Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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März 2008
Beate, Rudi und Paul im Souterrain
von Johanna Wering

Um sieben Uhr morgens stempelte Paul sich selbst, Beate und Rudi ein. Um diese Zeit war von den etwa dreitausend Kollegen weit und breit keiner zu sehen. Paul machte gern die Frühschicht, wie sie es nannten. Dabei hätten sie es auch Spätschicht nennen können, denn wer morgens die drei Kollegen vor Tag und Tau einstempelte, hatte sie am Vortag abends spät ausgestempelt. Heute war Paul an der Reihe.

Als das Telefon kurz vor elf klingelte – düdelü-düdelü für auswärts – war Paul mit der Buchhaltung des Tennisvereins, dessen Polo-Shirts er auch zur Arbeit trug, gut vorangekommen.
Er nahm den Hörer ab. „Rino Chemie, Weber.“
„Ich bin’s, Beate. Machst du mir bitte auf?“
Vor der Feuerschutztür, die das Souterrain mit dem Fahrradkeller des großen
Gebäudes verband, stand Beate im tropfnassen Regenmantel.
„Hallo Paul, alles o.k.?“
Seit fünfzehn Jahren stellte sie ihm diese Frage, wenn er Frühschicht hatte und guckte ihn dabei ängstlich an, wie ein Wiesel auf der Flucht. Er begrüßte sie freundlich und nickte zuversichtlich. Was sollte schon schief gehen? Gezetert hatten sie damals, als der alte Chef sie in die neu gegründete Abteilung versetzt und sie dreist in den Kellerraum verfrachtet hatte. Doch das war lange her. Der Alte war kurz darauf gestorben, und kein Mitarbeiter der Firma wies den neuen Chef darauf hin, dass die Abteilung StAB – Statistik Automation Büro - Personal wegrationalisieren sollte. Die Aufgabe der Abteilung entschwand aus dem Firmenbewusstsein wie ein feindliches Schiff im Nebel. Rudi und er verfassten schon seit zehn Jahren keine Berichte zu Einsparpotentialen mehr, die Beate hätte abtippen können. Jetzt erwies sich die Lage im Souterrain mit dem kurzen Weg über den Fahrradkeller nach draußen als optimal.

Paul folgte Beate ins Büro. Ihr mausgraues Haar klebte nass am Kopf, aber auch trocken war Beate keine Schönheit. Er setzte sich an den Schreibtisch und sah aus den Augenwinkeln, wie die Kollegin den Mantel auszog und mit heruntergezogenen Mundwinkeln die Lampe über den fleischfressenden Pflanzen anknipste. Die Lampe, meine Güte, ja! Er hatte es wieder mal vergessen. Blöde Pflanzen! Er ärgerte sich, am meisten darüber, dass er sich von Beates Griesgrämigkeit runterziehen ließ.
„Ihr Armen, so ganz im Dunkeln!“

Das Telefon klingelte – düdelü-düdelü.
Rudi begehrte Einlass. Paul öffnete ihm. Diesmal ging er voran. Seit Rudis Frau fast ertrunken und aus dem Koma nicht wieder aufgewacht war, ernährte sich Rudi beim Imbiss und brauchte den Flur in voller Breite für sich allein.

„Guten Morgen, Rudi.“ Beate guckte wie ein geschlagenes Tier.
Rudi würdigte sie keines Blickes, griff wie jeden Morgen um elf zum Telefon und wählte die Nummer des Krankenhauses. „Wie geht es meiner Frau?“
Und wie jeden Morgen schauten Beate und Paul sich an, erstaunt, dass diese Stimme auch zu ihrem Kollegen gehörte.
Rudi legte auf und schaltete den PC ein. Seine Züge verhärteten sich.
„Kaffee?“ Beate hob die Kanne andeutungsweise hoch. Paul reichte ihr seine Tasse über die Schreibtische hinweg und Rudi negierte Beate samt Kaffee. Er blickte auf den Bildschirm und vertiefte sich ins Spiel.
Paul bedankte sich ausdrücklich, und wunderte sich, warum Beate es dem Rudi immer so einfach machte, ihr eins auszuwischen.
„Wie geht es den Zwillingen?“ erkundigte er sich betont herzlich, da Beate aussah, als würde sie gleich weinen. Beate fing sich wieder und zählte pedantisch die Fortschritte der ihr anvertrauten Enkelkinder auf. „Gestern abend wollten sie nicht ins Bett, aber heute morgen waren sie trotzdem total fit und freuten sich auf den Kindergarten.“
„Die waren froh, ihre Oma los zu sein“, brummte Rudi und jagte Gangster auf dem Bildschirm.
Beate zog die Mundwinkel wieder herunter, hob den Zeigefinger und ließ ihn kraftlos wieder sinken. Paul wusste, was jetzt kommen würde: Gegenangriff, erprobt und zuverlässig. Sie wandte sich ihren Pflanzen auf der Fensterbank mit zuckersüßer Stimme zu: „Ihr armen Kleinen, habt ihr Hunger? Soll die liebe Beate...“
Rudi lief rot an. Gerade als er explodieren wollte, klingelte das Telefon.
Düdelü.
Nur: düdelü.
Sonst nichts. Kein Doppelton. Nur: düdelü.
Die drei Kollegen hielten inne und starrten das Telefon an. Intern. Ein internes Gespräch. Um Viertel nach elf.
„Geh ran,“ sagte Rudi zu Paul.
Düdelü, sagte das Telefon.
„Jetzt geh schon ran!“ sagte Rudi.
Paul nahm den Hörer ab. „Weber.“ Er versuchte zu begreifen, was ihm gesagt wurde, während ihm das Blut aus dem Gesicht wich. „Ja. Bis vier. Ja.“ Er bettete vorsichtig den Hörer aufs Telefon. Die Stille drückte auf den Atem.
„Und?“ knurrte Rudi.
„Wir,“ Paul räusperte sich. „wir sollen den Quartalsbericht bis vier Uhr abgeben.“
„Was für einen Quartalsbericht?“ schrillte Beate.
Rudis dicke Finger trommelten auf dem Tisch. „Wer war das?“
Paul hob die Schulter ein wenig. „Röder. Bis vier.“
„Verdammt noch mal, wer ist Röder?“ brüllte Rudi.
„Die Chefsekretärin, du Ignorant“, sagte Beate, „wenn du dich auch nur ein bisschen für die Firma interessieren würdest, wüsstest du, dass wir eine neue Chefsekretärin haben.“
Rudis Brust hob und senkte sich rasch. „Was für einen Quartalsbericht? Ich muss gleich ins Krankenhaus. Keine Zeit.“
„Moment!“ sagte Paul, wieder ganz Herr der Lage. „Heute geht keiner, bevor der Bericht steht.“
„Das geht aber nicht“, jammerte Beate, „ich muss um zwei die Zwillinge abholen.“
„Dann rufst du jetzt deine Tochter an und sagst ihr, dass sie die Kinder selbst abholen muss. Sag ihr, dass du krank bist.“
„Oder dass du Überstunden machen musst“, zischte Rudi, der seinen Schlips lockerte. Sein Atem ging schnell. „Sag ihr, dass du ein Idiot bist, sag ihr, dass du deine Kollegen verraten hast, dass du der Röder gefallen wolltest, ‚ach Frau Röder’“, baute er Beates Stimme nach, „‚soll Ihnen die liebe Beate mal was verraten?’“
Beate schien zu schrumpfen, ihr Mund zitterte. „Ich war es nicht. Ich kenne sie gar nicht. Der Pförtner hat mir bloß von ihr erzählt. Neuer Wind in der Chefetage, hat er gesagt. Das wollte ich euch noch sagen, dass ihr extra vorsichtig sein solltet, wenn ihr stempelt.“
„Hast du aber nicht“, biss Rudi. „Wenn sie anfängt die Stempelkarten zu überprüfen, na, dann gute Nacht!“ Abrupt wandte er sich zu Paul, kniff die Augen zusammen und bekam einen brutalen Zug. „Oder verdanken wir dir das? Ist sie etwa schön, die Frau Röder? Hast du etwa versucht, sie mit deinen großspurigen Reden über Statistiken rumzukriegen, du Angeber!“ Er erhob sich schwerfällig. Sein Hemd rutschte aus der Hose.
Als Rudi schnaufend wie eine Dampfwalze, die Arme vor sich ausgestreckt, um den Schreibtisch herum auf ihn zukam, blinzelte Paul mit den Augen und stotterte: „Langsam, Rudi, ganz langsam!“ Er rollte den Stuhl unwillkürlich weiter in die Ecke. „Reg dich ab, ich...“
Rudis dicke Hände umschlossen seinen Hals, klemmten den Satz ab. „Du Weiberheld, du Angeber, du Stink-Ei!“
Ihm wurde rot vor Augen, sein Kopf dröhnte, als Rudi plötzlich von ihm abließ. Rudi wandte sich Beate zu, die ihn von hinten mit Fäusten attackierte.
„Ach, Oma wird gewalttätig!“ tobte er und nahm drohend Kurs auf Beate, die Schritt für Schritt rückwärts ging, die Hände abwehrend vor dem Gesicht.
Rudis Hand schnellte vor zu einem Blumentopf.
„Nein!“ schluchzte Beate, als der Topf an ihrem Kopf vorbei schoss und an der Wand zerschellte.
Rudi sackte keuchend auf seinen Bürostuhl, purpurrot im Gesicht, die Augen quollen hervor.
Paul fasste sich an den Hals und keuchte. „Bist bloß neidisch, weil es keine Frau bei dir aushält“, krächzte er.
„Nur die halbtoten, die nicht weglaufen können“, weinte Beate und kniete sich neben den Überresten der Pflanze.
Rudi stöhnte so laut, dass sie das Telefon nicht gleich hörten.
Düdelü.
„Weber.“
Die Kollegen hielten inne und lauschten.
„Keine Ursache“, sagte Paul und legte auf.
Die Kollegen starrten ihn an. Er streichelte seinen Hals, tastete die schmerzenden Stellen, wie sollte er die im Verein erklären? „Röder. Hat sich entschuldigt. Ein Missverständnis. Sie hatte Weber aus der Buchhaltung anrufen wollen.“
Rudis Atem normalisierte sich. Erschöpft schauten sie Beate zu, die am Boden saß und die Pflanzenreste sorgfältig auf eine Zeitung legte, die Scherben aufsammelte und scheppernd in den Mülleimer entsorgte.
So schnell geht das, dachte Paul, keine zehn Minuten.
Rudi startete das Spiel neu und stierte auf den Bildschirm.
Beate steckte die eingeschlagenen Pflanzenreste sorgsam in eine Plastiktüte und zog den Mantel an. „Meine Stempelkarte bitte“, sagte sie zittrig in den Raum hinein.
Paul ging zu seiner Jacke, sichtete die Stempelkarten und gab ihr eine. „Es ist nicht einmal halb zwölf“, sagte er leise. „Und eigentlich hat Rudi Frühschicht.“
Wortlos nahm sie die Karte und verließ den Raum, die Pflanzen in der Tüte mit der Hand von unten abstützend.
Es wurde still im Raum. Nur aus dem PC kamen elektronische Spieletöne, eine abfallende Tonfolge meldete bedauernd ‚game over’.
„Das wird schon wieder“, sagte Paul und hoffte, dass es stimmte.

Letzte Aktualisierung: 20.03.2008 - 14.32 Uhr
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