Der Cousin im Souterrain
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Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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April 2008
Die Schwatte
von Karl-Otto Kaminski

Die Jugendlichen heute werden aber auch immer egoistischer. Uns hat man damals beigebracht, älteren Menschen mit Hochachtung zu begegnen, höflich zu sein, und so weiter. Sobald ein graues Haupt in die Straßenbahn stieg, hatten wir aufzuspringen und ihm einen Sitzplatz anzubieten. Aber das war einmal. Tempi passati …
Nur ungern gewöhne ich mich an die rauen Sitten der Jetztzeit. Aber es muss wohl sein. Ich setze also meine Ellbogen ein, trete einem ungewaschenen Flegel kräftig auf die Designer-Joggingschuhe. Dann drücke ich eine fehlfarbene Kröte mit gepiercter Unterlippe und freiem Blick auf ihr Nierenbecken rücksichtslos von ihrem Sitz, dass ihr vor Schreck die Hörstöpsel ihres MP3-Players aus den ungewaschenen Ohren fallen. Hier sitze jetzt ich!
Dachte ich. Doch dann krabbelt an der nächsten Haltestelle ein verkrümmtes Mütterlein in die Bahn. Mindestens 85, wenn nicht mehr. Mühsam greift sie nach einer der Festhaltestangen, als die Bahn anruckt. Natürlich bietet ihr niemand von den jungen Schnöseln einen Platz an. Die haben doch so unendlich viel zu tun. Quatschen intensiv mit ihrem Sitznachbarn, müssen dringend eine SMS an die Freundin absetzen, mit der sie vor dreieinhalb Minuten noch ausgiebig geredet haben. Oder sie betrachten sich nach einem nervigen Schulalltag erschöpft von innen …
Ostentativ stehe ich auf und biete der alten Frau meinen Platz an. Irgendwer muss diesen verzogenen Gören doch mal zeigen, was Höflichkeit ist. Dankbar nickt die zerbrechlich wirkende Greisin und setzt sich.
An der nächsten Haltestelle wird es noch voller. Ich drängle mich durch in den hinteren Teil des Wagens in der albernen Hoffnung, dort vielleicht noch einen Sitzplatz zu ergattern. Natürlich ist auch hier alles belegt, meist mit laut schwadronierenden „Kids“. Als die Bahn wieder ruckend anfährt, bekomme ich gerade noch eine der Halteschlaufen zu fassen, die von der Decke bammeln. Gott sei Dank bin ich ja noch kein alter Mann. Beinahe noch in den besten Mannesjahren, denke ich, als mich das entzückende Augenpaar einer jüngeren Dame streift. Hat die mich jetzt wirklich nur zufällig damit angesehen, oder blitzte da nicht doch ein gewisses Interesse auf? Vergeblich hoffe ich, dass ihre Augen noch einmal in meine Richtung blicken. Aber sie schaut nicht mehr rüber, zieht gelangweilt aus ihrem grünen Stoffrucksack ein Taschenbuch und beginnt zu lesen.
Ich drehe mich enttäuscht um. Auf der anderen Seite des Mittelganges sitzt neben einem schlafenden jungen Bengel mit Ohrring und löchrigen Jeans eine ältere Frau, deren Anblick mich stutzig macht. Mir scheint, als müsste ich sie kennen. Doch! Die habe ich schon mal irgendwo gesehen. Aber wo? Und wann?
Zwei Haltestellen lang zermartere ich vergeblich mein Gehirn. Endlich, während der Fahrer vor irgendeinem Hindernis brutal abbremst und ich alle Kraft brauche, um mich auf den Beinen zu halten, fällt der Groschen. Das da drüben ist doch Elvira, „die Schwatte“! Natürlich! Kann niemand anders sein als die Schwatte, der Traum vieler schlafloser Nächte, meiner und vieler meiner Jugendfreunde. Wir sind ein Jahrgang, Elvira und ich. Sind eine Weile zusammen in die gleiche Klasse gegangen, gemeinsam zur Konfirmation.
Ein paar Jahre später hatte sie sich dann zu einer wirklichen Traumfrau entwickelt. Lange, schlanke Beine hatte sie. Beine bis zum Hals, schwärmte mein Freund und Rivale Manfred. Eine Figur wie ein Mannequin. Dazu gehörte damals neben null Bauch auch ein üppig wohlgeformter Busen. Die knochigen Twiggy-Auswüchse wurden erst später erfunden. Märchenhaft milchweiße, glatte Haut hatte Elvira damals und lackschwarze Haare. Natur, nicht gefärbt. Deswegen nannte man sie ja auch die Schwatte.
Mühsam reiße ich mich von dem Traumbild los, das meine Erinnerung in mir malt. Das also ist aus Elvira geworden, denke ich mitleidig. Eine alternde Frau, deren Figur inzwischen stark vom damaligen aber auch vom heutigen Schönheitsideal abweicht. Reichlich Bauch hat sie bekommen und bedauerliche Rettungsringe über den Hüften. Sie hält sich schlecht, lässt sich vornüber sacken. Der zauberhafte Busen? Da fordert die Schwerkraft mächtig ihren Tribut. Hier sollte sie vielleicht wirklich mal etwas nachhelfen. Ihre Beine kann ich nicht sehen. Die stecken in irgendwelchen alltagsgrauen Hosen. Aber das Gesicht sehe ich. Um die schmale Nase und den farblosen Mund graben sich jede Menge Runzeln. Auch um die Augen. Die Glut früherer Tage scheint darin erloschen. Ihr Teint sieht nicht sehr gesund aus, eher etwas grau. Wahrscheinlich raucht sie, wegen der vielen überzähligen Pfunde.
Elvira tut mir leid. Diese „Schwatte“ habe ich vor etlichen Jahren heftigst umschwärmt, besser gesagt vor einigen Jahrzehnten. Angebaggert heißt das wohl heute. Umbalzt habe ich sie bis zur Lächerlichkeit, aber leider umsonst. Dass es meinen Freunden ebenso ging, war mir nur ein dürftiger Trost. Später haben wir uns dann nach und nach irgendwie alle aus den Augen verloren. Vielleicht kann sie sich heute gar nicht mehr an diese alten Zeiten und an meine vergeblichen Bemühungen um ihre Zuneigung erinnern.
Als sie jetzt den Kopf ein wenig auf die Seite legt und mit leerem Blick auf die Zeitung ihres Gegenübers schaut, ohne die wirklich wahrzunehmen, fällt eine matte, graue Strähne über ihre linke faltige Wange. Ich versuche meinen Kopf so zu halten, dass diese bedauernswerte betagte Frau mich möglichst nicht erkennt, während ich sie fasziniert beobachte. Mein Gott, denke ich, was das Altern doch aus manchen Menschen macht!
Als hätte sie meine Gedanken gehört, hebt die Schwatte plötzlich den Kopf und sieht mich an. Wetterleuchtet da nicht irgendwo in ihren Augen doch noch etwas von dem Feuer längst vergangener Zeiten? Wehmütig durchfährt mich die Erinnerung an die Faszination, die Elvira vor Dezennien auf mich ausgeübt hat, an ihren exotischen Reiz und den Schmerz unerfüllter Sehnsucht.
Jetzt hat sie mich erkannt, denke ich erschreckt. Nun wird sie mich ansprechen. Wie soll ich mich verhalten? Was werde ich sagen? Hat es überhaupt einen Sinn, mit ihr zu reden?
Aber Elvira sagt gar nichts. Etwas schwerfällig stemmt sie sich hoch, greift nach der schäbigen kleinen Handtasche und bietet mir, ohne ein Zeichen des Wiedererkennens, mitleidvoll lächelnd ihren Sitzplatz an.

Letzte Aktualisierung: 19.04.2008 - 20.52 Uhr
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