Futter für die Bestie
Futter für die Bestie
Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Februar 2008
Was heißt denn hier Liebe?
von Johanna Wering

Der alte Mann im Rollstuhl öffnete Swetlana die Tür. Sein Mund war ein bitterer Strich.
Post. Ole deutete mit dem Kopf zum Wohnzimmer. Er war also da, der Brief, den sie befürchtet hatte. Schluss, aus, Ende. Keine Aufenthaltsgenehmigung, ab nach Russland.

Sie nahm den Brief vom einzigen Sessel im Wohnzimmer und fing an zu lesen.
.. angesichts des Altersunterschieds von 51 Jahren um eine Scheinehe zwischen objektiv inadäquaten Ehepartnern handeln, geschlossen zum Zweck der Erlangung einer Aufenthaltsberechtigung für die Ehefrau. ...Gelegenheit, Bedenken anlässlich eines Hausbesuchs auszuräumen. Sofern Sie nicht bereit sind ... mit sofortiger Abschiebung der Ehefrau rechnen.

Swetlana setzte sich hin und schloss die Augen, fühlte Oles Hand auf ihrem Knie und zuckte zurück. Als sie seine verschreckten Augen im faltigen Gesicht sah, versuchte sie ein tapferes Lächeln. Sie starrte aus dem Fenster auf die Straße. In einem Kleinwagen saß ein Mann und las Zeitung, ein Hund trottete vorbei, hob das Bein an der niedrigen Ligusterhecke. So ging es also zu Ende. Keine Hausarbeit mehr bei Ole, keine Uni mehr, und Xenia durfte ihr Zimmer im Studentenwohnheim bald wieder allein bewohnen. Ab in die Tundra.

Ole fühlte sich hilflos, als er die Tränen sah, die über das junge runde Gesicht rannen. Sie war keine Schönheit, sie war nicht flott, kam aber seit zwei Monaten treu jeden Tag und er mochte ihre stille Art, ihre großen Augen, auch wenn sie diesen hässlichen braunen Lidschatten benutzte. Er reichte ihr ein Taschentuch.
Die Kaninchen müssen noch gefüttert werden.

Sie hatte ihm zwei Zwergkaninchen geschenkt, wohl eher sich selbst als ihm. Er mochte keine Haustiere. Tiere machten Arbeit und das Leben im Rollstuhl war auch so umständlich genug. Für Krücken war er zu alt gewesen, als er bei einem Arbeitsunfall beide Beine verloren hatte. Doch Mädchen mögen Kaninchen und Swetlana war erst 21. Der Standesbeamter hatte das ungleiche Paar getraut und viel Glück gewünscht. Keine Ringe, keinen Kuss, doch die Beamten waren viel zu beschäftigt gewesen, ihn samt Rollstuhl über alle Türschwellen und Treppen zu heben, als dass sie auf die Zeremonie Acht gegeben hätten. Swetlanas Freundin Xenia und Oles ehemalige Putzfrau waren die Trauzeugen. Er hatte nicht gewusst, wen er sonst hätte fragen können.

Am nächsten Tag bemerkte Swetlana beim Fensterputzen, dass der Mann im Auto noch immer Zeitung las. Sie sprang von der Fensterbank und duckte sich. Ole schaute vom PC hoch und folgte mit den Augen ihren Finger, der aufs Fenster zeigte. Er rollte heran.
KGB , flüsterte Swetlana und schien zu schrumpfen.
Quatsch, wir leben hier in einem Rechtsstaat! Warum soll der Mann nicht im Auto lesen? Du guckst zu viele Filme.
Der Mann im Auto biss in einen Apfel, nahm ein Klemmbrett vom Beifahrersitz und schrieb.
KGB oder Ausländeramt, zischte Swetlana. Er wartet, bis ich rauskomme, dann schleppt er mich zum Flughafen. Ich gehe nicht raus, ich bleibe heute nacht hier.
Nein! Er erschrak, so unfreundlich hatte er es nicht gemeint, doch der Gedanke, dass sie über Nacht bleiben könnte, war ihm unerträglich.
Ihre Zähne klapperten.
Keine Angst! Schau, jetzt liest er wieder. Ich frage mal. Er wendete, rollte aus dem Zimmer, aus dem Haus zum Kleinwagen. Noch bevor er ans Fenster ticken konnte, warf der Fahrer die Zeitung auf den Beifahrersitz, ließ den Motor aufheulen und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Faschisten! brüllte Ole hinterher. Als das Auto verschwunden war, sackte er zitternd in sich zusammen, schwitzte und stank. Auch als er Swetlanas Fußtritt auf das Pflaster hörte, schaute er nicht hoch. Sie schob ihn zurück ins Haus.

Lux, Ausländeramt. Sie streckte die Hand aus. Der Mann im Rollstuhl erwiderte den Druck nicht, wie Wasser glitten seine Finger aus ihrer Hand. Ohne Kraft und Widerstand, nicht gerade zum Verlieben. Mager und kraftlos. Wenigstens roch er gut. Auch die Russin zog schnell die Hand zurück und schaute sie nicht an. Ein reizendes Paar.
Dann wollen wir mal. Fangen wir mit dem Wohnzimmer an. Das Zimmer war fast leer, das Parkett glänzte honigfarben und genügte sich selbst. Ein großer Sessel in der Mitte, an den Wänden rings herum Regale mit Büchern, CDs, einen PC-Platz und das Telefon. Sie fing immer mit dem Telefon an. Hier waren nur zwei Nummern gespeichert, Arzt, Nachbar.
Keine Nummern von Freundinnen oder Kommilitonen? Die junge Russin starrte sie wortlos mit großen runden Augen an und klammerte sich mit einer Hand am Türpfosten fest, als müsse sie sich selbst am Weglaufen hindern. Die freie Hand wickelte eine Haarsträhne um die Finger. Sie hatte langes braunes Haar, das sich willig wickeln ließ.

Eva Lux setzte sich auf den großen Sessel in der Mitte des Raumes und schaute sich um.
Stereopunkt , sagte der Alte so plötzlich, dass sie erschrak. Es war so still im Raum gewesen. Jetzt erst sah sie die Lautsprecher im Regal. Sie stand auf. Die Namen auf den CDs sagten ihr nichts.
Free jazz , sagte der Alte. Der jungen Frau schien dieser besonderen Musikgeschmack nicht zu stören: sie stand ausdruckslos an der Tür und flocht Haarkringel.
Englische Informatikbücher. Stand nicht in der Akte, dass die Russin Geschichte studierte?
Haben Sie hier einen Arbeitsplatz?
Keine Antwort. Die Russin kringelte ihre Haarlocke, schien sie nicht einmal wahrzunehmen.

In der Küche gab es keine Hängeschränke, logisch. Der Alte wäre ja nicht ran gekommen.
Da essen Sie? Sie deutete auf den Resopaltisch, an dem nur ein Stuhl stand. Keine Antwort. Na, in dieser Hinsicht passten sie gut zueinander. Große Redner waren es beide nicht. Sie öffnete wahllos Schubladen, sichtete Teller, Tassen. In der Besteckschublade lagen zwei Damastservietten in Silberringen, hübsch und altmodisch, eins mit einem Edelweiß, eins mit einem Segelboot. Benutzt, aber noch gut genug für die nächste Mahlzeit. Nun gut, aßen sie also abends zusammen. Morgens und mittags war sie ja nicht da, hatte der Detektiv festgestellt, und auch, dass die Russin keinen Hausschlüssel hatte. Zwei Wochen hatte er das Haus beobachtet. Das würde eine fette Rechnung geben, aber es hatte sich ja gelohnt: Dies hier war keine Ehe.

Der Mann im Rollstuhl öffnete ihr mit solchem Nachdruck die Tür zum Schlafzimmer, dass sie wusste, hier hatte sich das sogenannte Ehepaar besonders viel Mühe gegeben. Stimmt. Das Bett war zwar schmal, aber es gab zwei Kopfkissen und auf jeder Seite des Bettes prangte ein Pyjama. Sogar Kondome in der Nachttischschublade.
Sie haben Geschlechtsverkehr miteinander?
Der Alte errötete tatsächlich und die Ausländerin schaute sie an, als ob sie doch kein Deutsch verstünde. Und so was Schlaues studierte hier auf unsere Kosten! Mit einem Ruck öffnete sie einen Kleiderschrank voller Männersachen. Von der Frau ein Kleid, eine Jeans, eine Jacke mit Kapuze und ein paar Sandaletten. Keine Wintersachen.
Sie hatte genug gesehen um den ablehnenden Bericht schreiben zu können. Keine Anhaltspunkte, dass die Russin hier in der Wohnung je für die Uni gearbeitet hatte, das Telefon nutzte oder hier eingezogen war.
Ich schaue mir noch das Bad an, dann bin ich fertig.

Erstaunt hielt sie inne, als sie das große rollstuhlgerechte Bad betrat. Zwei Zwergkaninchen stoben zum Rand, versteckten sich hinter die Kloschüssel. In der Ecke lag ein zusammengebrochenes Gehege, Heu und Kaninchenköttel überall. Die Russin drängelte sich vorbei und zog ein Kaninchen an den Ohren hinter dem Klo hervor, setzte es auf den Stummelbeinen des alten Mannes und hechtete hinter dem zweiten Kaninchen her, dass zum Schrank rannte und sich in den Spalt zwischen Schrank und Wand quetschen wollte.
Die sind aber süß! sagte Eva Lux.
Die junge Frau schützte das Kaninchen mit ihren Händen vor der Brust.
Keine Sorgen, ich werde sie nicht anfassen.
Schnell inspizierte Eva Lux noch den Inhalt eines roten Kulturbeutels. Cremes und Zahnbürste neu aus der Drogerie. Vor allem fehlte der braune Lidschatten, mit dem die junge Dame ihre Augen geschmückt hatte.
Sie verabschiedete sich von dem alten Mann im Rollstuhl und der jungen Frau, die neben ihm stand, beide starrten sie mit großen Augen an und streichelten die Kaninchen wie die Weltmeister.

Der Postbote kam gegen elf und brachte nichts Besonderes. Wie im Wartezimmer alle aufschauen und ausatmen, wenn ein fremder Name gerufen wird, sanken sie Tag für Tag weiter in sich zusammen. Sie aßen salzlose Nudeln und angebrannten Kohl. Er wollte das Mädchen, das täglich dünner wurde, trösten, sagte Sachen wie: Das hat sie nicht gemerkt, dass das Pyjama ganz neu war. Aber sie erschrak und weinte dann, als ob sie an diese Gefahr noch gar nicht bedacht hatte. So sagte er nichts mehr und lächelte ermutigend, wann immer er ihren fragenden Blick spürte. Aus dem Internet erfuhr er, dass er sich strafbar gemacht hatte und überlegte, ob Gefängnisse rollstuhlgerecht waren.

Der Brief war da. Plötzlich. Er legte ihn ungeöffnet auf den Tisch und umkreiste den Brief, bis sie kam.
Sie riss den Umschlag auf, setzte sich an den Küchentisch, überflog den Text. ... wurden die Vermutungen nicht bestätigt ... danken für die Mitarbeit.
Sie reichte Ole den Brief, sein Mund stand auf, sie roch seinen Atem.
Geschafft! flüsterte sie und kniete vor dem Rollstuhl. Geschafft! Sie weinte hemmungslos. Er streichelte ihr zittrig das Haar und las den Brief.

Und da wollten wir mal wissen...
Den Sinneswandel, so zu sagen , Gelächter kam aus dem Hörer.
Ole nickte. Ja , sagte er schnell, als ihm einfiel, dass der Sachbearbeiter ihn ja nicht sehen konnte.
Tja, wissen Sie, wir haben Ihren Fall lange beraten. Meine Kollegin fragte sich, ob gemeinsame Tierliebe als Basis einer Ehe genüge und da habe ich gesagt, ein gemeinsames Essen am Tag das ist mehr als in meiner Ehe passiert. Jetzt haben Sie es also amtlich, eine anerkannte Liebesheirat. Er lachte wieder.
Ole unterbrach die Verbindung. Es waren die Kaninchen , sagte er verwirrt zu Swetlana, die ihn gespannt anschaute. Bloß wegen der Kaninchen.

Letzte Aktualisierung: 17.02.2008 - 13.46 Uhr
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