Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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März 2008
Heute Abend
von Anna Stern

Als seine Atemzüge gleichmäßig und tief wurden, flogen ihre Augen zum Radiowecker, der auf dem kleinen Nachtisch neben dem Bett stand. Im Display brannten rote Ziffern, und es dauerte einen Moment bis sich die Sinneseindrücke zu einem Begriff von Zeit geordnet hatten. 21:33.
Ab jetzt noch 10 Minuten.
Plötzlich war sie eine Uhr, deren Zahnräder durchdrehten, deren Zeiger aus dem Takt liefen, schneller und schneller. Sie bekam keine Luft mehr, ihr Herz überschlug sich; der Radiowecker wurde von einer Schwärze verschluckt, in der grelle Blitze tanzten.
In ihrem Kopf wiederholte sich nur ein Gedanke, laut, dröhnend: 10 Minuten; in 10 Minuten ist es Realität; die Realität drängt sich bereits gegen sie, überwältigt sie, zieht sie in einen bodenlosen Wirbel.

Ein Geräusch außerhalb ihres Kopfes schleuderte sie aus dem Chaos zurück. Sie horchte angespannt. Ein Röcheln. Ihre Augen fokussierten, scannten sein Gesicht. Sein Mund bewegte sich, wurde geöffnet, Luft in die Lungen gezogen, tief und kratzig, dann ein gebellter Husten. Der Mund klappte zu und die Gesichtszüge entspannten sich.

Sie ließ sich gegen die Lehne des einfachen Holzstuhls sinken und atmete ein paar Mal langsam ein und aus.
Dann zuckte ihr Kopf wieder zur Uhr: 21:35.

Ein Lächeln schob sich von einem Punkt tief aus ihrem Inneren auf ihr Gesicht. Alles lief wie geplant. Sie hatte alles richtig gemacht. Sie hatte einmal in ihrem Leben etwas durchgezogen.
Ihre Augen wanderten zu der schlafenden Gestalt in dem großen Ehebett aus Buche. Na, was sagst du jetzt? Das hättest du mir nicht zugetraut, was?
Ihr Lächeln verzerrte sich zu einem Grinsen.

Sie beugte ihren Oberkörper nach vorne, näher an sein Gesicht.
Nicht zu dicht.
Sie spitzte ihre Lippen und blies sanft auf seine Nase. Die Öffnungen zuckten leicht und sie spürte ein kindisches Entzücken. Ihre Augen verengten sich. Sie stand auf und beugte sich über seinen Kopf. Sammelte Spucke in ihrem Mund. Ließ einen Tropfen durch die leicht geöffneten Lippen quellen. Wartete geduldig, bis er sich löste, in Richtung seiner Wange zog.
Im letzten Moment sog sie die Spucke wieder ein. Sie setzte sich und schüttelte leicht den Kopf. Sei nicht albern.

Erneut zog es ihre Augen zum Display des Weckers. 21:37. Sie verschränkte ihre Arme über der Brust und wartete. Die Dioden leuchteten ohne jedes Flackern. Im Haus war es vollkommen still. Nur seine Atemzüge, im gleichmäßigen Takt, ein und aus. Sie starrte auf die Ziffern, bis ihre Augen brannten. Nach einer Ewigkeit erst vervollständigte sich die 7 lautlos zu einer 8.

10 Minuten. Wie lange das dauerte. Aber was waren schon 10 Minuten gegen all die Jahre? Ihr fröstelte und sie schlang ihre Arme enger um den Oberkörper. Sicher wäre alles anders gekommen, wenn sie Kinder bekommen hätten. Vielleicht hätte er dann nicht so schnell das Interesse an ihr verloren. Sie zog die Schultern hoch. Irgendwann hatte er sie wie einen Gegenstand behandelt. Wann war seine Gleichgültigkeit in Abneigung umgeschlagen? Wann in Hass? Ihre Backenzähne begannen zu mahlen. Die Verachtung in seinem Gesicht, so real wie ein Faustschlag. Er hatte ihr klargemacht, wie wertlos sie sei, erst mit Blicken, später mit Worten. Harten Worten. Verletzenden Worten. Sie begann zu zittern. Erniedrigung hatte sich wie ein dunkler See in ihr gesammelt, dessen Wasser höher und höher gestiegen war. Sie war in dem Schlamm aus Vorwürfen versunken, dem Hagel seiner spitzen Bemerkungen ausgesetzt, hatte hilflos im Sturm seines Gebrülls gewankt.

Bis sie es nicht mehr ausgehalten hatte. Bis sich der Gedanke wie ein Widerhaken in ihr Hirn geschlagen hatte. Über das Internet hatte sie das Mittel besorgt, das ein schmerzloses Einschlafen garantierte. Und 10 Minuten nach Schlafbeginn einen Herzstillstand versprach. Sie wollte sich seinen Blicken beugen, der unausgesprochenen Aufforderung, die sein Verhalten umso deutlicher ausdrückte. Sie würde nachgeben, wenn es ihr nur weitere Jahre mit ihm ersparte. Sie war nicht fähig, über Alternativen nachzudenken, schon der Versuch überschwemmte sie mit dumpfer Müdigkeit. So war es einfacher. Sie würde erlöschen wie eine Kerze.

Plötzlich riss es sie vom Stuhl. Ein Klingeln! Jemand war an der Haustür. Sie stand stocksteif, mit angehaltenem Atem.
Nein, das konnte nicht sein. Nicht jetzt. Geh, wer immer du auch bist.
Das zweite Klingeln durchschnitt ihr Herz. Ihre Hand flog zum Mund und presste den Verzweiflungsschrei zurück, der in ihrer Kehle wuchs. Dann wurden ihre Augen weit, sie zwang ihren Blick auf das Ehebett; wollte nicht sehen, wenn er von dem Klingeln erwachte.
Er lag still, kein Zucken in seinem Gesicht, der Atem ging gleichmäßig.
Sie ließ die Luft aus ihrer Lunge. Aber blieb angespannt. Würde es noch einmal klingeln? Sie wartete angsterfüllt.
Und wartete.
Und spürte, wie sich die Angst verwandelte, als Energie ihre Adern durchströmte, zu Entschlossenheit wurde. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Niemand würde sie jetzt noch aufhalten.

Ihr Blick ging zum Radiowecker. 21:31.
Das Adrenalin brandete durch ihren Körper, genauso wie vor ein paar Tagen, als sie das Fläschchen mit der farblosen Flüssigkeit in der Hand hielt. Der Todesbringer. Sie hatte darauf gestarrt, hatte die Flasche in Gedanken schon geleert – und sich plötzlich so lebendig gefühlt. War es die Aussicht auf das Ende? Oder einfach nur die Tatsache, dass sie jetzt handeln würde? Sie konnte es nicht sagen, aber auf einmal wuchsen Möglichkeiten vor ihr, brachen wie zarte Knospen aus dem Schnee.

Die Ziffern schlugen um, schon wieder, warum ging es jetzt so schnell? 21:32. Ihr Magen pumpte, und irgendetwas schrie in ihr, die aufkommende Panik, oder die Wirklichkeit, die sich Gehör verschaffte, sie zu Vernunft bringen wollte; was um Himmels Willen tust Du? Aber sie verstand nichts, die Begriffe prallten an ihr ab, es gab keine Regeln, es gab nur noch sie.

21:33. Ihr Blickfeld wurde zu einer Röhre, die sie auf ihn schwenkte; ihre Ohren wurden zu Schallwellenempfängern, die jedes Geräusch registrierten, das von ihm kam. Atem. Ein. Aus. Ein. Aus. Stille.

Ihre Beine zitterten und sie setzte sich schnell zurück auf den Stuhl. Die Hände fielen auf ihren Schoß. Sie schloss die Augen und fühlte, wie unglaubliche Ruhe in ihr aufstieg, sie vollkommen ausfüllte. Nach einer Weile stand wie wieder auf, ohne einen Blick auf die reglose Gestalt im Bett zu werfen. Sie musste das Fläschchen entsorgen, dessen Inhalt sie in sein Abendbrotbier gekippt hatte. Am besten warf sie es in eine Mülltonne ein paar Straßen weiter. Danach würde sie den Notarzt rufen. Sie wusste, sie würde nicht fähig sein zu weinen. Stattdessen würde sie mit tonloser Stimme erklären, dass ihr Ehemann ganz plötzlich verstorben war.

Letzte Aktualisierung: 13.03.2008 - 21.10 Uhr
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