Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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März 2008
10 Minuten und kein bisschen länger
von Rosemarie Benke-Bursian

Sabine saß wie so häufig gerade am Frühstückstisch und schlürfte ihren Kaffee, als „Patsch“ die Tür der Nachbarswohnung zufiel. Schlurfende Schritte, leise tapsende Pfoten. Frau Wiedemann ging mir ihrem Hund Boris spazieren. Ohne auf die Uhr zu schauen, wusste Sabine wie spät es war: zehn vor sieben. Nicht ungefähr zehn vor sieben, nein wenn die Tür ins Schloss fiel war es Punkt 6.50 Uhr. Und genau 10 Minuten später wurde der Schlüssel im Schloss herumdreht, um die Tür aufzusperren. Nicht ungefähr zehn Minuten später, sondern Punkt sieben Uhr. Montags wie Dienstags und jedem anderen Tag der Woche, ja sogar am Wochenende.

Warum kann sie nicht einfach mal ausschlafen?, fragte sich Sabine oft, aber Frau Wiedemann dachte nicht daran. Tagaus, tagein, 6.50 Uhr: „Bumm“, 7.00 Uhr: „Knirsch“. Letzte Woche, letzten Monat, letztes Jahr und deshalb auch morgen und nächste Woche und bis in alle Ewigkeit.

Das ist doch krank! Sabine wusste eigentlich nicht so genau, was sie daran störte. Im Grunde konnte ihr Frau Wiedemann egal sein. Sie kannte sie kaum, denn außer morgens mit Boris schien sie sich kaum mal aus der Wohnung weg zu bewegen. Eigentlich eine Ideal-Nachbarin, wenn man sein Büro zu Hause hatte. Eine, die man weder hörte noch sah, außer morgens, diese ominösen 10 Minuten.

Konnte der Hund nicht mal Verstopfung haben oder Durchfall oder am besten sogar beides zusammen? Solche Gedanken konnte Sabine kaum vor sich selber zugeben. Sie schienen genauso albern, wie ihre neulich inszenierte Störaktion. Glücklicherweise ahnte niemand, dass es Absicht war, als sie eines Morgens mit freudiger Erregung, einen vermeintlich schweren Müllsack genau um 6.49 Uhr aus der Tür wuchtete und dann die Treppe hinunter schleifte. Jeder Schritt eine Mühsal. Stöhnend und ächzend brauchte sie ganze drei Minuten bis zur Mülltonne. Und dann verhakte sich dieser Sack doch tatsächlich noch in der Eingangstür. Natürlich hatte sie sich bei Frau Wiedemann entschuldigt, die geduldig hinter ihr die Treppe herunter gekommen war. Ebenso geduldig wie Boris, der altersschwache Cockerspaniel. Frau Wiedemann nickte nur freundlich und ging an ihr vorbei. Ha! Sabine rieb sich die Hände. Und nun Frau Wiedemann? Es ist bereits 6.55! Das schaffst du nie! Munter sprang Sabine die Treppe hoch. Sie fühlte sich, als hätte sie soeben den ultimativen Werbeslogan gefunden, der ihr für die neue Kosmetik-Campagne noch fehlte. Sie ging in ihre kleine Wohnküche und räumte den Tisch auf. Hier konnte sie am besten zum Treppenhaus hinaus lauschen.

Waren da etwa Schritte? Nein, das konnte doch nicht sein, oder? Im Radio ertönte der sieben Uhr Gong und - drüben wurde der Schlüssel im Schloss herumgedreht.

Neiiiiiin! Sabine sank auf den Stuhl und stütze den Kopf in die Hände. Wieso? WIESO? Wütend trommelte sie auf dem Tisch herum.

An diesem Tag fand Sabine keinen guten Werbeslogan mehr. Stattdessen spukten ihr ganz aberwitzige Ideen durch den Kopf, so wie die von einer maskierten Person, die Frau Wiedemann so lange festhielt bis es 7.01 Uhr war.

Nach dieser schmachvollen Niederlage versuchte Sabine die morgendlichen Wiedemann-Geräusche einfach zu ignorieren. Das konnte ja eigentlich auch nicht so schwer sein. Andere gewöhnten sich schließlich sogar an Züge, die fast durchs Wohnzimmer schnaubten. Aber es war wie verhext, je mehr Sabine versuchte, sich nicht mehr um Frau Wiedemann zu kümmern, um so lauter hörte sie das Zuschlagen und Aufschließen der Tür. Ja sie lauerte sogar direkt darauf. Würde es nicht heute einmal ausbleiben? Vielleicht war Frau Wiedemann ja krank? Jeder war irgendwann mal krank. Und Frau Wiedemann war immerhin schon eine betagte Frau. So wie ihr Hund. Doch Frau Wiedemann wurde nicht krank. Sabine schämte sich. Wie konnte sie einer armen alten Frau nur so hässliche Dinge wünschen. Aber wie war es mit dem Hund? Nur so eine miniwinzige Erkältung, so eine, die nur einen einzigen Tag dauerte.

Der Tag kam völlig unerwartet. Sabine schlürfte ihren Morgenkaffee und überdachte missmutig die Aufgaben, die vor ihr lagen. Der Text für die neue Cremeserie musste komplett überarbeitet werden. Nicht nur, dass er vor Rechtschreibfehlern nur so wimmelte – statt ohne Konservierungsstoffe hatte sie mit Konservenstoffen geschrieben - irgendwie klang auch alles mehr nach Falten und Blässe statt nach Frische und Pfirsichhaut. Diese Creme würde höchstens jemand kaufen, der sich die Haut ruinieren wollte - oder jemand, der einem eine Gesichts-Allergie verpassen wollte…

Während Sabine so vor sich hingrübelte, ertönte im Radio der Sieben-Uhr-Gong. Sabine fuhr in die Höhe, schüttete heißen Kaffee über ihre rote Seidenbluse, sprang mit spitzem Schrei auf und sackte dann auf den Stuhl zurück. Was war passiert?

Sabine hatte Frau Wiedemann überhört. Das gab´s doch gar nicht. Wie konnte man ein so auffälliges Geräusch einfach überhören? Sie hatte sie doch gestern noch gehört. Laut und überdeutlich. Deutlicher noch als den Presslufthammer, der seit einigen Tagen um sieben Uhr die halbe Straße aufriss. Oder eben fast um sieben Uhr. Der Mann war ja nicht so bescheuert wie die Nachbarin. Auch jetzt konnte sie den Presslufthammer knattern hören. Frau Wiedemann hatte sie nicht gehört. Sollte sie jetzt weinen oder lachen? Hatte sie sich nicht genau das immer gewünscht?

Am nächsten Tag verpasste Sabine ihre Nachbarin ebenfalls. Es war unglaublich. Plötzlich schien sie Wiedemann-taub zu sein. Sie kam ja ganz durcheinander mit ihrem eigenen Zeitplan. Sie hatte immer zwischen 6.50 und 7.00 Uhr ihren Frühstückstisch abgeräumt aber jetzt war sie schon zum zweiten Mal erst durch den Sieben-Uhr-Gong hochgeschreckt worden. Sabine wusste nicht so genau, was sie daran wirklich störte. Aber so konnte es auch nicht weitergehen. Am nächsten Tag stellte sie ihren Wecker: 6.49 Uhr. Sabine schlich in ihren Flur und horchte nach draußen . Nichts. Kein „Bums“, keine Frau Wiedemann und auch kein Boris. Was war los?

Unruhig marschierte Sabine durch die Wohnung. Da war sie nun, diese miniwinzige Erkältung, sagte sie sich, doch ein triumphierendes Gefühl wollte sich nicht einstellen. Im Gegenteil, bei dem Gedanken ging es ihr eher noch schlechter. Sei nicht albern, das ist nicht deine Schuld, schimpfte sie und fuhr sich unglücklich durchs Haar.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, rannte aus der Wohnung und schellte an der Nachbarstür. Nach langen Minuten öffnete sich ein Spalt und ein uraltes, faltiges Gesicht tauchte auf. Sabine brauchte eine Weile, um Frau Wiedemann zu erkennen.

„Ähhm“, räusperte sie sich.

„Kommen Sie doch rein, sagte das faltige Gesicht müde aber freundlich, und die Tür glitt auf. Frau Wiedemann im blaugeblümten Morgenmantel mit etwas zerzausten Haar winkte kraftlos und Sabine trat zögernd ein.

Boris war plötzlich krank geworden erfuhr sie– Sabine schluckte den Kloß herunter – und dann war alles sehr schnell gegangen. Erst vertrug er die Medikamente nicht – „er war ja auch schon 15 Jahre alt“ – dann verfiel von einem Tag auf den anderen, konnte kaum noch atmen – Lungenentzündung.

“Gestern habe ich ihn beerdigt, mit Monika, der Tochter von unserem Bäcker, Sie wissen schon.“ Sabine wusste nicht.

„Die Monika hat Boris ja am Nachmittag immer ausgeführt, das haben Sie sicher bemerkt, nicht war?“ Sabine hatte nichts bemerkt.

„Ich konnte ja immer nur mal ganz kurz mit ihm Gassi gehen, morgens kurz vor Sieben, wissen Sie.“

Sabine nickte zaghaft und ließ sich dann erzählen, von Boris und von Monika und vom Kakao-Trinken und das Frau Wiedemann nun nichts und niemanden mehr hatte.

„Boris war mein Ein und Alles. Er hat meinen Tag geordnet. Man braucht ja eine Aufgabe. Man muss doch wissen, wofür man morgens aufsteht.“ Die alte Frau seufzte und sagte fast hauchend: „Die Monika, die kommt ja jetzt dann auch nicht mehr.“

Überwältigt von einer Vielzahl von Gefühlen und dem Eindruck, sie müsse jetzt unbedingt etwas „Richtiges“ sagen, konnte Sabine sich gerade noch das „Wie wäre es mit einem neuen Hund verkneifen. Nein, ein quirliger junger Hund, das passte gar nicht. Doch im gleichen Moment reifte ein ganz anderer Gedanke in ihr. Ein absurder Gedanke. Und schnell, bevor sie es sich noch anders überlegen konnte, machte sie Frau Wiedemann ihr Angebot. Erst etwas ungläubig, dann aber mit einem verhaltenen Lächeln nahm Frau Wiedemann an.

„Ja dann… dann vielen Dank auch, und bis morgen früh, ich … ich freu mich schon“, sagte sie sichtlich gerührt und begleitete Sabine bis zur Tür.

„Ich freue mich auch“, antwortete Sabine wahrheitsgemäß und drehte sich noch mal um. „Ähm, Frau Wiedemann, … es könnte aber eventuell ein bisschen später werden“, sagte sie und hob unsicher die Schultern.

„Aber das macht doch gar nichts“, sagte Frau Wiedemann und sah schon wieder etwas jünger aus, „wenn Sie nur überhaupt kommen. Was machen da schon ein paar Minuten hin oder her.“

Letzte Aktualisierung: 13.03.2008 - 19.53 Uhr
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