Geschlecht würden wir so erfahren, behauptete sie. So hingen wir über einem Blatt Papier und starrten auf die Ausschläge einer am Zwirnfaden hängenden Nadel. Das Ergebnis schien Edda sehr zu befriedigen: für sie ein Junge, für mich ein Mädchen. Ich habe wohl ebenso lange nicht mehr an unser Pendeln gedacht, wie es brauchte, Eddas Karren unter unzähligen Schichten zu begraben, doch tatsächlich habe ich eine Tochter, inzwischen sechzehnjährig.
Unser Abschied an jenem fernen Tag war wie immer. Wir küssten uns auf den Mund, auf beide Wangen, umarmten uns fest und nickten uns noch einmal mit bestätigendem Augenzwinkern zu. Ihr zum Kuss gespitzter Mund, ihr Nicken und Blinzeln und Grinsen sah ich als quälende Endlosschleife in der ersten Zeit nach ihrem Tod, begleitet von ihrer mich neckenden Stimme.

Die Explosion hatte den auf dem Fensterbrett stehenden Lautsprecher durch die Scheibe auf den gegenüberliegenden Gehweg geschleudert. Hatte Edda gedacht, das ausströmende Herdgas würde sie sanft einschlafen lassen? Und als nichts geschah, sich vielleicht frustriert eine Zigarette angezündet? Oder sprang durch die Türklingel ein Funken über? Sorgfältig hatte sie sämtliche Ritzen des Fensters und der Tür abgeklebt, ihre Matratze in die Küche gezerrt, und, einer Schamanin gleich, sich neben einem langen Holzstab zur Ruhe gelegt.
Für uns Freunde hatte sie eine Zimmerwand zum Abschied sorgfältig dekoriert. Edda, die Ästhetin. Beziehungsreich hatte sie dort kleine Zeichnungen, Postkarten, getrocknete Rosenstängel, handgeschriebene Sprüche von Lao Tse – Die größte Offenbarung ist die Stille – und Jean Paul Sartre angeheftet. Jeder von uns erkannte die ihm zugedachte Botschaft. Im Zentrum behauptete eine Kalligraphie Ich bin in Venedig! Auf den Holzbohlen vor der Wand stand eine Flasche Veuve Clicquot. Edda, die Perfektionistin. Nichts hatte sie dem Zufall überlassen wollen, doch die Möglichkeit übersehen, dass ein Funken ihre Inszenierung Lagerstatt für die Ewigkeit würde vernichten können. Ihr letztes Geschenk an uns, ihr Wandarrangement, blieb vom Feuer verschont. Den Champagner haben wir nie getrunken.

Fünfundzwanzig Jahre haben mich inzwischen von Eddas Existenz entfernt. Der Schmerz verblasste schneller als ihr Foto. Wenn ich mir meine wenigen Edda-Lebens-schätze anschaue, drängt der innere Tränensee über die Ufer. Die vergilbten Papiere, die Fotos, diese stehen gebliebenen Augenblicke voll uneingelöster Zukunft. Seitdem verharren sie im Kartondunkel, geschichtete Erinnerung, für niemand als für mich noch von Bedeutung.
Eddas Tod ist von anderen Toden überlagert worden, von schmerzlicheren. Doch ihr Tod war der erste, der mir widerfuhr. Er formte mein Fassungsvermögen für Schmerz. Als Edda unwiederbringlich fort war, merkte ich erst, dass unsere Freundschaft eigentlich Liebe war.

Frau Kosankes Schuppen kann ich den Erben in einem besenreinen Zustand übergeben. Drei nach Stoffen sortierte, gefüllte Container stehen zum Abtransport bereit, ohne Eddas Karren. Den habe ich behutsam ausgeweidet und seinen für Edda einstmals so beziehungsreichen Inhalt, dessen Bedeutung sich mir aber entzieht, in einen Umzugskarton umgeschichtet. Der Karren wird heute begeistert von einem Kindergarten als Kletter- und Kippelobjekt genutzt, quietschbunt bemalt. Edda würde das verstehen. Den Umzugskarton habe ich einem ihrer Geschwister gebracht, es sind schließlich Fundstücke aus früher Kindheit. Das würde Edda vielleicht nicht verstehen, ihr Verhältnis zur Familie war zerrüttet.
Frau Kosanke musste nach einem Schwächeanfall ins Krankenhaus. Sie wird ihre letzten Tage in einem Heim der Arbeiterwohlfahrt verbringen. Ich besuche sie regelmäßig, blicke in ihre freundlichen, mattblauen Augen und erzähle ihr von meiner wundersamen Entdeckung in ihrem Schuppen. Schicht für Schicht trage ich noch einmal Eddas Lebensspuren ab. Dieses Erzählen tut mir gut. Bevor ich auf die Freiwilligenbörse aktivoli stieß, schien mein Leben verödet. Aufträge habe ich längst keine mehr, mein Mann lebt ein bedürfnisarmes Leben zwischen seinen Büchern, auch meine Tochter, ein pubertär-pickliges Nervenbündel, lehnt jede Nähe ab. So sitze ich bei Frau Kosanke, die lächelnd ihre Silberlöckchen schüttelt, wir trinken Tee aus verschnörkelten Sammeltassen oder wandern in endlosen Schleifen über den Anstaltsflur. Trotzdem ich weiß, dass Frau Kosankes Liebenswürdigkeit eher von ihrer Demenz herrührt, als von echtem Interesse an mir und es rätselhaft bleibt, für wen sie mich hält, sind die Nachmittage mit ihr beglückend. Niemandem sonst könnte ich die endlose Geschichte meiner lang vergangenen Liebe, ihrem schmerzlichen Verlust und ihrer Wiederbelebung erzählen.



©Katharina Joanowitsch

Letzte Aktualisierung: 01.02.2008 - 20.53 Uhr
Dieser Text enthält 10105 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.