Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten- Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er sie kennen gelernt hatte. Aber er erinnerte sich daran, dass sie sehr schüchtern auf ihn wirkte. Denn als er sie ansah, war sie ihm ausgewichen. Einige Zeit später erst kam sie ihm allmählich entgegen und öffnete sich ihm.
Heute waren sie nun schon fünf Jahre zusammen, hatten sich auch in der gemeinsamen Wohnung zusammen gerauft. Anfangs war es zu kleinen Machtkämpfen gekommen, die aber auch schnell ausgelebt waren. Sie hatten sich fast von selbst erledigt und man hatte zu einem trauten Zusammenleben gefunden.
Heute erst nach all den Jahren war es nun zu diesem einen, ersten Kuss gekommen. Ein Kuss, zwar in Freundschaft, aber ein Kuss. Er hatte ihr wieder einmal tief in ihre sanften Augen gesehen, ihre Wangen mit seinen Händen gehalten und ihr dann einen sanften Kuss auf ihre Stirn gehaucht. Sie hatte ihn ebenfalls angesehen, aufmerksam, fast ein wenig fragend und sich den Kopf ohne Wehr führen lassen.
Nun lagen sie beide hier und träumten vor sich hin. Träumten von ihrer gemeinsamen Zeit und davon , was sie gerne mochten, gerne aßen, gerne fühlten.
Er dachte daran, wie er mit ihr, auf den von ihr so beliebten Sparziergängen unterwegs war und sie einmütig nebeneinander gingen. Manchmal kein Wort dabei sagend, einfach nur schweigend und einträchtig liefen und lauschten, in die schöne Natur um sie herum. Wie und was er dann fühlte, war schwer zu beschreiben. Er fühlte sich ihr dann nah und machte wieder und wieder herzerweiternde tiefe Atemzüge, sich an der Schönheit der Situation erfreuend, diese bewusst genießend. Er liebte sie. Das wusste er , das empfand er auch.
Wenn er sie ansah, sah er in rehbraune Augen, in die er lange und tief blicken konnte. Sie hielt seinem Blick gerne stand, denn sie sah auch in Augen, die ihr angenehm waren.
Ihre dunklen Haare sind hell gesträhnt. Sie hat kräftige Haare, die sie einfach und natürlich trug. Sie kann viel ausdrücken, ohne etwas zu sagen. Sie guckt einfach mit einem Nachdruck, der keinen Zweifel lässt. Sie kann fordernd sein, aber meistens ist sie eine ruhige Lebensgefährtin.
All das genoss er sehr. Diese Eintracht war unbeschreiblich und er kannte so etwas vorher einfach nicht.
Ihre langen Beine sah er gern und ertappte sich auch immer wieder, dass er ihren federnden Gang bewunderte. Ob das auch anderen Menschen auffiel, fragte er sich oft?
Sie war außergewöhnlich sportlich, manchmal trieb sie ihn zu einem kurzen Spurt an oder sprang elegant über umgestürzte Bäume, was er sich nicht zutraute. Dann stand sie auf der anderen Seite und sah ihn leicht ungläubig, ob seiner Vorsicht, an. Aber nie ein Vorwurf, sie akzeptierte einfach, dass er anders war, dass er nicht so sportlich sein konnte wie sie.
Und dann diese Eifersucht, die sie manchmal zeigte. Wie sie manchmal andere weibliche Wesen maß und fast angriffslustig auf sie zu ging. Man konnte annehmen, dass sie kein weiteres weibliches Wesen in seiner Nähe hätte dulden wollen. Oder bildete er sich das nur ein? War das nicht doch ein Beweis dafür, dass es ihr so gehen musste, wie ihm? Hatte sie auch eine große Zuneigung für ihn? Darüber wussten sie nichts, obwohl sie nun schon Jahre zusammen lebten. Er konnte einfach nicht darüber reden mit ihr und wollte das auch eigentlich nicht.
Wenn er manchmal in sehr vertraulichen Situationen ihren Kopf mit beiden Händen hielt und ihr über die Augenbrauen strich und dabei zärtlich und tief in ihre Augen sah, war nie mehr passiert. Das stand nicht zur Diskussion. Das Verständnis der Beiden beruhte auf einer unausgesprochenen Zuneigung zwischen ihnen.
Und nun war es heute zu diesem einen, unverdorbenen, fast jungfräulichen Kuss gekommen, deren Bedeutung sicher Beiden im Kopf wirre Gedanken auftrieb.
Auftrieb wie ein morastiger Seeboden, das Wasser trübte, wenn man es durchschritt.
Und wenn er ihr dann durch ihr Haar strich und dieses sehr gerne berührte, dachte er nicht bewusst daran. Nicht daran, dass diese Berührungen in anderem Zusammenhang, anderer Bedeutung waren. Sie verletzten nicht die Unschuld dieser besonderen Gemeinschaft zwischen den Beiden.
Manchmal, wenn sie Beide da so vor der Couch lagen, er sie in seine Arme nahm und hielt, hatte es bisher auch keiner Worte bedurft, die erklärten, was gar nicht in Frage gestellt wurde. Sie genossen ihre Nähe, ihre Körperwärme. Sie lauschten ihren Atemgeräuschen und entspannten total. Eine Atmosphäre totalen Vertrauens lag zwischen ihnen. Es entstanden keine Ansprüche, keine Erwartungen an irgend etwas, was dazu in der Lage gewesen wäre, zu enttäuschen und zu verletzen.
Ihre Ohren kitzelten dann seine Wange und die Welt war in Ordnung. Manchmal dachte er dann, wie lange wird dieses Verhältnis andauern können? Muss es nicht irgendwann einmal zu Ende sein? Kann er diese Zeit irgendwie verlängern, die Zeit der Zweisamkeit?
Eine Entzweiung wollte er sich nicht vorstellen, er wurde traurig. Wenn er sich einen Abschied für immer vorstellte, kamen ihm sogar die Tränen.
Nie hätte er geglaubt, dass diese Freundschaft ihm so viel bedeuten könnte.
Jetzt lag er mit seinem rechten Ohr auf ihrem warmen und festen Bauch und lauschte auf die leisen kollernden Geräusche, die hin und wieder aus dem Inneren drangen. Er überlegte, ob ihr sein Kopf zu schwer werden könnte und genoss die Wärme ihres Körpers an seinem Ohr.
Sie schien zu schlafen, war in dieser Lage einfach eingeschlafen. Er amüsierte sich über diese Kombination von leisen Verdauungsgeräuschen ihres Bauches und seinen eigenen wirren Gedanken, die an Arbeit und Alltag dachten.
Er dachte an die Zeit , die so unerbärmlich ihres Weges schritt. Die Zeit, die sich durch nichts aufhalten ließ. Er dachte dabei an ein Zahnradgetriebe, dass knirschend unaufhaltsam sich vorwärts bewegte. Zahn für Zahn griff es in die nächste Führung und drehte die Apparatur ohne jeden Zweifel weiter. Bei solch einer Maschine könnte man vielleicht etwas zwischen die Zähne klemmen, eine starke Bohle oder eine Eisenstange, wie es in manchem Abenteuer- oder Actionfilm zu sehen war. Aber die Zahngetriebe der Zeit würden die stärksten Holzbalken zermalmen und sich erbarmungslos weiter drehen. Es gibt in diesem Leben einfach nichts, was dieses Zahngestänge aufhalten könnte. Sie drehen sich Jahre, Jahrhunderte auch noch, wenn niemand an ihn hier und sie, ihren Bauch und dessen zärtliche Glucksgeräusche denken würde. Ja selbst, wenn es keine Säugetiere mehr auf der Welt gäbe, würde sich das Getriebe der Zeit ächzend, nie rostend, weiter bewegen. Er war kurz eingeschlafen und schreckte wieder hoch.
Er hörte ihr schweres Atmen des Schlafes. Er strich ihr zärtlich über die Wange.
Aber warum machte er sich diese krausen Gedanken? Weil er genau wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Sie war es, die nach den Regeln der Physiologie der Körper früher als er sterben musste. Sie, die er so liebte, in dieser schönen platonischen, zu nichts verpflichtenden Art. Sie, die ihm so tief in die Augen sehen konnte und ständig seine Nähe suchte. Sie, mit der sanften empfindlichen und eigentlich sehr großen Nase. Die, die immer Zeit für ihn hatte und nie böse war, wenn er sie mit seinen Gefühlen überfiel oder aus dem Schlaf neckte. Sie, die ihm bei allen Ausführungen, egal ob sinnig oder nicht, zuhörte und aussprechen lies. Nie hatte sie widersprochen. Er kitzelte jetzt ihren Bauch, zog an ihren Zehen, streichelte sie zwischen ihren Schenkeln bis sie endlich wach war und ihn anblinzelte und zärtlich seine Hand leckte.
Sie, seine fünfjährige Jagdhündin „Cleo“.
Letzte Aktualisierung: 16.02.2008 - 16.58 Uhr Dieser Text enthält 7617 Zeichen.