Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Februar 2008
Katzenjammer um halb Acht
von Barbara Hennermann

„Was er sah, veranlasste ihn, so schnell wie möglich das steile Dach hinunterzurutschen. Er verfehlte die Leiter und landete auf Händen und Knien auf dem Boden; dass er sich vorsehen sollte, hatte er ganz vergessen. Eine dicke dunkle Wolke dreckig aussehenden Rauches quoll aus dem Schornstein, und als er die Straße hinunter rannte, sah er, dass er auch aus den zersprungenen Fenstern und der offenen Tür drang…“

Es war ein Reflex gewesen, der ihn wegrennen ließ. Weg von dem Feuer, der Gefahr, dem Entdecktwerden. Nicht jetzt, nicht so – er war dafür nicht bereit. Der richtige Zeitpunkt war noch nicht gekommen. Das Bersten zerspringenden Glases ließ ihn plötzlich innehalten. Wovor versteckte er sich noch? Und wofür? Welche Idiotie hatte ihn auf das Dach gezwungen, als der Landrover am frühen Nachmittag die Straße herauffuhr?
Er ertastete den Zettel in seiner Hosentasche. Die Worte kannte er auswendig.

„Geliebter, meine Sehnsucht ist wie ein riesengroßes Meer von Tränen. Nirgendwo Land in Sicht. Und ich schwimme mittendrin. Aber ich bin kein Ausdauerschwimmer.“

Elinor. Die Frau, die er liebte. Die Frau, die er jetzt in diesem brennenden Haus vermutete. In dem Haus, das seit drei Jahren ihr Versteck, ihr Treffpunkt war. Einmal die Woche, jeden Mittwoch, von Zwei bis halb Acht.

„Gestohlene Zeit, mein Liebster. Sie gehört uns nicht. Warte, bis sie uns mit dieser Zeit erschlagen werden. Denn man wird sie uns nicht gönnen.“
„Eben darum müssen wir ja so vorsichtig sein, damit uns niemand entdeckt und die Zeit nehmen kann!“

Er hätte sich nie träumen lassen, jemals in eine derartige Situation zu kommen. Seine Ehe währte bereits so lange, dass er sich an ihren Beginn wie an ein historisches Ereignis erinnerte. Inzwischen hatte er Karriere gemacht, war Chefarzt eines Krankenhauses geworden und gehörte zu den Honoratioren der Stadt. Seine Frau Irene hatte sich nicht, wie es viele Frauen getan hätten, an seine Erfolge angehängt, sondern ihren eigenen Weg gesucht. Als Stadträtin erhielt sie nun jene Beachtung, die ihrer Vorstellung einer emanzipierten Frau entsprach. Sie begegneten sich inzwischen mit der freundlichen Herablassung zweier Menschen, von denen jeder wusste, dass er den anderen nicht wirklich brauchte.
„Bitte, wenn du nicht willst, musst du nicht auf die Vernissage mitkommen. Aber du weißt, dass mir jetzt vor den Wahlen ein bisschen Rückendeckung durch dich gut täte.“
Er hasste Streit. Außerdem malte er ab und zu selbst ein bisschen, wenn es seine Zeit zuließ. Nichts allerdings, was das Interesse seiner Frau geweckt hätte.

Der Raum war überfüllt mit Bildern, die er niemals bei sich aufgehängt hätte. Irene, die ihn so dringend dabei haben wollte, ließ sich sofort von einer Gruppe
exaltierter Gestalten einsaugen, die gestikulierend um einen schmuddeligen jungen Mann herumstanden – es war wohl der Künstler dieser Veranstaltung.

„ Kommt Kunst von Können? Oder ist Kunst das, was mir gefällt? Ist Kunst etwas Kommerzielles? Oder einfach Zeitgeist?“
„Du bist Kunst, das größte Kunstwerk aller Zeiten!“ Da lachte sie und fuhr mit dem Finger sanft seine Lippen nach. Und suchte mit ihren Lippen diese Spur.

Sie stand abseits von dem ganzen Trubel und sah mit neugierigen Augen auf das Geschehen. Das war das erste, was ihm auffiel, der wache, neugierige Blick. Offenbar war das alles für sie neu. Er starrte sie dermaßen unverschämt an, dass sie es bemerkte und ihre Augen nun auf ihn richtete. Als ihre Blicke sich trafen, errötete sie, schaute aber nicht weg. Es war wie ein Zwang. Er holte dem vorbei eilenden Kellner zwei Gläser Sekt vom Tablett und ging zu ihr hinüber. Sie nahm ihm mit größter Selbstverständlichkeit das Glas aus der Hand und trank es in einem Zug aus. Er tat es ihr nach. „Eigentlich müssten wir die Gläser nun über die Schulter werfen!“ Zum ersten Mal hörte er sie lachen.

„Weißt du, dass ich noch nie mit jemandem so viel gelacht habe wie mit dir? Weil es noch nie jemand so forciert hat?“ „ Dann lach doch noch mal für mich!“

Der Mann legte besitzergreifend die Hand auf ihre Schulter. „Na, Elinor, unterhältst du mal wieder den ganzen Laden?“ Die Stimme klang tadelnd. Das Strahlen in ihrem Gesicht erlosch schlagartig. Ein kurzer Blick, dann hing nur noch ihr Duft wie Nebel in der Luft.
Ein etwas geschwätziger Bekannter trat zu ihm. „Ah ja, da hat er die Frau auch mal mitgenommen, normalerweise hält er sie unter Verschluss.“ So erfuhr er ihren Namen.

„Sie werden sich nicht an mich erinnern können? Wir haben uns gestern auf der Vernissage zufällig getroffen.“
Sie konnte sich erinnern. Sie war sofort bereit, sich mit ihm zu verabreden, ohne gedrechselte Vorwände.
„Es ist ein bisschen komisch, aber ich freu mich drauf!“

Sie redeten und redeten. Er hatte den Eindruck, dass sich Schleusentore bei ihr öffneten und jahrzehntelang gestaute Wortkaskaden sich ihren Weg nach außen bahnten. Und immer wieder ihre Angst, sie könne zu viel reden, dummes Zeug sagen – der Tadel immer präsent in allem. Dennoch von Anfang an ein Urvertrauen, wie es nur unter sehr Vertrauten, lang Vertrauten, möglich ist.

„Wie kommt das, dass ich mit dir Dinge bespreche, die ich bisher niemandem gesagt hätte?“ „Weil du weißt, dass ich dich liebe!“

Das alte kleine Häuschen am Stadtrand hatte er sehr bald gefunden. Es war notwendig geworden, denn sie hatten einen Platz gebraucht, der ihnen allein zur Verfügung stand. Es wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, ihre Beziehung als Ehebruch anzusehen. Was ihnen da widerfuhr, konnte nichts Schlechtes sein. Es war so einmalig und großartig, die konsequente Umsetzung des Einsseins im Anderen, ein Geschenk des Schicksals – nichts anderes.

„Warum kann ich mich so in deine Liebe fallen lassen wie nie zuvor? Warum ist dasselbe plötzlich ganz anders?“ „Weil wir beide nur auf die Welt gekommen sind, um uns irgendwann zu finden!“
Und der Himmel wird eins mit der Erde, die Wasser fließen rückwärts und das Leben hält den Atem an.

Glückseligkeit um Zwei. Reden. Sich finden. Eins sein. Gestohlene Zeit, die verstreicht, verfliegt.
Katzenjammer um halb Acht. Ein Meer von Tränen. Sehnsucht, eben gestillt und doch unstillbar.
Rücksichten. Zwänge. Vernunft. Vernunft. Vernunft.
Umgeben von einem Meer von Tränen.
Aber notwendig.
„Nur so können wir unsere Liebe ungestört leben.“

„Liebster, ich weiß nicht – er ist so seltsam die letzten Wochen. Ob er etwas gemerkt hat?“ „Jetzt plötzlich? Wie sollte er?“

Aus dem Polizeibericht von POM Kneisel:
„Am Mittwoch, den 15. März 1997, gegen 14 Uhr fuhr der Landrover des A.M. langsam die Straßen am Stadtrand entlang. Es war offensichtlich, dass Herr A.M. etwas suchte. Bei der Hausnummer 17 schien er fündig geworden zu sein. Nachbarn berichteten später, dass eine männliche Person mit einem Kanister in der Hand das Haus betreten hätte.“

Zufällig standen sie am Fenster, als der Landrover in die Straße einbog. Im ersten Erschrecken krallte sie sich in seinem Pullover fest. Dann galt ihre Sorge nur noch ihm.
„Du musst hier weg, schnell! Ich schaffe das schon alleine. Was weiß er schon? Nichts. Also los jetzt, weg mit dir!“
Wie ein Idiot war er auf das Dach geklettert. Was für eine entwürdigende Situation! Er sah schon die Schlagzeile vor sich: Chefarzt rettet sich vor blindwütigem Ehemann! Irene würde toben und ihr Renommee beschädigt sehen.
Er hörte nach unten. Nichts. Keine Stimmen, wie auch immer - wütend, tobend, besänftigend. Dann die Flammen, das Bersten von Glas. Elinors geliebter Ofen spie seinen dunklen Rauch aus, der sich mit dem anderen vermischte. Todbringende, dicke, dunkle Wolken dreckig aussehenden Rauches, die ihn in die Flucht schlugen.

„Niemals, so lange ich lebe, werde ich aufhören, dich zu lieben.“ „Ich weiß, mein Liebster.“

Elinor. Seine Elinor. Sie war in diesem Haus! Wie von Furien gehetzt rannte er die Straße zurück. Irene würde heute umsonst auf seinen Anruf warten.

„Weißt du, sie können uns nur das abverlangen, was wir zulassen, Liebster. Es liegt an uns, zu ändern, was uns wichtig ist!“

Gestohlene Zeit, geschenktes Glück. Jeden Mittwoch von Zwei bis halb Acht. Dann der Katzenjammer. Bis nächsten Mittwoch um Zwei. Was hatten sie sich da abverlangt?

Er stürzte sich in die Flammen, kämpfte sich die Treppe hinauf bis in das Schlafzimmer. Sie lag auf dem Bett. Blut tropfte aus der Wunde in ihrer Brust und mischte sich mit dem Blut des Mannes, der erschossen neben ihr lag…

Letzte Aktualisierung: 22.02.2008 - 11.09 Uhr
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