'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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April 2008
Begegnung auf dem Parnaß
von Karl Plepelits

Wer sagt, daß die alten Götter tot sind? Ich kann jedem, der es hören will, versichern, daß sie leben und sich bester Gesundheit erfreuen. Wir merken es nur nicht immer. Doch von Zeit zu Zeit erscheinen sie, nicht anders als die heilige Maria, auserwählten Sterblichen. Von einer solchen Erscheinung habe ich hier zu berichten.
Christine und ich sind nicht nur unzertrennliche Freundinnen, sondern auch unverbesserliche Griechennärrinnen. Und darum versteht es sich für uns von selbst, daß wir unsere Urlaube nach Möglichkeit erstens gemeinsam und zweitens in Griechenland verbringen, aber nicht etwa auf der faulen Haut liegend und diese in der Sonne braten lassend, sondern wie weiland Iphigenie das Land der Griechen mit der Seele suchend – mit der Seele und mit den eigenen Füßen. Und so bestiegen wir zuletzt den Parnaß, den heiligen Berg zweier Götter: des Apollon und des Dionysos.
In der hochgelegenen Schutzhütte hatten wir übernachtet, waren, mit Taschenlampen bewaffnet, lange vor Sonnenaufgang aufgebrochen und hatten beim ersten Morgengrauen das Gipfelkreuz erreicht. "Hier", so unser Reiseführer, "erwartet der Besucher, warm eingepackt, das großartige Schauspiel des Sonnenaufgangs."
Indes, wir dachten gar nicht daran, uns warm einzupacken. Schließlich gibt es doch noch ein weit wirkungsvolleres Mittel, die nächtliche Kälte abzuwehren.
Als Griechennärrinnen hatten wir selbstverständlich unseren Pausanias, einen antiken Reiseführer aus dem 2. Jahrhundert, mit. Und darin lasen wir folgendes: "Es ist selbst ohne Gepäck mühsam, bis zu den Gipfeln des Parnaß aufzusteigen. Höher als die Wolken sind die Gipfel, und die Thyiaden tanzen auf diesen zu Dionysos' und Apollons Ehren." (Thyiaden hießen die Frauen, die dieses Fest alle zwei Jahre feierten; so Pausanias an einer anderen Stelle.)
Also beschlossen wir, uns mitnichten warm eingepackt auf die eiskalten Felsen zu setzen, sondern es den Thyiaden gleichzutun: wir zogen uns auf eine ebene, ungefährliche Rasenfläche ein kleines Stück unterhalb des Gipfelkreuzes zurück, umfaßten uns gegenseitig und begannen in dem schwachen Dämmerlicht ausgelassen zu tanzen. Und das hielt uns die Kälte zuverlässig vom Leibe.
Da: ein Blitz! Aber der Himmel ist doch die ganze Zeit sternklar gewesen, und jawohl: es zeigt sich auch jetzt kein Wölkchen am Himmel!
Ein erneuter, noch hellerer Blitz! Und nun erkennen wir, nur wenige Schritte von uns entfernt, hell leuchtend, wie von Scheinwerfern angestrahlt, in merkwürdige lange Gewänder gekleidet, zwei umwerfend gutaussehende männliche Gestalten. Der eine betrachtet uns mit ernstem Gesicht. Der andere hingegen lächelt uns freundlich an und sagt in schönstem Altgriechisch: "Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr habt uns hier nicht erwartet."
Hierauf der Ernste, ebenfalls in wunderschönem Altgriechisch: "Ja, ihr glaubt sicher, wir seien tot."
"Sind wir aber nicht!" so wiederum der andere, fröhlich kichernd.
Und der Ernste: "Nein, wir sind nicht tot und haben unser Wohlgefallen an euren Tänzen."
Und der Fröhliche: "Wie kleine Kinder haben wir uns an ihnen gefreut. Ihr müßt wissen, daß wir das jetzt schon sehr lange nicht mehr erleben konnten. Früher haben die Frauen ja regelmäßig zu unseren Ehren hier getanzt. Aber seitdem euer Gott praktisch die ganze Macht an sich gerissen hat ..."
Er verstummt seufzend mitten im Satz und blickt uns mit einem Ausdruck des Bedauerns an, so als ob wir jetzt an der Reihe wären, etwas zu sagen.
Nun, meine Zunge ist völlig gelähmt. Christine hingegen stammelt, in nicht ganz so schönem Altgriechisch: "Aber wer ..." und verstummt sogleich wieder. Der Fröhliche schenkt ihr ein strahlendes Lächeln und sagt: "Ah, du hast recht. Wir haben uns noch nicht vorgestellt. Das hier ist Gott Apollon, und ich bin Dionysos."
"Apollon und Dionysos?" stammelt Christine. "Das ist ja ... Und was ist, seitdem unser Gott ..."
"... die Macht an sich gerissen hat? Seitdem tanzen eben die Frauen nicht mehr für uns."
Und der Ernste, also Apollon: "Seitdem hören die Menschen nicht mehr auf uns. Und seitdem treiben sie und treibt die Erde auf den Untergang zu."
"Auf den Untergang zu?" entfährt es mir da, und Christine ruft: "Ist das wahr?"
"Aber sicher", so der Fröhliche, also Dionysos. "Apollon ist ja prophetisch begabt."
Und dieser: "Glaubt mir, euer Gott trägt sich mit der Absicht, die Menschheit zu vernichten, weil er endlich allein die Welt beherrschen möchte. Weil er seine Macht immer noch mit anderen Göttern teilen muß. Weil er diese darum, genau wie uns Olympier, entmachten möchte. Weil er endlich das 'Reich Gottes' – so nennt er es – einführen möchte, was er übrigens schon einmal versucht hat. Das war, als er seinen Sohn aussandte, um das Christentum zu offenbaren und damit unendlich viel Hader in die Menschheit zu tragen. Aber damals waren wir noch frei und mächtig und bemühten uns mit Erfolg, sein Vorhaben zu verhindern. Freilich war eben dies wahrscheinlich der Grund, warum er daraufhin einen Propheten aussandte, um den Islam zu offenbaren und den Hader innerhalb der Menschheit zu vervielfachen, offenbar in der Erwartung, daß durch die Selbstzerfleischung der Menschheit deren endgültiger Untergang vorbereitet werde. Gleichzeitig setzte er buchstäblich Himmel und Hölle in Bewegung, um seine eigentlichen Konkurrenten, die übrigen Götter, immer weiter zurückzudrängen und bei seinem schrecklichen Vorhaben freie Hand zu haben. Und wie soll die Menschheit vernichtet werden? Nun, um es kurz zu sagen: bedeutend effektiver, als es das letzte Mal vorgesehen war. Damals sollte sie durch verschiedene Naturkatastrophen wie Hungersnöte und Erdbeben vernichtet werden und daneben auch noch durch Kriege – was man damals eben unter Krieg verstand. Seither hat die Menschheit, zu ihrem Nutzen wie zu ihrem Schaden, eine ganze Menge dazugelernt und ist daher mittlerweile durchaus imstande, sich selbst zu vernichten. Genau das ist nun geplant: sie soll sich ganz einfach selbst vernichten. Und sie ist tatsächlich bereits auf dem besten Weg, sich selbst zu vernichten, indem sie seine Gebote befolgt."
"Die zehn Gebote?" wirft Christine ein.
"Nein. Sein allererstes Gebot. Es findet sich gleich am Anfang seiner Heiligen Schriften und lautet: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan."
"Ach so!"
"Nun, genaugenommen sind das zwei Gebote. Beginnen wir mit dem zweiten: Machet euch die Erde untertan. Wenn ich mir überlege, daß dies eine uralte Offenbarung eures Gottes ist, kommt mir der Verdacht, daß er vielleicht schon von allem Anfang an geplant hat, die Menschheit irgendwann zu vernichten. Sonst hätte er nämlich seinen Gläubigen nicht das Gebot gegeben, sich die Erde untertan zu machen, sondern sie zu hegen und zu pflegen wie ein unersetzliches Kleinod, sie zu schützen und zu bewahren wie ein kostbares Erbe, das sie der jeweils nächsten Generation noch kostbarer hinterlassen mögen. Aber nein, er gebietet ihnen, sich die Erde untertan zu machen. Und was das bedeutet, sehen wir nun, nachdem seine Gläubigen an Zahl und Einfluß maßlos überhandgenommen haben, nur allzu deutlich: die Erde wird in immer noch zunehmendem Maße untertan gemacht, und das heißt: versklavt, ausgebeutet, vergewaltigt, mißhandelt, geschändet, besudelt, verpestet, verwüstet, verwundet, zerstört; und wer Augen hat, der sieht, daß es ihr nicht anders ergeht als einem Untertan, einem Sklaven, der zu lange über Gebühr ausgebeutet wird. Davor haben wir Olympier, solange wir konnten, unermüdlich gewarnt und Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur und ihren Werten stets als Hybris verurteilt. Aber dann haben sich, wie gesagt, immer mehr Menschen eurem Gott und seinen Lehren zugewandt, und unsere Lehren wurden vergessen. Und das ist jetzt der Erfolg: die Erde blutet aus tausend Wunden und kann die Menschheit bald nicht mehr tragen, zumal diese in der Tat eine immer schwerere Last wird.
Und damit kommen wir zum ersten Teil jenes Gebotes: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde. Nun, in welchem Maße sich die Gläubigen diesen göttlichen Auftrag zu Herzen genommen haben, finde ich nahezu unglaublich. Die Erde könnte diese Last bald wohl auch dann nicht mehr tragen, würde sie nicht aus tausend Wunden bluten. Und das Bestürzende daran: diese Last wird immer noch schwerer. Die Menschen mehren sich immer noch und sogar immer schneller und füllen die Erde immer mehr und in immer erschreckenderem Ausmaß. Und damit das so bleibt, sorgt euer Gott dafür, daß gerade in den mächtigsten Staaten der Welt gottesfürchtige Staatslenker regieren, die allen Bemühungen, der zunehmenden Zerstörung der Erde Einhalt zu gebieten, einen Riegel vorschieben. Überdies veranlaßt er seine Stellvertreter auf Erden, die Gläubigen beständig an diese seine Gebote zu erinnern und ihnen strengstens zu verbieten, irgend etwas gegen ihre überschäumende Fruchtbarkeit zu tun. Es gibt ja zahlreiche Möglichkeiten, diese einzudämmen."
"Und wer wüßte das besser als ihr beide?" wirft Dionysos kichernd ein. Ich aber spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt, und sehe, daß auch Christine flammendrot wird.
Apollon aber fährt, ohne eine Miene zu verziehen, fort: "Ja, aber die erklären sie eben sämtlich für schwere Sünde und bedrohen ihre Anwendung mit dem ewigen Feuer der Hölle. Und damit bewirken sie, daß die Übervölkerung der Erde rasant fortschreitet. Dies erfüllt uns mit großer Sorge und sollte auch alle Menschen mit großer Sorge erfüllen."
Apollon verstummt, hebt die Arme, wie um uns zu segnen, und ist im nächsten Augenblick verschwunden; desgleichen Dionysos. Gleich darauf beginnt über dem östlichen Horizont die Sonne aufzugehen.

Letzte Aktualisierung: 16.04.2008 - 20.23 Uhr
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