Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Jeden Tag nach dem Mittagessen setzte sich Anna an den Flügel. Herzog lag vor ihr auf dem Boden, die Schnauze auf den Boden gepresst, die Augen erwartungsvoll auf sie gerichtet.
„HER-zog!“, sagte Anna. Der Hund richtete sich auf. Er war uralt, das ganze Gesicht war voll weißer Haare. Nun stellte er die Ohren auf und hechelte erwartungsvoll. „Mu-SIK“, rief Anna und drosch in die Tasten. Herzog legte den Kopf schief und heulte mit Begeisterung. „Huu-wu! Wu-wuu-u!“ „Juu-hu!“, schrie auch Anna. Ein paar Minuten amüsierten sie sich prachtvoll, dann ging die Klingel.
Die erste Schülerin heute war Frau Karl. Sie trug einen violetten Stoffturban, den sie auch zum Klavierspielen nicht abnahm. Mit gespreizten Ellbogen ging sie auf die Tasten los, als wollte sie Strudelteig aus ihnen formen.
„Terz“, sagte Anna. „Das ist eine Terz hier.“
„Ich habe eine Terz gespielt!“, entrüstete sich Frau Karl und schlug weiter auf die Tastatur.
„Hier steht kein Fis“, sagte Anna.
Frau Karl war beleidigt. „Das haben Sie mir letztes Mal aber anders gesagt!“
Als nächstes kam das Kind von Annas Nachbarin, ein achtjähriges Mädchen zu ihrer ersten Klavierstunde.
„Kennst du das?“ Anna begann zu spielen. „Na?“
Das Mädchen setzte sich kerzengerade hin. „Hänschen Klein“, sagte es todernst.
„Sag mal – geht der Ton hier rauf oder runter?“
Die Schülerin lauschte. „Runter“.
„Jetzt schau, wohin meine Hände gehen! Nach unten? Gut! Und nun leg deine dahin!“
Als das Kind eine Tonleiter gespielt hatte, lachte es verblüfft.
Alfred kam früher heim als sonst. „Anna“, stöhnte er, „ich bin in einem entsetzlichen Zustand! Bea hat sich verliebt. In einen – Countrysänger!“ Ächzend ließ er sich aufs Bett fallen. „Das sind diese Typen mit Cowboystiefeln und weißen Haaren. Ich halte das nicht aus. Mein Hä- mein Häärz!“ Er griff sich mit der Hand an die linke Brustseite.
Herzog, der die Silbe missverstanden hatte, setzte sich aufrecht hin und begann erfreut zu hecheln.
„Ein Amerikaner“, wimmerte Alfred und wälzte sich hin und her. „Was? Nein, ich meine, ja – er lebt in Colorado. Sie sagt, dass sie ... das hätte ich nie – nie -!“ Wieder stöhnte er auf.
„Will Bea denn nach Amerika ziehen?“, fragte Anna verwirrt.
„Nein, nein. Sie hat ihn hier getroffen auf einem Festival. Und...“, aus den Kissen drangen Schluchzgeräusche, „sie sagt, dass sie an ihn denkt. Und wenn ich mir denke, dass sie – an einen anderen denkt– ! Haben wir Valium im Haus?“
So begann Alfreds Leidenszeit. Er meldete sich krank, blieb den ganzen Tag im Bett, auch die Besuche bei seiner Mutter unterblieben. Stattdessen erschien die nun an seinem Lager. War sie gegangen, rief der Patient nach Anna. Er brauchte Wärmflaschen, Tee mit Rum, Zwieback, Bananen. Vor allem brauchte er Ruhe. Herzog hatte seine Schnauze zu halten. Wenn Annas Schüler übten, gesellte sich lautes Jammern aus dem Schlafzimmer dazu. „Ääh“ war zu hören. Oder rief er „Mein Häärz“? Es klang genau wie bei Mozart.
Nach zehn Tagen suchte Anna Beas Adresse aus dem Telefonbuch und marschierte zu ihr. „Das geht so nicht weiter“, erklärte sie, kaum, dass sie bei der anderen eingetreten war. „Hör auf damit, ihm zu sagen, dass du den anderen liebst!“
„Wo denkst du hin?“, sagte Bea würdevoll. Sie war korpulent, hatte ein fettglänzendes, helles Gesicht und schwarzes Pagenhaar. Ein bisschen wirkte sie wie eine zu groß gewordene Japanerin. „Ich kann doch nicht lügen! Meine Integrität steht auf dem Spiel!“
„Falsch“, sagte Anna, „Sein Leben steht auf dem Spiel. Er hat ein schwaches Herz, sogar bei einem Hauskonzert kommt er fast um vor Aufregung!“
„Also Fred und ich – es hieß immer, dass wir unsere Freiheit respektieren. Und dass Platz genug in seinem Herzen ist für... Erst seit ich ihm von Mike erzählt habe, will er plötzlich nur noch mich und kann ohne mich nicht leben! Und überhaupt - was soll ich denn tun? Ich meine, ich habe den anderen ja nur einmal aus der Ferne gesehen. Was? Nein, nein, wir kennen uns nicht!“
Auf dem Nachhauseweg begegnete Anna dem Pianisten Felix B. Sie wechselten ein paar Worte. Felix war bekannt für seinen klassisch strengen Stil. Anna spielte ganz anders. Alle machten das gleiche, dachte Anna, und doch wieder nicht: Da spielte eine ein Fis statt eines F und merkte es nicht, eine andere spitzte die Ohren. Herzog sang, ohne Noten zu kennen, Alfred auch. Manche hatten ein starkes Herz, andere nicht.
Alfred lag im Bett, das Gesicht zur Wand. Anna trat ans Fenster. „Schau, es ist Frühling! Weißt du was? Ich hab den Felix B. getroffen. Nach so langer Zeit! Ob das Zufall war?“ Sie summte die Takte aus Taminos Arie: „...dies Götterbild, mein Herz mit neuer Regung füllt.“
Alfred wandte sich um, sachte zog Empörung in seinen Blick, verdrängte die Qual darin und passte gar nicht zu seinem zerdrückten, blauen Pyjama.
Letzte Aktualisierung: 22.02.2008 - 11.17 Uhr Dieser Text enthält 10421 Zeichen.