Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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März 2008
Lebe den Augenblick – auch wenn es nur 10 Minuten sind
von Jean Panzer

„Was soll ich?“
„Schreiben Sie eine Geschichte darüber.“
„Das kann ich nicht.“
„Versuchen Sie es.“
„Was soll das bringen?“
„Die Antwort auf Ihre Frage.“
„Für 120,- Euro pro Stunde sollten Sie mir die geben!“
„Ich beobachte nur.“
„Sie sollen mir helfen!“
„Ich gebe Ihnen Hilfe zur Selbsthilfe. Schreiben Sie eine Geschichte.“
„Ich weiß nicht.“
„Vertrauen Sie mir. Schreiben ist wie eine psychische Chemotherapie. Sie bekämpft geistige Tumore und lindert Schmerzen.“ Dr. Atideva erhebt sich aus seinem Sessel und streckt mir seine Hand entgegen. Aus seinen eisblauen Augen sieht er mich intensiv an und scheint dabei in jede einzelne Zelle meines Körpers einzudringen. Dann lächelt er wohlwollend.
„Schreiben Sie. Wir sehen uns nächste Woche wieder. Auf Wiedersehen.“
„Wiedersehen.“, murmle ich in Gedanken versunken vor mich hin. Ich soll eine Geschichte darüber schreiben? Der hat Nerven! Aber er soll der beste Psychiater in der Stadt sein. Auf jeden Fall ist er der Teuerste.
Nicht zu fassen. Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch und denke ernsthaft darüber nach, alles aufzuschreiben. Er ist schon ein merkwürdiger Mann, dieser Dr. Atideva. Dieser Blick, den er mir zum Abschied zugeworfen hat, hatte irgendwie etwas magisches an sich. Ob er mich vielleicht heimlich hypnotisiert hat? Mit einer neuartigen Form der Hypnose, die erst richtig zu wirken anfängt, wenn ich schreibe? Was soll´s. Wenn ich dadurch eine Antwort auf meine Frage bekomme, ist es einen Versuch wert.

***

Es ist Sonntag, der 12. Dezember 2004. Corinna hält mir zwei Flugtickets unter die Nase.
„Man muss spontan sein, im Hier und Jetzt leben. Woher willst du wissen, dass es ein Morgen gibt?“, sagt sie.
„Woher willst du wissen, dass es keins gibt?“, entgegne ich. Meine Frau winkt mit einem müden Lächeln ab.
„Nicht in die ferne Zeit verliere dich. Den Augenblick ergreife! Der ist dein.“ Jetzt kommt sie mir wieder mit ihrem Lieblingszitat von Schiller. Den Augenblick ergreifen. So ein Unsinn! Ich bin seit über zehn Jahren Versicherungsvertreter und wir leben sehr gut davon. Würden alle meine Kunden plötzlich nur noch im Hier und Jetzt leben, wie sie sagt, wer würde dann noch eine Versicherung brauchen? Nein, jeder, der ein bisschen Verantwortungsbewusstsein hat, plant sein Leben sorgfältig voraus, denkt an später. Und bucht vor allem nicht Hals über Kopf einen Weihnachtsurlaub in Thailand! Ohne mich zu fragen. Nächste Woche fliegen wir schon. Das bringt meinen Zeitplan völlig durcheinander! Was sage ich jetzt meinem Bezirksleiter?

***

Wir sind auf Phuket gelandet. Fünf Tage vor Heiligabend und es sind dreißig Grad. Das bringt meinen europäischen Biorhythmus mächtig durcheinander. Von der Zeitumstellung ganz zu schweigen. Unser Bungalow liegt auf einem sehr idyllischen Hang oberhalb des Pansea Beach.
„Um Himmels Willen! Das sind ja mindestens hundert Stufen“, stelle ich erschrocken fest.
„Nun stell dich nicht an. Dafür haben wir von da oben einen traumhaften Blick auf das Meer.“
Corinna wirft sich lässig ihre kleine Reisetasche über die Schulter und huscht die Stufen hinauf. Ich folge ihr langsam mit dem restlichen Gepäck. Auf der Hälfte der Treppe bin ich schweißgebadet und unsere Koffer wiegen zwei Tonnen. Ich sehe mich um. Corinna hat Recht. Der Ausblick ist fantastisch! Das Wasser ist türkisblau, der Strand schneeweiß.
„Was ist? Kommst du endlich?“ Corinna steht vor der Tür des kleinen Bungalows.
„Schau mal. Das Dach ist komplett mit Palmenblättern gedeckt. Wie romantisch!“
„Ja, Liebes.“ Schnaufend erklimme ich die letzten Stufen. Jetzt endlich die schweren Felsbrocken, die mal unsere Koffer waren, loswerden und dann ausruhen.
„Nun stell doch endlich die Koffer ab. Ich bin so gespannt, was es da unten alles zu sehen gibt!“
„Da unten?“ Das kann sie doch unmöglich gesagt haben.
„Na klar! Ich möchte den Strand erkunden und sehen, was es hier alles gibt. Was dachtest du denn?“
„Ich dachte, wir würden morgen -“
„Von wegen morgen. Heute! Jetzt! Los, komm!“ Corinna packt mich am Arm und zerrt mich hinaus. Manchmal frage ich mich, ob sie wirklich erwachsen ist. So wie sie sich benimmt, kann sie höchstens zwölf sein.
„Nun sei nicht so griesgrämig. Es wird dir gefallen.“, versucht sie mich aufzumuntern.
Schweigend trotte ich hinter ihr die Stufen hinab zum Strand. Eine angenehme Seebrise bläst sanft durch meine Shorts. Es gefällt mir tatsächlich. Wir beide ahnen nicht, welches Grauen uns bevorsteht.

***

„Guten Morgen, du Schlafmütze. Komm, steh auf, lass uns schwimmen gehen.“ Ich drehe mich um. Corinna steht vor meiner Bettseite und schwenkt ihre Strandtasche hin und her.
„Wie spät ist es denn?“, frage ich verschlafen und versuche die Augen zu öffnen.
„Es ist schon viertel vor acht! Komm jetzt, wir schwimmen eine Runde und dann möchte ich zum Patong Beach fahren. Ein bisschen shoppen.“
„Viertel vor acht“, murmle ich im Halbschlaf.
„Komm schon, du alter Langschläfer!“ Mühevoll setze ich mich auf. Zumindest ein Auge kann ich halb öffnen. Ich blinzle Corinna an. Das grelle Licht der Sonne taucht das Schlafzimmer in goldenes Licht.
„Liebling, heute ist Sonntag. Ich hatte geplant, ein bisschen länger zu schlafen. Geh du zum Strand und geh von mir aus auch shoppen. Ich komme später nach. Werde dich schon finden, irgendwo.“ Ich sinke zurück in meine Kissen. Corinna gibt mir einen Kuss auf die Nase.
„Na schön, du Langweiler. Hast gewonnen. Ich sehe dich dann nachher.“
„Bis nachher“, brummle ich und ziehe die Decke über den Kopf. Die Tür fällt hinter Corinna ins Schloss. Für einen kurzen Moment höre ich noch ihr fröhliches Singen, bevor es in der Ferne verhallt.
Als ich gegen zehn Uhr aufstehe, ist alles vorbei. Ich stehe unter der Dusche und habe keine Ahnung, welche Katastrophe ich verschlafen habe und welches persönliche Disaster in wenigen Minuten auf mich zukommen wird. Erst unten am Strand erfahre ich von Jai-Dam, unserem Kellner aus dem Strandrestaurant, was geschehen ist.
„Ein großer Tsunami! Überall kaputt, alles weg! Wir haben Glück, unsere Bungalows sehr hoch, Wasser kommt nicht hin. Nur Restaurant bisschen beschädigt. Sie und Misses haben Glück, dass oben waren.“
Inmitten der Sommerhitze kriecht mir der Winter ins Blut. Fassungslos stehe ich allein am Strand und starre auf das friedliche Meer.
„Corinna!“, brülle ich. Panik steigt in mir auf, mein Herz rast. „Corinna, wo bist du?“ Ich schreie aus Leibeskräften. Keine Antwort. „Corinna, bitte antworte mir!“ Eine Welle umspült meine Füße und leckt an meinen Zehen. Ich habe meine Antwort.

***

„Hm“, macht Dr. Atideva und legt meine Geschichte beiseite. Er kritzelt etwas auf seinen Notizblock und sieht mich mit seinen magischen Augen über den Brillenrand an.
„Sie haben Ihre Antwort?“, fragt er und mustert mich aufmerksam. Ich nicke.
„Ja. Ich wollte sterben, hatte Schuldgefühle und war der Meinung, dass meine Frau noch leben könnte, wenn ich mich durchgesetzt hätte. Wenn ich sie dazu gebracht hätte, alles sorgfältig zu planen und nicht im Hier und Jetzt zu leben, wie sie immer gesagt hat.“
„Und jetzt sind Sie anderer Meinung? Wieso?“ Dr. Atideva zieht seine Augenbrauen hoch und kaut an seinem Füllfederhalter. Wieder wandert sein Blick durch meine Zellen. Mir wird plötzlich ganz warm und ich antworte stotternd:
„Ich...ich...weiß nicht genau. Ich weiß nur, dass...also dass...wenn Corinna auf mich gehört hätte, wären wir nicht nur in diesem Jahr nicht nach Thailand gefahren, sondern in keinem Jahr. Ich hätte es nie geschafft, mich einfach von Heute auf Morgen von meiner Arbeit loszureißen. Doch dank ihr hatten wir so viel Spaß zusammen wie seit langem nicht mehr! Ich bin froh und dankbar, dass ich diese Zeit mit ihr genießen konnte. Auch, wenn sie sehr kurz war.“
„Hm.“ Wieder kritzelt Dr. Atideva etwas auf seinen Notizblock. „Und was haben Sie jetzt vor? Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?“ Schweigend blicke ich auf meine Hände und spiele mit meinem Ehering. Noch immer fühle ich diese merkwürdige, aber sehr behagliche Wärme in mir. Plötzlich sehe ich Corinna neben mir sitzen. Sie streichelt über meine Hände und lächelt. Ihre Lippen formulieren einen Satz. Obwohl ich ihre Stimme nicht hören kann, weiß ich genau, was sie sagt und wiederhole laut ihre Worte: „Nicht in die ferne Zeit verliere dich! Den Augenblick ergreife! Der ist dein.“

Letzte Aktualisierung: 25.03.2008 - 11.26 Uhr
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