Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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März 2008
Wer zu spät kommt ...
von Sabine Poethke

Ich komme oft zu spät.
Ich bin spät dran, muss mich beeilen. Verdammt, warum bin ich auch immer so oberflächlich, wenn es ums Pünktlichsein geht? Die berühmte Viertelstunde wurde vermutlich für mich erfunden. Nur würde die mir heute nichts nützen. Zu spät wäre zu spät.
Ich haste durch die Straßen.
Wieder schaue ich auf meine Taschenuhr. Auch das noch, sie ist stehengeblieben. Ich klopfe darauf. Fange an schneller zu laufen. Schweiß rinnt mir in den Nacken, Wasserperlen laufen über meine Stirn. Tropfen von meiner Nase. Ich wische. Noch zehn Minuten. Nur noch höchstens zehn Minuten.
Meine Hand greift in die Manteltasche, umschließt das Papier darin, hält es fest, befühlt es, drückt es. Ich zittere ein wenig. Bald beginnt ein neues Leben. Mein neues Leben. Wenn ich nicht zu spät komme. Warum bin ich nur so unpünktlich?
Aber, das war schon immer so. Ständig kam ich zu spät. Ich überschritt meinen Geburtstermin. Meine Mutter erzählte es oft lachend. Ich verschlief mein erstes Rendezvous. Verpasste die Abfahrt meines besten Freundes, als dieser in eine andere Stadt zog. Kam sogar zu spät zu Vaters Beerdigung vor zwei Jahren. Aber, es war nicht meine Schuld gewesen. Eine Parade zog durch die Stadt und ich starrte den Trommlern und den Berittenen hinterher. Sie trugen glänzende Uniformen. Fasziniert musste ich auf sie schauen.
Dieses Mal darf ich nicht zu spät kommen. Darf mich nicht ablenken lassen. Es ist doch meine Chance. Vielleicht die einzige, die sich mir je bieten wird, auf ein besseres Leben, auf überhaupt ein Leben!
„Entschuldigen Sie!“, rufe ich der alten Dame zu, die ich im Vorbeieilen anrempelte. „Tut mir leid … aber, ich muss mich beeilen!“
„Unverschämtheit!“, schreit sie mir hinterher. „Ja, ja, die Jugend von heute. Du dürftest nicht mein Sohn sein … Wenn du meiner wärst …“ Sie schwingt ihren Gehstock. Ihre Worte gehen hinter mir unter.
Ich laufe, renne, haste weiter. Jugend von heute, denke ich dabei. Ich bin siebzehn. Natürlich bin ich die Jugend von heute. Und ich bin ganz normal. Nur komme ich sicher zu spät. Die alte Dame ist sicher noch nie zu spät gekommen, und ihr Sohn auch nicht. Wieso denke ich jetzt an Mutter?
Sie wird traurig sein, wenn sie meinen Brief findet. Noch trauriger, wenn sie ihn gelesen hat. Sie wird allein zurückbleiben. Niemanden hat sie hier außer mir. Gut, unseren dicken Kater. Aber der ist alt und …
Wieviel Zeit wird mir noch bleiben? Fünf Minuten? Ich hätte wenigstens heute eher losgehen sollen.
Das Papier in meiner Tasche … Die Einladung von Henry Harris. Für mich. Sie brennt in meiner Hand.
In meinen kleinen Koffer habe ich alles eingepackt, was mir wichtig schien. Meine Noten, die alte Geige, Mutters weißen Kamm, den, mit dem sie mir die Haare striegelte, damit ich ordentlich aussah, wenn ich das Haus verließ. Jetzt fallen sie strähnig und verschwitzt in meine Stirn. Ich puste.
Verdammt! Wie weit ist es denn noch?
Autsch. Der Stein. Ich strauchle, kann mich gerade so abfangen. Falle nicht. Laufe weiter. Mein Knöchel schmerzt. Auch das noch. Ich muss weiter.
Da! Oh, nein. Ein tiefes Tuten ertönt. Wie aus einem Nebelhorn. Ich habe wirklich nicht mehr viel Zeit. Der Maestro wird schimpfen. Er wartet nicht gern. Schon gar nicht heute. Bestimmt nicht. Sonst auch nicht. Er zählt auf mich. Hat sich für mich eingesetzt. Will mir eine Zukunft ermöglichen. Er sagt, ich habe Talent. Großes. Viel Potential. Ich keuche.

„Tuuuuuuuuuuuuuuuuuuut“

Ãœberall Abschied um mich herum. Ich muss es schaffen. Wartet auf mich! Lasst mich durch!
Ich sehe ihn an der Reling stehen. Sein Mantel weht. Das Meer schaukelt. Das Schiff liegt wie ein riesiges Monster auf dem Wasser.
Sie holen den Steg ein.
„Halt!“, rufe ich, laufe, winke. Schreie mir die Lunge aus dem Leib.
Noch fünfzig Meter. Höchstens. Ich sehe den Maestro mit dem Kopf schütteln. Ich bin nur eine Minute zu spät. Das kann doch nicht wahr sein. Das darf nicht wahr sein!
„So wartet doch!“ Nur dieses eine Mal.
Harris schüttelt immer noch den Kopf.
Ich stehe am Kai, das Schiff entfernt sich Zentimeter um Zentimeter. Ich zerknülle den Zettel in meiner Manteltasche. Verpasst. Ich habe meine Chance verpasst. Ich sollte den Maestro begleiten, ins neue Land, in der neuen Welt. Er kennt die richtigen Leute. Wollte mich unterstützen. Mir Auftritte verschaffen. Da fahren sie dahin, meine Träume. Entfernten sich Meter um Meter. Ich drücke den Koffer an meine Brust, halte ihn mit einem Arm ganz fest. Streiche mir die verklebten Haare aus der Stirn. Meine Flüche gehen unter im Jubel der Menschen, die das Schiff und ihre Freunde, Familie, Bekannten verabschieden. Der Maestro zuckt mit den Schultern, hebt die Hände, schüttelt immer noch seinen Kopf und dreht sich weg. Geht langsam die Backbordseite entlang zum Bug. Zündet sich eine Zigarre an. Ich verliere ihn aus den Augen.
Ich kann unmöglich zurück zu Mutter. Ich habe ihr versprochen, dass ich sie nachhole, ihr dann ein besseres Leben bieten kann. Sie hat es verdient. Nein, ich gehe nicht nach Hause. Nicht heute. Mein Hals schmerzt. Mein Kopf glüht. Erst, wenn ich meine Dummheit gutgemacht habe und aus mir etwas geworden ist.
„Was wird jetzt?“, schreie ich. „Was soll ich denn nun tun?“ Verdammt, ich muss an meiner Pünktlichkeit arbeiten. Hätte ich nicht einfach zehn Minuten eher losgehen können? Nur zehn Minuten. Zehn Minuten für mein Leben?
Ich presse die Lippen zusammen. Da fährt sie dahin, meine Zukunft. Schifft weit weg, nach Amerika. Ohne mich.
Ich bleibe fassungslos zurück. Verpasst! Und es ist meine eigene Schuld. Ich stelle den alten, kleinen Koffer ab, lasse meine Arme hängen. Ja, wer zu spät kommt … den bestraft das Leben. Mir bleibt nur noch sein Empfehlungsschreiben. Damit werde ich mich bewerben. Schwacher Trost. Wird hart werden. Hoffentlich erzählt er niemanden von meiner Unpünktlichkeit. Ich schaue noch ein letztes Mal auf das Schiff, dann wende ich mich ab und gehe …

Die Titanic verlässt den Hafen.

Letzte Aktualisierung: 27.03.2008 - 20.01 Uhr
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