Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Corinna beugte sich über die Frau, die mit merkwürdig verrenkten Armen und Beinen vor ihr auf dem Boden lag und sie aus trüben Augen anblickte. Der Bus, der die Frau beim Anfahren an die Haltestelle frontal erwischt und zu Boden geschleudert hatte, stand jetzt etwas abseits, schräg auf der Bordkante. Ringsum erschallte lautes Stimmengewirr. Mit abgehackten Sätzen wurde ein Krankenwagen geordert. Eine schrille Stimme beklagte unermüdlich den schrecklichen Unfall. Eine andere bemerkte: „Das sah ja fast so aus, als wenn sie geschubst worden wäre.“ Irgendjemand antwortete: „Kein Wunder, bei dem Gedränge, das hier immer herrscht. Das musste ja mal passieren.“ Corinna kümmerte sich nicht um die Leute ringsherum. Sie kniete jetzt vor der verletzten Frau, die ihre Lippen geöffnet hatte, als wolle sie etwas sagen. Kniete vor der Frau, die sie so viele Jahre nicht gesehen hatte und die vor kaum zehn Minuten so unvermittelt aus der Menge aufgetaucht war. Jasmin. Ihre ehemals beste Freundin und Vertraute.
Der Tag kam schneller als erwartet.. Der Tag, den sie vorausgeahnt und befürchtet hatte. Der Tag, der alles zerstörte. Und dieser Tag war ihr 30. Geburtstag.
Phillip hatte ihr gesagt, es würde eine Überraschungsfeier geben, und sie solle nach der Arbeit direkt zu ihm nach Hause kommen. Nun hatte Corinna von ihrem Chef eine Stunde geschenkt bekommen. Beschwingt von dem Glas Sekt, dass sie kurz zuvor mit ihren Kollegen getrunken hatte, sprang sie aus dem Auto. Vielleicht konnte sie Phillip noch ein bisschen bei den Vorbereitungen helfen. Das zumindest würde sie zu ihm sagen, wenn sie jetzt so unverhofft vor der Tür stand. Insgeheim hoffte sie auf ein wenig Zeit mit ihm. Allein. Nur sie beide. Etwas ungestörte Zeit an diesem besonderen Tag.
Sie wollte gerade den Wagen abschließen, als sie Jasmin aus der Haustür kommen und die Treppe hinuntereilen sah. Sie wirkte aufgeregt und hatte irgendetwas Geheimnisvolles an sich. Hinter ihr trat Phillip aus der Tür. Er wirkte seltsam zerzaust und von einer gewissen Leichtigkeit umschwebt. So wie sie selbst ihn noch nie gesehen hatte. Wieso zeigte er sich Jasmin in dieser lockeren Art?
In diesem Moment drehte Jasmin sich um und sprang die Stufen zurück zu Phillip, der ihr etwas zugerufen hatte. Corinna duckte sich in plötzlicher Eingebung hinter ihr Auto, denn ihr war ganz und gar nicht mehr nach Gesehenwerden zu Mute. Und tatsächlich, da ..., Corinna fühlte ein Schwert tief in ihren Körper sausen, nahm Phillip ihre beste Freundin in die Arme, drückte sie fest an sich und...- das Schwert begann sich zu drehen - und küsste sie. Corinna musste wegschauen, zu unerträglich war der Schmerz. Phillip und Jasmin! Diese ganze Geburtstags-Geheimniskrämerei bekam einen hässlichen Beigeschmack: Betrug! Das ganze Geflüster und Getuschel, diese verschwörerischen Blicke, die häufigen Termine, die Jasmin und Phillip wie zufällig gleichzeitig gehabt hatten. Oh wie dumm war sie gewesen!
Nein, auf so eine Geburtstagsüberraschung konnte sie verzichten. Sie wollte Phillip und Jasmin nicht mehr sehen. Nie mehr!
Corinna hatte tatsächlich beide nicht wiedergesehen. Sie hatte kurzfristig alle Zelte hinter sich abgebrochen, ihre Wohnung gekündigt und ihre Arbeitsstelle und war Hals über Kopf in eine andere, ferne Stadt gezogen. Danach war es ihr allerdings nie wieder richtig gut gegangen. Sie fand, trotz ihrer guten Ausbildung, keine so gut bezahlte Stelle wie zuvor und musste finanzielle Einbußen hinnehmen. Statt Theaterbesuchen und Treffen mit Freunden, versuchte sie nun, mit dem einen oder anderen Schluck Wein ihre Gedanken und Gefühle zu ertränken, und mit ihnen ihr ganzes früheres Leben.
Gelegentlich durchwühlte sie ihre alten Sachen, trennte sich von Diesem und Jenem und zerriss die alten Fotos in hunderttausend Einzelteile. Jasmin. Sie hatte ihr alles genommen: Phillip, das Glück, ihr ganzes früheres Leben. Dafür sollst Du in der Hölle schmoren!
Und nun waren sie sich begegnet. Kaum fünf Minuten bevor der Bus kam, hatte Jasmin sich durch die wartende Menge geschoben. Corinnas Blut war schlagartig zu Eis gefroren, als sie die vertraute Stimme hörte.
„Corinna! Ich fasse es nicht. Endlich! Was habe ich dich gesucht. Und jetzt stehst du einfach hier an der Bushaltestelle.“ Jasmin starrte sie an, als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern. Mit ihren Secondhand-Kleidern und der Frisur, die lange keinen Frisör mehr gesehen hatte, sah sie für alte Freunde vermutlich wirklich wie eine Außerirdische aus.
„Corinna, was ist denn bloß geschehen?“ Jasmin sah gut aus. Sehr gut sogar. Das strahlende Leben. Ob sie verheiratet war? Kinder hatte? Mit Phillip? Die alte Freundin stand nun direkt neben ihr und der vertraute Duft ihres Parfüms stieg Corinna schmerzlich in die Nase.
„Was ist passiert?“ So leise wie die Frage jetzt gesprochen worden war, so laut dröhnte sie in Corinnas Ohren. Wie konnte sie es wagen? Wie konnte sie nur so eine Frage stellen?
Das Motorengeräusch des herannahenden Busses übertönte Jasmins nächste Worte. Dann ein Schrei und die Freundin stürzte direkt vor den Bus. Bremsen quietschten, Menschen sprangen kreischend zur Seite, der Bus kam schleudernd zum Stehen und Jasmin lag in einer Blutlache auf der Straße.
„Corinna,“ Jasmin hatte all ihre Kraft zusammengenommen, um zu sprechen, „jetzt habe ich dich endlich wieder gefunden, und dann passiert so ein blöder Unfall.“ Sie keuchte schwer. „Warum bist du nur so plötzlich verschwunden? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.“
„Und, bist du nun glücklich geworden, mit Phillip?“ Corinna biss sich auf die Lippen. Sie eigentlich hatte gar nicht sprechen wollen.
„Mit Phillip? Ich und Phillip? Was redest du da?“ Mit leisem Stöhnen schloss Jasmin die Augen. „Ich weiß nicht mal, wo er jetzt wohnt.“
„Ich hab euch doch gesehen. Ihr habt euch umarmt und geküsst. Ausgerechnet an meinem Geburtstag.“
„Ach Corinna,“ Die Stimme wurde immer schwächer, „da hat er sich doch nur dafür bedankt, dass ich ihm das Tischchen besorgt habe. Weißt du noch? Jugendstil, oder so. Passte genau zu deinen Stühlen, aber die alte Dame wollte erst nicht verkaufen.“ Jasmin schien endgültig ihre Kraft zu verlieren. „Brauchte ein bisschen Überredungskunst... gerade noch... rechtzeitig ....deinem ...Geburts...“
Corinna lauschte den Worten hinterher und versuchte deren Sinn zu erfassen. In dem Moment ertönte direkt neben ihrem Ohr eine überlaute Stimme: „Von wegen Unfall! Sie wurde gestoßen. Und die hier war es! Ich hab´s genau gesehen.“ Der Zeigefinger, der so plötzlich von irgendwoher aus der Luft kam, verfehlte nur knapp Corinnas linkes Auge.
„Die da war es!“ Der Zeigefinger sprang immer noch vor ihrem Gesicht herum, als Jasmin längst auf einer zugedeckten Trage fortgebracht wurde. Und er verfolgte sie sogar bis zu dem Streifenwagen, zu dem zwei uniformierte Arme sie nun abführten.
Letzte Aktualisierung: 20.04.2008 - 20.09 Uhr Dieser Text enthält 9387 Zeichen.