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März 2008
… noch zehn minuten … nur noch zehn minuten …
von Helga Rougui

…noch zehn minuten
ein dicker tropfen fiel auf ihren kugelschreiber
wie kam das
schwitzte sie etwa
es war doch gar nicht heiß hier im raum aber ihr war furchtbar warm
diese verflixte dritte aufgabe
nun hatte sie monatelang alles nur erdenkliche fütr ihr schlußexamen gelernt
das thema rauf und runter exerziert
und die beiden ersten teile waren schon schlecht gelaufen
und nun dieser entscheidende dritte teil
oh mein gott formeln regeln thesen formeln
sie hatte sich bemüht alles zu lesen und zu verstehen
immer aber war in einer kleinen ecke ihres gehirns ein leiser zweifel
ob sie das denn auch alles wirklich richtig lernte und verstand

sie schrieb einen halben satz
zögerte
las die aufgabe noch einmal durch
und stöhnte

da gab es kein vertun
sie verstand nicht einmal die aufgabe
diese so wenig wie die beiden anderen zuvor
eben waren es noch zehn minuten gewesen
nun war die frist bis zur abgabe beträchtlich geschrumpft
das hatte doch alles keinen zweck
erleuchtungen kamen immer nur im märchen

sie klickte den kuli aus
und lehnte sich zurück
vorbei
sie würde das abgeben was sie versucht hatte zu lösen
es ging ja hier schließlich nicht um leben und tod
bloß um ihre gesamte weitere existenz

…

… noch zehn minuten
dann wäre der kuchen fertig
ein schokoladenkuchen mit aprikosenfüllung
sie hatte ziemlich viele kochbücher gewälzt und beschlossen
daß sie mit diesem rezept vielleicht eine chance hätte

sie hatte sich minutiös an die angaben gehalten
denn sie wußte sehr genau daß sie ja eigentlich gar nicht backen konnte
aber der siebenundfünfzigste geburtstag ihrer allerbesten und ältesten freundin stand bevor
und die hatte sich diesmal einen selbstgebackenen kuchen gewünscht
nun ja
eigentlich hatte sie sich ihn nicht direkt gewünscht
sondern gesagt
ich esse ja eh keinen kuchen
kuchen mag ich gar nicht so gern
aber wenn
dann nur einen von dir

und die freundin lachte und war sich ziemlich sicher
daß sie nie einen kuchen der von ihr fabriziert worden wäre würde essen müssen
denn
wie gesagt
sie war des backens eigentlich unfähig

sicherheitshalber hatte sie den gedichtband besorgt
von dem die freundin letztens so geschwärmt hatte
und dann hatte sie sich ans backen begeben

die zeituhr am küchenherd zeigte das ende der backzeit an
die frist war beträchtlich geschrumpft
gleich war es soweit da kam der große moment
da würde der backofen den fertigen kuchen gebären

das telefon klingelte
sie nahm den hörer ab und meldete sich

schnappte nach luft

was
was ist passiert
oh gott o gott
in welchen krankenhaus
ja sicher
ich komme sofort

sie ließ den hörer achtlos fallen der neben die gabel rollte
ergriff ihre schlüssel
rannte raus ohne tasche und mantel
egal
scheiß auf den kuchen
es ging hier um leben und tod

…

… noch zehn minuten
dann würde sie ihn endlich wiedersehen

sie stand am kofferband und sah ihren koffer heranrollen
dann die paar schritte durch den zoll unnd hinaus aus dem flughafengebäude
die glastüren schoben sich auseinander
schwül drückende warm lastende luft süß duftend und staubig

der flughafen von casablanca

die sonne war bereits untergegangen und rote blüten leuchteten im halbdunkel
menschen liefen an ihr vorbei in mattweiß leuchtenden langen gewändern
riefen sich willkommensgrüße zu in guttural klingender sprache
umarmten sich und weinten
wie lange hatten sie sich nicht gesehen
was für eine freude war es sich wiederzufinden und das fest war bereitet

sie stellte ihren koffer ab und spähte in die dunkelheit
und versuchte in jeder der herannahenden gestalten ihren ehemann zu erkennen

sie hatte sich angestrengt sich „schön zu machen“
hatte ihre kleidung sorgfältig ausgewählt die ihr übergewicht kaschieren sollte
hatte sich eben noch einmal die nase gepudert
und zu hause noch hatte sie sich ohrlöcher schießen lassen für die ohrringe
die er ihr vor jahren geschenkt und die sie bis dahin nie getragen hatte

dankbar war sie für die abenddämmerung
hoffte sie doch die tatsache daß ihre sehr müden gesichtszüge
durch das halbdunkel weichgezeichnet würden
und momentan fühlte sie sich so passabel als es irgend möglich war

aber wo blieb er
es waren schon zehn minuten über der verabredeten zeit
sie bekam angst
was sollte sie tun wenn er nicht kam
sie war gekommen um gegen seine scheidungspläne zu kämpfen
aber dafür mußte sie ihn zumindest sehen und mit ihm sprechen
und nun kam er vielleicht nicht

plötzlich kam ein mann auf sie zu
sie erkannte ihn nicht
ach doch das war ihr schwager
wir suchen dich schon eine halbe stunde lang am anderen ausgang
er ist zum auto gegangen und hat mich geschickt dich zu holen

ihr wurde ganz zittrig
das war so anders als am anfang
nun kam er nicht mal mehr selbst
und ihr wurde klar was das bedeutete

die zehn minuten der ungewißheit waren vorüber
in denen ihre ehe den tod fand und ihr leben seinen sinn verlor

…

… noch zehn minuten
dann wären sie endlich im wagen
die fahrt würde sie durchs nächtliche paris führen

nach einem leichten abendessen in seiner suite
währenddessen sie immer wieder verstohlen den kostbaren diamantring betrachtet hatte
ein unterpfand seiner verehrung und liebe
würden sie jetzt zu seinem palais fahren
endlich allein
keine paparazzi keine reporter mehr
keine verfolgung kein blitzlichtgewitter
bei den gedanken daran hob sie unwillkürlich die hand und ordnete ihr haar
schmiegte sich dann wieder in den arm ihres dunkelhaarigen märchenprinzen

wer auch immer ihr dies hier nicht gönnen wollte
es war ihr egal
sie würde ihren prinzen lieben bis in alle ewigkeit

der fahrer hatte den wagen vorgefahren
die überwachungskamera warf einen letzten blick auf die beiden
wie sie den hintereingang verließen und ins auto stiegen

der fahrer gab zügig gas und schoß in einer rasanten kurve die auffahrt hinunter
um sich in den verkehr richtung pont de l’alma einzufädeln
sofort nahmen einige autos die verfolgung auf

die zehn minuten des wartens waren fast vorüber
gleich würde die ewigkeit beginnen

…

… noch zehn minuten
dann würde der zug kommen
dann könnte sie endlich weg

sie hatte schon seit längerem gemerkt daß sie es nicht mehr aushielt an diesem ort
immer häufiger und immer länger schmerzten ihre knochen
für ihre über neunzig jahre war sie zwar erstaunlich fit
immer noch relativ gut zu fuß und bis vor kurzem hatte sie alle einkäufe selbst erledigt

aber seit dem ereignis war ihr manchmal etwas wackelig
da war sie ganz froh wenn die nachbarin sie hin und wieder mitnahm
wenn sie selber zum einkaufen fuhr
sie selbst hätte nie darum gebeten
sie war immer allein zurechtgekommen und sie hatte ihren stolz

aber in letzter zeit ging es nicht mehr so recht
immer wenn sie daran dachte mußte sie wieder und wieder weinen und das machte sie ganz schwach
wie konnte gott es zulassen daß eine tochter vor ihrer mutter starb
und auf so schreckliche weise
es sollte verboten werden daß mütter ihre kinder sterben sehen müssen
und sie hatte auch noch weit weg in einer anderen stadt gelebt und erst ganz zum schluß hatte man sie ihre mutter geholt damit sie sich wenigstens noch verabschieden konnte
angeblich hatte man sie schonen wollen aber sie war fast verrückt geworden darüber
und
nichts konnte man ändern nichts
und man konnte nichts tun
außer hinzunehmen was kam

nun sie hatte jetzt genug
sie war nicht mehr bereit hinzunehmen
ihre letzten kräfte hatte sie zusammengekratzt und den weg hierher angetreten
es war nicht leicht gewesen denn es gab keinen richtigen pfad und sie hatte immer angst sie würde fallen und irgendwo mit gebrochenen beinen liegen und niemand würde sie finden
und so sollte es dann auch nicht sein
aber nun endlich war sie angekommen

noch zehn minuten
nein jetzt nur noch fünf
und der schnellzug würde pünktlich sein

sie rückte sich etwas auf den schienen zurecht
und gab auf

…

… noch zehn minuten
und es wäre endlich zehn vor acht

diesmal mußte sie einfach glück haben
diesmal waren es die richtigen zahlen das spürte sie
goldrichtig waren sie diesmal die zahlen
und sie brauchte das geld so dringend

sie träumte
was würde sie damit alles tun
zuerst einmal ihre schulden bezahlen
sie grinste
schon wegen dieser schulden brauchte sie unbedingt den hauptgewinn
denn es sollte ja schließlich auch noch was übrigbleiben für all die schönen dinge
die sie sich dann leichtsinnigerweise würde kaufen können
endlich keine sorgen mehr
keine knochenarbeit mehr nie nie mehr für andere leute schuften
endlich frei sein und für alle möglichkeiten offen

was so ein bißchen geld doch für einen unterschied machte
alle wünsche könnte sie sich erfüllen alle ohne ausnahme

diesmal mußte es einfach gelingen

die zehn minuten waren um
die zahlen waren gezogen
und
unglaublich
ihre zahlen waren allesamt dabei
die sechs richtigen alle und die zusatzzahl und die superzahl
und das spiel 77 und die supersechs beide zahlen in voller länge und zur gänze die richtigen

sie schrie sie jubelte sie weinte vor glück
sie würde in geld schwimmen
keine sorgen mehr nur spaß und freude ohne ende
laut lachte sie mit ihren millionen um die wette

tief in ihrer lunge lachte leise mit ihr ein zehn millimeter kleines knötchen
ich gebe dir
nicht zehn minuten
nicht zehn stunden
nicht zehn tage
nein
ich gebe dir zehn monate
bin ich nicht großzügig

…

das leben: … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten … noch zehn minuten …nur noch zehn minuten

Letzte Aktualisierung: 04.03.2008 - 08.52 Uhr
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