Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Februar 2008
Annie, unvergessen
von Ingrid Gertz

Von Besuch zu Besuch erschien das große Hoftor sperriger, unnachgiebiger. Seine angerosteten Angeln widersetzten sich ärgerlich knirschend jeder Bewegung. Und es war schweißtreibend, den massiven Holzflügeltüren, die schon lange weder Firnis noch Farbe aus der Nähe gesehen hatten, eine ausreichende Durchfahrt abzutrotzen. Vollgesogen von der Feuchtigkeit ungezählter Regenschauer hatten sie sich am Boden zur Ruhe gesetzt, und Klaus musste all seine Kraft zusammennehmen, um sie über die aus dem Naturpflaster gewucherte Grasnarbe zu ziehen. Er hätte den Cadillac auch problemlos vor dem Grundstück abstellen können, aber die Abgeschlossenheit der Umfriedung vermittelte ihm trotz fehlender Zaunlatten und bröckelnden Mauerwerks ein Gefühl der Sicherheit.
Dieser Hof war sein Refugium, seine Zufluchtsstätte. Er fühlte sich behütet, genau wie in Kinder- und Jugendtagen. Und er kam wohl auch deshalb so gern hier vorbei. Während Klaus das Auto auf den Hof lenkte, schweiften seine Gedanken zurück.

Annie, sommersprossig und stupsnasig. Sie war so wohltuend anders, als die Zopfliesen in ihren gerĂĽschten Kleidchen.
Sie hatte ihn nie ausgelacht, wenn ihm die Worte unkontrolliert über die Lippen stolperten. - Ein Manko, das Klaus lange nicht in den Griff bekam.- Immer schon waren ihm die Gedanken davon galoppiert, schneller als seine Aussprache gewesen und einfache Gespräche oder auch mündliche Leistungskontrollen hatten für ihn den Charme eines Spießrutenlaufs bekommen. Weil alle immer nur auf seine sprachlichen Verfehlungen lauerten, darauf dass er sich verhaspelte, eine Lachnummer zum Besten gab, versagte. Bei Annie hatte er diese Furcht nie gehabt. Sie verschwand nicht gleich nach unverständlichen Lautfolgen. Sie konnte warten, bis sich seine Angst vor den gesprochenen Worten gelegt hatte.
Er sah in Annie damals mehr als eine verständnisvolle Zuhörerin. Sie war schön. Obwohl sie das in ihren abgewetzten Jeans und mit dem stoppeligen blonden Haarschopf wohl selbst nicht so gesehen hätte...

Das Haus der Großeltern, jetzt seit über zehn Jahren sein Eigentum, sah von außen wenig einladend aus. Mit blinden Fenstern, einer unkrautüberwucherten Eingangstreppe und modrigen Dachsparren klagte es über Jahre der Vernachlässigung.
Aber was hielt er sich mit Ă„uĂźerem auf? Drinnen war alles halbwegs in Ordnung. Klaus brauchte fĂĽr seine kurzen Besuche kein Zimmer im Ort, sondern wohnte einfach hier, in seinem frĂĽheren Jugendzimmer, wo ihm beim Anblick des schweren Eichenbettes und der Karogardinen sogleich der Geruch von GroĂźmutters frisch gebackenem Apfelkuchen in die Nase zu steigen schien.
Klaus wollte Zeit für sich haben, hier und da ein wenig am Haus werkeln, ungestört seinen Erinnerungen nachhängen.
Gesellschaft brauchte er nicht, nicht jetzt.
Vielleicht heute Abend.
Einen kurzen Abstecher in die Dorfkneipe machen.
Eine Runde Karten spielen.
Klaus konnte danach noch in die Stadt, Kino wäre vielleicht nicht schlecht.
Sinnierend ging er zum Haus, streifte flĂĽchtig den leicht bemoosten Handlauf der Eingangstreppe. Auch die HaustĂĽr war verquollen.
Damit der SchlieĂźmechanismus funktionierte, musste er tricksen, die Klinke erst zu sich und dann leicht nach oben ziehen.
Im Flur lag der Sack Zement, den er gestern mitgebracht hatte. Klaus schleppte ihn in den Keller. Hier war er dabei, den Boden neu auszugießen. Sand und Kies hatte er schon liegen, die Wasserwaage und Großvaters altes Streichbrett lehnten säuberlich an der Wand, Schalbretter für das nächste Stück Boden hatte Klaus gestern angebracht.
Klaus ging etappenweise vor.
Bei jedem seiner kurzen Besuche bearbeitete er zwei bis vier Quadratmeter seines kĂĽnftigen Weinkellers. Ganz nach Lust und Laune.
Zufrieden betrachtete er sein bisheriges Werk. Die Hälfte des Raumes, immerhin gut dreißig Quadratmeter, war schon fast ausgegossen. Morgen früh, vielleicht, würde die Fünfzig-Prozent-Marke überschritten sein.

In der Kneipe wurde Klaus mit lautem Hallo begrüßt. „Hab´ deinen Flitzer heute schon gesehen und dir einen Platz in der Runde freigehalten“ rief ihm Horst, ein Nachbarsjunge aus Kindertagen vom Stammtisch aus zu.
Die anderen Beiden, die ihm mit „Karl und Jupp“ vorgestellt wurden, kannte Klaus nicht. Zugezogene.
Jedes Jahr ein StĂĽck mehr Fremdheit.
Jupp gab die Blätter aus. Und mit „achtzehn!“, „zwanzig!“, „zwo!“ ging es in die erste Runde. Klaus hatte Schwierigkeiten, bei der Sache zu bleiben. Es machte ihm heute einfach keinen Spaß. Irgendwann, nach einem Grand Ouvert, wurde er unruhig, musste raus. Klaus verabschiedete sich. „Müde, gut' Nacht.“

Klaus steigt ins Auto. Neblig- kalte Feuchte hängt klamm in den Sitzen. Er hatte vergessen, das Verdeck zu schließen und holt dieses Versäumnis jetzt, leise vor sich hin fluchend nach. Klaus stellt die Heizung an. Zur Trockenlegung der nebelnassen Polster muss er nun wohl doch noch ein paar Meter fahren.
Auf der Strecke eine Tramperin.
Ihre Augen sind vom Fernlicht noch geblendet, als er anhält.
„Wohin des Wegs?“
„Bis zur Stadt, kennen sie dort ein Hotel, das bezahlbar ist?“
„Sicher, hüpf' rein, ist kein Umweg für mich.“
Beim Einsteigen mustert er sie von der Seite. Was die diffuse Innenbeleuchtung preisgibt, gefällt ihm: Kurzes, stoppeliges Haar, aschblond. Ihr langer, schräg geschnittener Pony verdeckt fast die rechte Gesichtshälfte.
Unter ihrer Jeansmontur lässt sich ein zierlicher, aber wohlgeformter Körper erahnen.
Stupsnase mit Sommersprossen.
Annie, ganz genau wie Annie.
„Tina“, stellt sie sich vor. „ Ich dachte schon, dass ich die restlichen zwanzig Kilometer auch noch laufen muss. Hat einfach niemand angehalten. Lauter Familienkutschen mit Muttis auf dem Beifahrersitz…“ Während Tina sich anschnallt, lächelt sie ihm dankbar zu und streckt die Doc Martins - bestückten Füße genüsslich von sich. „ Ich war bei einer Freundin. Dass das hier mit dem Trampen so schlecht klappt, hatte ich nicht gedacht, funktioniert auf anderen Strecken immer wie geschmiert.“
Leichtsinniges Studentenvolk!
„Wir haben Samstag, Mädel. Wie viele allein reisende Vertreter sind da wohl unterwegs, was erwartest du? Klaus, übrigens.“

Noch zehn Minuten bis zur Stadt.
Der Motor summt, gleichmäßig drehend, seine monotone Melodie in die Nacht. Die Scheinwerfer tasten die Strecke ab, erfassen Seitenstreifen und abgehende Waldwege.
Erste Möglichkeit…vorbei.
Zweite Möglichkeit…Mist, Gegenverkehr, wohl noch nie was von Abblenden gehört?
Jetzt! …Abbiegen!
„Was soll denn das werden?!“ aufgeregt, ungläubig, ängstlich ist sie, kratzt und beißt, versucht aus dem Wagen zu kommen.
Die TĂĽren sind verriegelt und ihre Hektik, mit der sie am Griff zerrt, die hilft ihr nicht.
Er ist stark. Stärker als sie.
Warum schreist du? Warum schreien sie immer? Warum schreien sie immer alle?!
Annie! Aufhören zu schreien! Aufhören!
Sie ist still… gut.
Er nimmt die Hand von ihrem Mund.
„Komm, wir fahren nach hause. Ich bin Dir doch gar nicht mehr böse. Obwohl es nicht nett von Dir war. Du weißt schon…“

Das Rendezvous. Sein Allererstes. Sein Einziges. Die alte Feldscheune. Rosen, unendlich viele Rosen. In GroĂźmutters Garten hatte es nicht die Spur einer BlĂĽte mehr gegeben. Was er ihr alles sagen wollte...
Schüchterne Erklärungen, anfangs gestammelt, natürlich.
Annies Blicke. Er glaubte Aufforderung, Verständnis...Wärme zu sehen.
Alles fand sich wie von selbst, nicht nur die Artikulierung.
Dann, irgendwann, herabfallendes Heu und gedämpftes Kichern…
Die ganze Klasse hatte auf dem Heuboden gehockt, wie in einer Theaterloge. Und er selber war der dumme August gewesen, wiedermal. Lautes, ungestümes Gelächter! Sie hatte sich rasch mit seinem Hemd bedeckt, sagte irgendetwas. Er registrierte es wie durch Watte, hörte ihr aber nicht zu, wollte nichts mehr hören. War nicht alles klar, auch ohne ihr Geschwätz?
Diese Enttäuschung, diese Scham, diese Verlorenheit! Diese Wut!


Acht Uhr, Klaus wirft seine Tasche in den Cadillac. Er muss in vier Stunden zurĂĽck sein, zurĂĽck in seinem richtigen Leben.
Der Keller hat Fortschritte gemacht. Zwei weitere Quadratmeter sind sauber verfĂĽllt und glattgestrichen.
Dreihundert Kilometer später betritt Klaus das große weiße Gebäude, geht mit raumgreifenden, festen Schritten durch helle Flure. Sein Weg führt ihn in die psychiatrische Abteilung.
Das Zimmer ist lichtdurchflutet, tut den Augen weh.
Klaus stellt die Jalousie so, dass ein beruhigendes, angenehmes Halbdunkel entsteht.
Eine bequeme Couch lädt zum Sitzen ein.
Ach, ja, sitzen.
Zur Ruhe kommen.
Ausruhen.
„Sophia Schirmer“ quäkt es aus der Gegensprechanlage.
Die junge Frau kommt herein, blass und dünn ist sie. Ihre dunklen Augen irren ruhelos und ängstlich durch den Raum.
„Guten Tag, Sophia!“ Klaus nimmt ihre Hand und hält sie mit sanftem Druck kurz fest. Sophia zögert, setzt sich aber dann auf den angebotenen Stuhl. Sie will nicht reden. Klaus kennt die Schweigerin aus den vorangegangenen Sitzungen und lässt ihr Zeit. Kann sein, dass sie ihn nicht mag, ihm deshalb der Therapieerfolg hier versagt bleiben könnte.
Schon beim letzten Termin, erinnert sich Klaus, wollte er ihr einen Kollegen empfehlen...
Davon kann jetzt keine Rede mehr sein. Er ertappt sich, wie er immer nur auf ihre neue Frisur starrt. Kurz, fast schon stoppelig und blond gefärbt, abgeschnitten ist der alte Zopf. Sophia sucht ihren neuen Anfang mit neuem Äußeren. Sie sieht jetzt aus wie Annie...
Schweigsame Minuten vergehen, die irgendwann von seiner Stimme durchbrochen werden. „Sophia? Wir sollten für unsere Gespräche vielleicht einmal ein anderes Umfeld wählen. Was halten sie von einer kleinen Ausfahrt, einfach mal so? Nein, sie müssen nicht zusätzlich hierher kommen. Samstag, sagen wir um neun? Ich hole sie ab.“




Letzte Aktualisierung: 19.02.2008 - 10.53 Uhr
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