Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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März 2008
Der Besuch
von Cornelius Zimmermann

Die Musik wurde leiser. Das Meer rauschte, als rollten die Wellen von ihr weg ins Unendliche. Sie blickte sich um. Ihr Vater war gekommen. Er stand einen Moment unschlüssig und entfernte sich wieder. Ihr war, als nähme er dieses Meeresrauschen mit sich wie einen Hut, den man sich erst nach Verlassen des Hauses aufsetzt, denn es war auf einmal ganz still. Es war so still, dass sie angstvoll zunächst in sich hineinhorchte, dann in die Weite, die sich um sie ge-lagert hatte wie ein Himmel, der sich in sich selbst veratmet. Natürlich würde es darauf ankommen, dass ihr Vater sie wieder besuchte. Er würde langsam heller werden wie eine Wolke, die das Licht der untergehenden Sonne in sich aufzu-nehmen wagt. Irgendwann würde er bei ihr bleiben können.
Wann würde er kommen, wenn er jemals kommen würde? - Sie erinnerte sich noch gut an ihn, auch an die beiden Kinder. Sie sah sie, als ob sie träumend in einem Album der ersten Jahre blätterte, und spürte dabei, wie sich die Ketten-glieder ihrer Erinnerung auseinander zu ziehen begannen wie die Segmente ei-nes wolkigen Rückgrats, das ein Flugzeug an einem tagesfrühen Sommerhimmel hinterlässt. In solchen Augenblicken begann sich die Musik in sie einzuschnei-den wie eine Glasscherbe, und sie fragte nicht um Erlaubnis, um sich bis an die Ränder vorzutasten, damit sie die Welt, die in ihr zu zerfallen begann, nicht vollständig verlöre.
Einen Erinnerungsfaden, als wäre er gewirkt aus einem unzerreißbarem Materi-al, konnte sie nicht aus ihren Händen lassen. Er schnitt eine Frage in sie hinein, die ihr alles Glück nahm, um dessentwillen sie doch hierher gekommen war. Sie würde also über die Ränder gehen müssen. Traf sie diese Entscheidung, ohne um Erlaubnis zu fragen, würde sie sich zu einem Atom verdünnen wie das Salz im Auge der Liebe. Sie bekam die Erlaubnis. 10 Minuten würden ihr gewährt sein, um hinter den Rändern die Antwort auf ihre Frage zu finden. Stellte sie die falsche Frage oder kehrte sie zurück, ohne eine Antwort auf die richtige Frage gefunden zu haben, würde sie erdunkeln, und all diejenigen, die den Weg zu ihr zu finden versuchten, ihr Vater, irgendwann er, die beiden Kinder, mussten sie verfehlen. Das Rauschen des Meeres würde ersterben, die Musik erstummen.
Sie kannte also das Risiko, zumal die Frage, um deren Beantwortung willen sie ihre gefahrvolle Reise anzutreten gedachte, zunehmend undeutlich wurde wie ein sich entfärbendes Bild, wie ein verwehender Ton. Ein Erinnerungsbild aber kehrte immer zurück: Er tritt durch das Glas der in den Garten führenden Tür – als ginge er durch Luft. Er kehrt den Blick, als wolle er nach ihr sehen. Sein Blick stößt an das Glas und fließt in die Tiefe. Die Töne kamen zurück und set-zen sich zusammen. Sie hört die Frage an ihr Herz pochen, ob er in all den Jah-ren, in denen sie für ihn unsichtbar geworden war, die Liebe gefunden habe, die sie nur hatten erleben dürfen wie zwei wankelnde Menschen, denen die Kraft nicht zugewachsen war, dem eigenen, also auch dem gemeinsamen Leben die Zustimmung zu geben.
Sie war angekommen. Sie stand vor der Tür, die ihr vertraut war. Mit ihren Au-gen, die für diese kurze Zeit wieder zu menschlichen Augen geworden waren, saugte sie die Türe zu sich heran und sah in aufflackernder Hoffnung auf das leicht angelaufene Messingschild, auf dem immer noch ihr Name stand. Man müsste es einmal putzen, dachte sie. Sie zögerte und ging dann mit Beinen, die ihr für eine kurze Zeit zu Diensten standen, um das Haus herum und blickte in den kleinen Garten. Der Teich war verschwunden. Die hölzernen Läden vor Tü-ren und Fenstern hingen mit blätterndem Lack. Der Garten, der Garten! Sie ging zurück, weil sie wusste: der Ort der Entscheidung befand sich auf der Vordersei-te des Hauses. Sie brauchte nur auf die Klingel zu drücken. Sie stand wie eine weiße Kerze, die zu tropfen aufgehört hat.
Es schien früher Nachmittag zu sein. Sie erinnerte sich, dass die Sonne erst am wirklich frühen Abend ihre schon schwachen Strahlen auf die Vorderseite des Hauses warf. Die kleinen Beete vor dem Haus mit ihren Farnen und Waldrö-schen waren mit dicken Moospolstern bedeckt. Sie hörte die belgische Schäfer-hündin leicht anschlagen, Belice, die Schöne. War sie noch schön? Wie sah sie aus? Würde er sie noch erkennen? Er trug ein Foto von ihr bei sich, natürlich. Ein Bild von ihr hing irgendwo im Haus. Ein Bild! Sie schaute in die Glasflä-chen der Haustüre mit dem Messingschild und erkannte nichts. Spieglein, du Spieglein!
Der Hund hatte sich beruhigt, dafür war ein gedämpftes Lachen zu hören. Es brach sich leise am Glas der Tür und lachte sich zurück in die Tiefe des Hauses. Es lachte sich wieder vor und brach durch das Glas hindurch in ihre aufnahme-bereiten Ohren, die sofort wussten, wem dieses Lachen zuzuordnen war. Er hatte selten gelacht. Jetzt lachte auch er und sein Lachen kam durch das Glas der Türe zu ihr, und sie spürte, dass dieses Lachen Augen mit sich führte, die gelernt hat-te, das Leuchten in den Augen des anderen zu sehen wie einen mit zwei Fingern zugeworfenen Kuss.
Die Frage, die ihr die Flügel für diese weite Reise gegeben hatte, versinterte in ihr. Als sie leise das Meer rauschen hörte, wusste sie, sie würde bald wieder zu Hause sein, und es würde gut sein. Irgendwann würde er kommen –

Letzte Aktualisierung: 17.03.2008 - 11.14 Uhr
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