Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Februar 2008
martin
von Cornelius Zimmermann

er hörte das knallartige geräusch, gerade als er, von süden kommend, die apulische küstenstraße nach norden fuhr und seine augen mit der türkisenen farbe des spätsommerlichen meeres vollsaugte. er hatte schon immer mit einem solchen vorfall gerechnet, ohne vorkehrungen irgendeiner art zu treffen. er hasste sicherheitsvorkehrungen. das leben konnte ohnehin nicht sicher gemacht werden. also war er in die südlichste spitze italienes gefahren, an castel monte vorbei, hatte die sanfte luft des südlichen mittelmeeres durch das geöffnete dach seines schon betagten käfers einströmen lassen, sich an den alten knorrigen olivenbäumen und den in unendliche weiten sich erstreckenden weinhängen kaum satt sehen können. warum also sicherheiten, wenn es solche olivenbäume gab, die mit hilfe der für sie typischen krankheit die knorrig-gedrehte struktur ihrer stämme entwickelten, die sie 1000 ehrwürdige jahre an ihrem platz stehen und die öl spendenden früchte reifen ließ.
er wusste im moment des geräusches, dass es der keilriemen war, der da gerissen war. er hatte nicht nur den knall gehört, sondern auch ein sich daran anschließendes flappendes geräusch: die reste des riemens schlugen irgendwo an, wie um ihren schmerz auf diese weise zu bekunden. martin ließ seinen käfer am rande der schmalen straße ausrollen und setzte er sich erst einmal auf einen aus der erde wuchernden felsen, steckte sich eine gitanes an und sah durch die dünnen rauchfahnen hindurch über die zum meer hin abfallende landschaft, felsig, karg: hier ohne oliven, ohne wein, nur ein paar ziegen hörte martin bimmeln, sah sie aber nicht, und der gedanke fuhr ihm durch den kopf, dass hier eben doch nicht das paradies sei, wenn man überdies mit einem solchen knall landete, und ein paradies ohne oliven, ohne wein – wer konnte sich das vorstellen?
er erhob sich also noch einmal, zog eine angebrochene flasche chianti aus dem käfer, der ausgeschnauft hatte und still vor sich hinstand und einen enttäuschten eindruck machte, weil es nichts zu tun gab: außer am rande einer schmalen meeruferstraße zu stehen und auf die operation zu warten, die ihn wieder flott machen würde, wenn sie denn überhaupt vollzogen werden würde. stille, ein rieseln in den felsen, zwanzig verronnene minuten, der atmende rhythmus der meereswellen drang zu martin herauf, er sog die salzige luft ein wie den scharfen rauch seiner zigarette. er nahm einen weiteren schluck, der seinen mund mit einem leicht metallischen geschmack austapezierte. dann wieder ein bimmeln, in das sich ein tiefgründigeres bimmeln einer einzelnen glocke mischte, die von einem maultier kam, das martin auf einmal, als er den kopf nach links hinten wandte, in sein gesichtsfeld eintreten sah wie etwas unerwartetes, auf das man dennoch gewartet hat. das maultier und vor allem die zierliche reiterin, die auf ihm saß, kamen heran, zielgerichtet auf martin zu, so als hätte der knall des zerreißenden keilriemens ihnen ein startzeichen gegeben, sich in bewegung zu setzen und genau zu diesem punkt irgendwo im apulischen süden zu kommen, wo sie erwartet wurden, ohne dass der wartende eine chance gehabt hätte, sich darüber bewusst zu werden, dass er gewartet hatte: ganze zwanzig minuten lang, gewartet auf eine junge zierliche frau, von der er jetzt noch nicht wusste, dass sie auf den namen rosetta hörte, den sie ihm erst eine ganze weile später anvertraute. da hatte sie ihm allerdings schon ihre lippen anvertraut, ihre kleinen brüste anvertraut, die eher zu einem 15-jährigen mädchen gehörten, ihren energiebebenden körper anvertraut und martin in eine glückshungrige besinnungslosigkeit hineingezogen, dass ihm das wort paradies gar nicht ins bewusstsein gelangen musste, weil er es auch ohnedies mit allen fasern seines seins spürte und willkommen hieß.
tschüss, mein alter, hatte er zu seinem käfer gesagt, hatte einiges gepäck geschultert und war dann mit der für ihn noch namenlosen rosetta den trampelpfad in richtung des landesinneren hinterhergeschritten, auf dem sie vor kurzem gekommen war. ein wirbelndes schäferhundchen gesellte sich zu ihnen, motetta mit namen, ziegen standen am wege und rupften das schon spätsommerlich magere gras, und die junge zierliche frau erklärte martin, der auch dieses südischen dialekts mächtig genug war, dass sie ziegenhirtin sei, alleine in einem kleinen steinhäuschen und von ihren ziegen lebe und sich darauf freue, in ihrer stadtfernen einsamkeit einmal einen besucher zu haben. wie sie erspürt habe, dass martin gezwungen war, am straßenrand zu halten, sagte sie nicht und martin fragte auch nicht.
martin war vom ersten moment an eingewoben in ein zaubernetz, dessen fäden er nicht sah, aber um so deutlicher spürte. die sanfte und gleichzeitig rauhe stimme der jungen frau garnte sich schmeichelnd um ihn, die art, wie sie auf dem tier saß, lässig und doch grazil, ihre tiefschwarzen haare, ihr ausdrucksvolles gesicht, ihre klaren augen mit einem leichten grünstich in der iris. die fädchen wurden zu fesseln und der gefangene martin ging hinter dem maultier her, auf dem die schönste frau saß, die er in seinem leben gesehen hatte.
erst am dritten tag, da er schon ihre liebe empfangen hatte, erfuhr er ihren namen: rosetta. rosetta war aus ihrem elternhaus geflohen; der vater – ein primitiver, gewalttätiger bauernschädel; weiter gehende übergriffe hatte ihm rosetta kraftvoll verwehren können. ihre mutter, ausgezehrt vom anstrengenden leben in den weinfeldern und konnte oder wollte ihrer tochter keinen beistand leisten. rosetta war vielleicht 16 oder 17 jahre alt, als sie die eltern verließ, das verlassene häuschen ausfindig machte, einige ziegen aus der elterlichen herde abzweigte und sich in ein bukolisches leben zurückzog, an dem jetzt der gefangene martin seinen anteil haben sollte.
die zeiger des naturzyklus drehten sich langsam, sie hatte sich sich vielleicht zweimal zur gänze gerundet, dass martin sich immer noch in dem brausen eines so noch nicht erlebten glücks an der seite rosettas vorfand. er ging ihr zur hand, sie arbeiteten hart, um ihr weniges zu erwirtschaften, die nächte an rosettas seite, die die sonne des tages in sich aufnahm, um sie nachts in erotischer glut wieder abzustrahlen, nahmen kein ende und martin spürte nicht, dass er kaum des schlafes genoss, so viel kraft gab ihm die liebe der zierlichen, grünäugigen rosetta. martin, der immer etwas kränklich gewesen war, erblühte in einer geradezu robusten gesundheit; er brauchte keine medizin, keine apotheke, keinen arzt. sein immunsystem reifte wie herbstliches getreide und wurde zu gold; sein blick gewann an kraft, seine haut an bäuerlichkeit.
rosetta erzählte ihm manches. sie erzählte über ihren strupphaarigen vater, der sich nachts an ihr lager geschlichen hatte, der abends am niedrigen holztisch in der küche gesessen und die suppe geschlürft hatte, ein geräusch, das rosetta ziehend durch alle glieder ging. am schlimmsten aber war ihr, wenn der vater sich mit den knotigen fingern in die nase stieß und die staubgefüllten löcher freipopelte und die getrockneten rotzbröckchen genussvoll zwischen den lippen hin- und herschob. mordgedanken flammten in rosetta auf, wenn sie den vater so sah und sah, wie auch die mutter, gebückt sitzend, ihren mann schreckensvoll beobachtete.
mach das nicht noch einmal, fuhr sie martin an, als dieser einmal nichtsahnend mit dem zeigefinger seiner rechten hand in eines seiner nasenlöcher gefahren war. mach das nicht noch einmal. ich ertrage das nicht. du weißt, warum. martin fuhr zusammen. rosettas worte hatten wie ein peitschenknall geklungen. über ihr gesicht war eine drohende röte geflammt, und martin glaubte gesehen zu haben, wie sie ihr rechter arm sich um ein weniges angehoben hatte. vielleicht hatte er sich das nur eingebildet. rosetta aber war in der nächsten zeit zärtlich wie nie zuvor. ihre körper verschmolzen nacht für nacht und ihr glück hätte nie zuende gehen müssen, wenn nicht...
wenn nicht.... der juckreiz war unwiderstehlich gewesen! merkt man in einer solchen situation, dass man sich an die nase greift und den finger ganz schnell und verstohlen an den mund zu führt. martin merkte es erst, als er der sich weitenden augen rosettas gewärtig wurde; ein feuerkreis begann sich zu drehen und ihr flammender hass ging wie eine feuerwalze über ihn hin. rosettas rechter arm hob sich, in ihrer hand führte sie den dolch, der immer in ihrem gürtel steckte. martin taumelte von seinem stuhl hoch, der erste stich rosettas verfehlte ihn, der zweite erwischte ihn, wenn auch nicht mehr in der vollen kraft des stoßes, im rücken; er torkelte entsetzt aus dem kleinen haus ins freie, griff sich an die wunde, die er nass unter den fingern spürte, und da wusste er auf einmal mit der klarheit dessen, der die liebe so klar erlebt hat wie den hass, dass seines bleibens nicht länger sei.
sein käfer stand immer noch dort, wo er ihn stehen gelassen hatte. er wickelte sein halstuch um die beiden keilriemenräder und knotete es fest, aber er war nicht verwundert, dass der motor nicht startete. also warf er einen letzten blick auf den pfad, den rosetta damals auf dem rücken des maultieres zu ihm gekommen war, um ihm das glück zu bringen. aber er wusste ja, dass es keine sicherheit gab, also gab er dem käfer einen letzten, blechern klingenden klapps und machte sich zu fuß auf den weg nach norden.

Letzte Aktualisierung: 18.02.2008 - 11.21 Uhr
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