Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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März 2008
Lückenfüller
von Tatjana Herbst

Den Mantel eng um mich geschlungen sitze ich in der ungemütlichen, ungepflegten und zugigen S-Bahn Nr. 9, Richtung Bergisches Land. Grauer, schmieriger Linoleumboden, versiffte hellgrüne Polster, mit blassrosa fleckigen Streifen durchzogen. Klebrige Stangen zum Festhalten kommen oben aus der Decke des Wagens, an dem Netzfahrpläne, halb abgeknibbelt, befestigt sind. Wieder quietschen die Bremsen nach nur wenigen Minuten Fahrtzeit; die automatische Tür öffnet sich. Noch bevor ich sie sehe, kann ich sie riechen: Ein Schwall schweren, lavendellastigen Parfüms umhüllt mich; überkommt mich wie ein Tsunami. Kaum bleibt mir Luft zum Atmen. Bei meinem Glück setzt sich die schwer betaschte, nerzverhüllte ältere Dame in Schwarz mit Schirm auf den einzig freien Sitz mir direkt gegenüber. Mit einem Lächeln, das sich schon jahrelang auf ihrem Gesicht befinden muss, lässt sie sich mit einem lauten Seufzer auf den unter den Polstern liegenden Sprungfedern fallen und rammt ihren Regenschirm im bräunlichen Karodesign knapp an meinem linken Bein vorbei in die Leere des Raumes unter meiner Sitzbank. Verzweifelt versuche ich, einen anderen Geruch außerhalb der Eau-deToilet-Wolke auszumachen. Ein Hauch altes Leder, der ihren zahlreichen Koffern, Täschchen und Taschen entströmt, findet den Weg in meine geplagte Nase. Ich versuche angestrengt, mich nur darauf zu konzentrieren. Ein Kribbeln steigt den Rachenraum hoch, bahnt sich seinen Weg durch die Nebenhöhlen, um sich dann mit einer gewaltigen Explosion seine Bahn zu brechen.
Sie wünscht mir Gesundheit. Toll, denke ich, während ich ihr stumm zunicke. Jetzt bloß keine gezwungene Konversation. Ich habe nur geniest. Typisch für mich, atypisch für jede Frau, habe ich mal wieder keine Tempos dabei. Ich merke, wie sich der Rinnsal langsam seinen Weg von den momentan überproduzierenden Drüsen nach draußen bahnt. Mist, auch das noch. Stolz hin oder her, das gute Benehmen siegt; ich frage sie nach einem Tempo. Freundlich reicht sie mir sogar zwei. Wie großzügig, spöttele ich stumm.
Aus ihren bebrillten Augen schaut sie mich gütig an. Gutes Hautbild trotz des Alters würde meine Kosmetikerin sagen; perfekt geschminkt. Ein Hauch von Rouge und darauf abgestimmter Lippenstift zieren das Gesicht der alten Dame. Etwas nervös fragt sie mich, wann wir in Kopperberg ankommen. Kopperberg - mein Geburtsort. Ob ich will oder nicht, tief in meinem Inneren horcht etwas auf. Hat sie tatsächlich den Namen dieser Stadt genannt? Mit einem Mal kommen tausend Bilder in mir hoch. Nur selten fahre ich nach Kopperberg. Und nur, weil es mich dienstlich zufällig dorthin führt. Aber wenn, bin ich immer ein wenig aufgeregt. Könnte es doch sein, dass ich jemanden treffe, der mir was erzählt von damals. Von der Zeit, von der ich einfach zu wenig weiß. Jemand, der das Puzzle vervollständigen könnte. Schließlich fehlen mir wichtige Teile meines Lebens. Der Rand, der Rahmen. Deswegen falle ich ja auch so oft da raus.
Ich nenne ihr die Ankunftszeit, die ich genau kenne, weil auch mein Weg dorthin führt. Beruhigt lehnt sie sich in ihren Sitz. Ich beobachte sie unauffällig aus den Augenwinkeln heraus. Meine Gedanken verselbständigen sich.
Herrgott, ermahne ich mich schweigend. Jetzt drehst Du wieder mal am Rad – am Rad der Vergangenheit. Nun frag schon. Irgendwas. Es ist die Gelegenheit. Die Gelegenheit mehr über dich und deine ersten Lebensjahre zu erfahren.
Verstohlen schaue ich mir mein Gegenüber noch einmal genauer an. Ich schätze sie auf Mitte/Ende sechzig. Ich bin fast fünfundvierzig. Vom Alter her könnte es passen. Sie trägt eine Brille. Auch ich habe Probleme mit dem Sehen. Aber könnte sie wirklich so aussehen? Würde jemand, durch dessen Adern das gleiche Blut fließt, so riechen?
Los, nun frag schon! Für Dich ist das wichtig; für sie nur Small Talk. Verwickle sie in ein harmloses Gespräch, was sie am Ziel will, ob sie dort jemanden besucht oder ob sie sogar vielleicht selbst dort her kommt.
Nein, unterbreche ich mich streng, dass kann nicht sein, das darf nicht sein. Sie hat so gar nichts von mir. Absurd, irgendwelche Gemeinsamkeiten in meine Beobachtungen zu interpretieren! Wann höre ich endlich mit diesen Hirngespinsten auf: Bei jeder sich bietender Gelegenheit nach etwas zu suchen, dass mich meinen Wurzeln näher bringt.
Schweigend sitzen wir uns gegenüber. Sie nestelt in ihrer altmodischen Handtasche nach einem blütenweißen, mit Spitze umhäkelten Taschentuch, um umständlich die Brillengläser damit abzureiben, die sie vorher zur besseren Schmutzlösung angehaucht hat. Wann habe ich das letzte Mal meine Brille geputzt? Ihre Zähne scheinen noch ganz in Ordnung. Sehen noch so aus, als wären es die Zweiten. Mit den Zweiten beißt man besser, witzele ich stumm.
Ohne mein Zutun drängt sich plötzlich ein Lufthauch an meinem Kehlkopf vorbei, fügt sich durch Kontakt mit meinen Stimmbändern zu hörbaren Worten:
„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie frage, aber kommen Sie aus Kopperberg?“.
Sofort schimpfe ich mit mir selbst wegen dieses ungewollten Ausbruchs. Ich will die Antwort nicht wissen! So oder so wird es die falsche sein. Oder wird sie doch eine Tür zu meiner Vergangenheit öffnen?
Wenn die Frau sich über meine Frage wundert, lässt sie es sich nicht anmerken. Sie schüttelt fast bedauernd den Kopf.
Nein, sie besuche nur Bekannte dort. Sei schon seit ein paar Wochen in ganz Deutschland unterwegs. Komme selbst aus Hamburg.
Also keine nennenswerte persönliche Verbindung zu Kopperberg. Ich höre mich selbst sagen: „Oh, wie interessant; da haben Sie ja sicher schon eine Menge erlebt.“ Zu mehr Konversation bin ich nicht mehr fähig.
Mit einem Mal lässt meine Anspannung nach. Ein tiefer innerer Seufzer macht sich in mir breit. Ich fühle mich wie ein praller Ballon, dem plötzlich alle Luft entweicht. Ich werde schlagartig müde. Hoffnung habe ich mir gemacht. Zehn Minuten lang. Zehn Minuten mein Innerstes in Aufruhr. Ich fühle mich, als hätten mich die letzten zehn Minuten mindestens einen Tag voller Energie meines Lebens gekostet. Ich sollte das lassen, bin doch eigentlich schon zu alt für so was. Sollte mich längst damit abgefunden haben.
Ein halbes Leben komme ich schon mit dieser Ungewissheit über meine Herkunft zurecht. Albern, zu glauben, ausgerechnet in einem ungemütlichen Abteil der Deutschen Bundesbahn auf Vorfahren oder Wegbegleiter von mir zu treffen, die außerdem nicht einmal einen wohligen Duft ausströmen.
Ich beschließe das zu tun, was ich immer getan habe: Ich lasse meiner Fantasie freien Lauf. Denke mir fröhliche Bilder über meine unbeschwerten ersten Lebensjahre und ertappe mich nach wenigen Sekunden bei dem Gedanken, dass doch alles Selbstlüge ist. Aber auch ein anderer Gedanke verschafft sich Platz: Vielleicht, eines Tages, wenn Ich es gar nicht erwarte, werde ich einem Menschen begegnen, der meine Lücken füllt. Dann, wenn ich am wenigsten damit rechne...

Letzte Aktualisierung: 22.03.2008 - 16.45 Uhr
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