Liebesgeschichten ohne Kitsch? Geht das? Ja - und wie. Lesen Sie unsere Geschichten- Sammlung "Honigfalter", das meistverkaufte Buch im Schreiblust-Verlag.
Als sie ihn damals kennenlernte, war er gerade arbeitslos. Er hatte sich auf ihre etwas mutwillige Anzeige im Internet gemeldet: „Suche jungen Mann zwischen 30 und 90 Jahren, der, körperlich und geistig fit, …etc etc …“, er hatte sein Alter etwas nach oben korrigiert, denn ob sie mit ihren frei eingestandenen einundfünfzig Jahren nicht doch vor einem achtundzwanzigjährigen zurückgeschreckt wäre – wer weiß? Kenne einer die Frauen…
Das erste Treffen nahmen beide gar nicht richtig ernst – sie hatte zugesagt, weil eine Freundin ihr dringend abgeraten hatte - „Laß bloß die Finger von dem Kerlchen - Herrgott, meine Söhne sind so alt wie der…“ – und was ihn betraf, hatte er gerade Stress mit seiner damaligen sogenannten Beischlafbeziehung – am besagten Abend würde sie vermutlich ihren ehemaligen Chef ficken auf einer Fete, zu der er nicht eingeladen war, und auf das amtliche Endergebnis aus ihrem Munde spät und betrunken in der Nacht hatte er keine Lust allein zu Hause zu warten.
Sie trafen sich also an der Straßenbahnhaltestelle, waren sich durchaus ihrer ungewöhnlichen Konstellation bewußt, empfanden diese sogar beide als außergewöhnlichen Reiz. Auf dem Weg zum Lokal begann es zu regnen. Sie lud ihn unter ihren Regenschirm ein, und so gingen sie das erste Mal zusammen Seite an Seite. Er war nachmittags beim Frisör gewesen, sie sah mit leisem Bedauern, daß die langen blonden Locken gefallen waren, von denen er mittags am Telefon noch erzählt hatte: blaue Augen strahlten sie an unter feingezeichneten hochgewölbten Augenbrauen wie Halbmonde, sinnliche Lippen hatte er und war überschlank, was für ein süßer Kerl, dachte sie, aber so jung, so jung. Egal, sie war begeistert, denn sie war gerade dabei, die Liebe und das Leben wieder zu entdecken nach einer Zeit voller Depressionen, Krankheit, Trägheit und nach einer schmerzhaften Scheidung, durch die sie sich letztlich von einer Ehe befreite, in der sie nur die Gebende gewesen war (aber sie hatte ihn geliebt!) - Freiheit hieß nun die Devise, sie war bereit, die Welt zu erobern, und – warum nicht? - sehr gern mit diesem Adonis an ihrer Seite.
Offen und charmant, wie er war, war er sofort mit den Kellnern des Lokals auf du und du, da konnte sie dort Stammkundin sein, so viel sie wollte. An diesem Abend so wie an denen, die folgen sollten, erzählte er viel und pausenlos, ihre Aufmerksamkeit war permanent gefordert, was ein wenig anstrengend war, zumal da es sich um Themen handelte, die nicht primär die ihren waren – sie hatte bisher immer über Filme und Bücher reden können, nun ging es aber um Oldtimertuning und die Cichlidenzucht, und das war ganz und gar nicht ihre Welt – aber sie staunte über das, was sie bisher nicht kannte, war bereit, Neues in sich aufzunehmen, freute sich an der Begeisterung, die sie bei ihm wahrnahm, und machte seine Sache zu der ihren.
Sie war fest entschlossen gewesen, ihn nicht an diesem ersten Abend gleich mit zu sich nach Hause zu nehmen, er sollte sich nicht einbilden, sie hätte es nötig und so weiter, aber dann war am Ende dieses Abends so viel Vertrautheit zwischen ihnen entstanden, daß sie sich beide nicht trennen wollten, und sie stellte nur die eine Bedingung – kein Sex in dieser ersten Nacht, und sie setzten sich bei ihr zu Hause auf die Couch, redeten und redeten, schliefen zwischendurch ein, wachten auf, redeten und redeten, und erst morgens gegen sechs Uhr kam es zu einem ersten sehr langen sehr intensiven Kuss, und der hatte es wirklich in sich, und um acht Uhr war er bei seinen Eltern, um beim Fällen eines Baumes mitzuhelfen, und das nach durchwachter Nacht.
Sie dachte – welch einmaliges Erlebnis, schade, daß nicht mehr daraus wird – aber dann kam um zwölf Uhr mittags seine SMS: „Verbringen wir den Abend zusammen?“, und sie freute sich und sagte ja, und viele Abende, Nächte, Tage folgten, an denen sie zusammen waren, sie waren verliebt, sie hatten tollen, fantasievollen Sex, er hatte Zeit ohne Ende und wartete auf sie, wenn sie nach der Arbeit zu ihm raste, sagte ihr, wie sehr er sie liebte und vermißte sie jede Minute, die sie nicht bei ihm war – wenn sie das in einem Roman gelesen hätte, hätte sie es als übelsten Kitsch abgetan, aber nun passierte ihr das in Wirklichkeit, und sie dachte sich, gibt es das also doch: „La vie est un roman.“
Dann endlich, endlich, nach zwei Monaten, welch Glücksfall, fand er wieder einen Job in seinem erlernten Beruf. Zehn-Stunden-Tage wurden zur Regel, die Arbeitsstelle war in der nächsten Stadt, und sie machte es sich zur Pflicht und zur Angewohnheit, ihn, wenn es ihre Zeit erlaubte, zur Arbeit zu fahren und – dies noch regelmäßiger – ihn von dort abzuholen. Sie fuhren erst zu ihm, um seine Fische zu versorgen, dann gingen sie meist essen, oder sie fuhren direkt zu ihr und sie kochte ihm seine Lieblingsgerichte, egal wie spät in der Nacht es war. Jeden Morgen setzte sie für ihn Kaffee auf, half ihm in den Bademantel, so daß er warm eingepackt beim Frühstück sitzen konnte, sie hatte Brötchen geholt und bereitete auch die Brötchen für seinen langen Arbeitstag und vergaß auch nicht, eine kleine Süßigkeit mit in die Tüte zu tun, wie sie das für ihren Sohn getan hätte, hätte sie je einen gehabt. Sie besorgte seinen Lieblingsaufschnitt und sein Lieblingsmineralwasser, weil er ihre Sorte nicht mochte. Auch kleine und größere Geschenke machte sie ihm regelmäßig, denn sie verdiente mehr als er, und er sollte sich doch schließlich wohlfühlen, und so war es einmal ein teures Rasierwasser, oder auch eine Playstation mit den zugehörigen Spielen oder diverse Teile einer zu erneuernden Garderobe, ganz zu schweigen von den Zoomarktbesuchen – Fische konnten, wenn man das Hobby ernsthaft betrieb, sehr kostenintensiv sein. Seine zaghaften Versuche, hin und wieder selbst bezahlen zu wollen, winkte sie ab, sie tat das doch gern und er solle sich sein Geld für wichtigere Dinge aufheben. Am Wochenende machten sie Ausflüge, meist zu Fischbörsen, auf denen er seinen Tierbestand vervollständigen konnte, und die Fische, die er erstand, bezahlte natürlich ausnahmslos sie.
Dann kam das Wochenende, an dem er einen Nachmittag mit einem Freund verbringen wollte, und gegen Abend rief er sie an, ob sie nicht zum Abendessen dazukommen wolle, aber da war sie schon todunglücklich und in Tränen aufgelöst, daß er sie überhaupt hatte allein lassen können diesen ganzen Nachmittag, und sie machte ihm am Telefon ein Szene, und nun war er völlig verstört, weil er nicht wollte, daß sie todunglücklich sei, denn er liebte sie ja, und er sagte dem Freund fürs Abendessen ab, eilte zu ihr und nahm sie in den Arm, und sie beruhigte sich und hatte nicht mehr so sehr diese Angst, er könne sie eines Tages nicht mehr lieben, und sie verbrachten die Nacht zusammen, enger verbunden denn je.
Irgendwann fiel ihr dann auf, daß er weniger redete als früher, er war immer müde, auch im Bett lief wenig – wie sollte es auch anders sein bei diesem anstrengenden Job, da war das normal, daß nach der ersten Verliebtheit jetzt ruhigere Zeiten anbrachen – aber soo ruhig?? Sie war sich jedoch sicher, daß er keine andere hatte, denn sie waren ja praktisch flächendeckend zusammen, fürs Fremdgehen hätte er ja gar keine Zeit gefunden. Seine Pläne, ein Treffen mit andern Fischzüchtern stammtischmäßig zu organisieren, hatten sich mit der Zeit erledigt, nach seinem Job und der Fischpflege blieb meist gerade noch Zeit, um ein Stündchen miteinander auf dem Sofa abzuhängen, sie strich ihm gern durch seine blonden Locken, ein wenig Fernsehen und dann ab ins Bett, und so lief es jeden Abend. Trotzdem machten sie am Wochenende hin und wieder ihre Ausflüge, denn ein bißchen Abwechslung mußte sein, er war ihr dankbar dafür und zufrieden, rauszukommen, mal was anderes, sagte er, und daß er sie liebe nach wie vor, und das wiederholte er wie eine Beschwörung, und sie war glücklich. Daß er es vielleicht nicht war, kam ihr nicht in den Sinn.
Derlei Dinge wollte sie nicht wissen. Insgeheim, bei aller Nähe, fühlte sie sich manchmal sehr in die Enge gedrängt, sie hatte keine Zeit mehr für sich, und hin und wieder überlegte sie, daß sie ihn sicherlich liebte – und vielleicht auch hin und wieder nicht? Sie war sehr bemüht, ihre Zweifel zu verbergen, weil sie inzwischen meinte nur schwer auf ihn verzichten zu können – aber eigentlich wäre sie auch beispielsweise mal wieder gern verreist, anstatt ihre gesamte freie Zeit seinen Bedürfnissen unterzuordnen, aber sie sagte sich, er braucht mich, allein kommt er nicht zurecht, ich kann da nicht raus, ich liebe ihn, und er liebt mich.
Dann kam der Tag seines Geburtstags. Sie richtete ihn aus für seine gesamte Familie, die sie und den Altersunterschied inzwischen akzeptiert hatte, denn sie tat dem Kleinen ja so unendlich gut, mit ihrer Hilfe meisterte er sein Leben, und ohne sie wäre er vermutlich verloren. Sie organisierte diesen Tag mit ihrer üblichen Perfektion, sorgte für fünfzehn gleiche Teller und Tassen, die sein Junggesellenhaushalt nur mit Mühe hergegeben hätte, sie bestellte Unmengen von Torten bei der besten Konditorei am Platze, und alles lief natürlich am Festtag reibungslos und wie am Schnürchen, und hinterher dankte er ihr für die perfekte Organisation, und es sei wunderbar gelaufen und das Leben mit ihr sei ebenfalls wunderbar. Dies alles sagte er mit der etwas atemlosen Stimme, mit der er neuerdings immer mit ihr sprach, es war, als kostete es ihn unendliche Mühe, die Wörter zu formulieren und in die Freiheit zu entlassen.
- Liebling, was ist denn, kriegst du keine Luft?
- Ich weiß nicht, Schatz, ich weiß nicht. Laß mich einfach atmen.
…
Dreißig Jahre später, im Seniorenwohnheim.
Gerade hat sie ihre Geschichte wieder einmal erzählt.
Nur wenige Zuhörer sind noch im Gemeinschaftsraum geblieben.
Sie beendet ihre Geschichte mit den immer gleichen Worten:
- Und das war das letzte, was er zu mir gesagt hat. Am nächsten Morgen war er verschwunden. Ich versteh das bis heute nicht.
Letzte Aktualisierung: 21.02.2008 - 13.49 Uhr Dieser Text enthält 10120 Zeichen.