Der Zettel von Sabine Sürder
„Es ist soweit, Peter“, sagte sie bei dieser zufälligen Begegnung in meiner Stadt und drückte mir den Zettel in die Hand, als hätte sie nur auf diese Gelegenheit gewartet.
„Was soll das?“, wollte ich fragen, aber sie war schon fort, denn sie kannte mich gut. Wie früher hasste ich es noch immer, wenn sie entschied. Ratlos strich ich über die gepflegten, grauen Stoppeln an meinem Kinn, warf einen kurzen Blick auf den Zettel und stopfte ihn unwirsch in meine Hosentasche.
Normalerweise fällt es mir leicht, Dinge, die mich belasten, zu verdrängen, gleichsam zu ignorieren, bis sie sich scheinbar auflösen.
Aber der Zettel wog schwer in meinem Gedächtnis. Eine Seite aus einem billigen Notizblock, grau und wiederverwertet.
Dabei gibt es so feine Papiere, handgeschöpft, selten und edel wie Japanpapier, die angenehm in meinen Händen liegen und deren Berührung mich erregt. Ich genieße es, mit meinen Augen und Fingerkuppen über die seidig zarten, glänzend schimmernden oder matt rauen Körper zu streifen. Ich bade in den Farben von Elfenbein über Tonscherbenorange bis Erdbraun, Papier kann mich betören wie der Gang einer Frau.
Der Zettel hingegen war reizlos und unattraktiv, einzig die widerwillig hingekritzelte Botschaft verlieh ihm eine unwiderstehliche Macht. Inzwischen kannte ich die Zahlen, die darauf standen, auswendig.
„Ruf an“, meinte mein Freund Klaus kurz und knapp.
„Feigling“, kommentierte Martha, Klaus’ Frau, ungefragt.
Wie kam sie überhaupt dazu, mir jetzt den Zettel zuzustecken? Nach all der Zeit? Ich hätte ihn zerreißen, wegwerfen und vergessen sollen.
Denn eigentlich war es mir in den letzten zwanzig Jahren gut ergangen.
Gut, in der ersten Zeit danach nicht, aber meine Entscheidung war richtig gewesen. Und ich hatte mich um sie bemüht. Intensiv bemüht, lange bemüht. Vergeblich. Schließlich musste ich mich wieder um mich selbst kümmern, ohne Klotz am Bein. Ich machte noch den einen oder anderen müden Versuch, doch eher aus kosmetischen als aus Gewissensgründen. Plötzlich waren sie verschwunden. Ich forschte nicht nach. In Wahrheit war ich sogar froh.
Ich tat das, wozu ich Lust hatte. Frauen mochten mich und umgekehrt, was ich ausgiebig kostete: ein liebenswerter Schuft, dem seine Freiheit das Wichtigste war. Klaus verstand das. Die meisten Frauen nicht. Sie warfen mir vor, ich sei beziehungsunfähig, egoistisch, ich ließe mich nicht ein, hätte Angst vor Nähe. Ich nickte und machte mich davon.
Manchmal, wenn ich im Halbdunkel mit einer Zigarette in meinem Sessel saß, sorgte ich mich, alt zu werden, allein und einsam zu sein. Dann sprang ich blitzschnell auf, schnappte meine Jacke, lief die Treppen hinunter, schritt ein paar Blocks durch die Stadt und stieß die Tür zu meiner Stammkneipe auf.
Wenn Martha wieder einmal einen herben Seitenhieb auf Klaus führte, schaute mich dieser an, als dächte er ‚du Glücklicher’.
Ich war mein eigener Herr. Wenn ich wollte, konnte ich mitten in der Nacht aufstehen und arbeiten. Ich konnte reisen, spontan, kurzfristig, ohne Plan und Ziel, was ich aber nie tat, weil mir die Vorbereitungen dazu zuwider waren. Ich verbrachte Stunden damit, über Dinge nachzudenken, die es nicht zu erklären gab. Und wenn ich Lust hatte, schlief ich mit einer Frau. Glück, ja. Ich hatte Glück.
Allerdings gab es vor einigen Jahren einmal eine Untiefe in meinem Leben, die heftig an mir zerrte und mich hinab zog, bis ich fast darin ertrunken wäre. Ich fieberte, hustete rau und litt unter diffusen, schmerzenden Ängsten, die meine Gedanken überfielen, fesselten und quälten, dass ich glaubte, verrückt zu werden. Meine Widerstandskräfte lagen geschlagen am Boden wie eine besiegte Armee. Diese Schwäche entführte mich über Monate aus meinem Leben und machte mich beinahe mürbe. Irgendwann rappelte ich mich hoch, tauchte wieder auf und war seitdem vorsichtiger mit Alkohol und Zigaretten, mit der Arbeit und den Frauen nicht. Heute deutete ich es als Mitte-des-Lebens-Krise und machte lachend Witze darüber.
Bei all dem fielen sie durch das Sieb meiner Vergangenheit. Nicht einmal in meinen Träumen kamen sie vor.
Nun brannte der Zettel Löcher in meine Tasche. Meine Verdrängungskraft ließ mich im Stich. Es bohrte und nagte in mir.
„Ruf an, Peter“, wiederholte Klaus.
„Du hast recht“, antwortete ich, strich langsam über die gepflegten, grauen Stoppeln an meinem Kinn und tat es nicht.
Was hätte ich sagen sollen? Wie würde die Reaktion sein? Es war unmöglich. Noch nie hatte ich mich wie eine gespannte Bogensehne gefühlt, die den Pfeil nicht abfeuerte. Ich redete mir ein, dass es zwecklos sei und lenkte mich ab. Unzufrieden bastelte ich an meinen Entwürfen, ging aus und schlug die Zeit tot.
Klaus zuckte mit den Achseln. Martha warf mir verächtliche Blicke zu. Manchmal verschwand der Zettel für Augenblicke aus meinem Gehirn.
„Bist du denn nicht ein bisschen neugierig?“ Martha konnte ihre kaum verbergen.
Ich schüttelte lügend den Kopf und dachte:
„Was geht es Martha an?“
Langsam wurde der Zettel anstrengend. Wie ein mahnendes Ausrufezeichen tauchte er immer wieder in meinen Gedanken auf. Ich versuchte, mögliche Szenarien durchzuspielen. Doch meist scheiterte ich bereits an dem imaginären Freizeichen im Telefon. Ich konnte mir nicht vorstellen, was dann geschehen würde. Sonst reizte mich Ungewissheit durchaus, sie forderte mich heraus, machte mich munter. Ich hatte Spaß am kalkulierbaren Risiko. Jetzt war die kraftstrotzende Phantasie, die ich stolz als meine Erinnerungen ausgab und die meine Kunden zu verblüfften Lobeshymnen verlockte, blockiert.
Mein Gedächtnis half mir auch nicht aus dem Dilemma. Soweit ich mich erinnerte, hatten wir eine schöne Zeit gehabt. Und wir liebten uns. Ihre Küsse schmeckten wie durstige Schlucke aus einem kalten Gebirgsbach nach einer langen Wanderung und zauberten mir eine prickelnde Gänsehaut. Das Klacken ihrer schlanken Absätze auf den Stufen am Nachmittag, die festen Muskeln ihrer Waden, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Ja, daran erinnerte ich mich. Bis sie schwanger wurde. Danach wurde es schwierig, kompliziert.
Nicht, dass ich Kinder nicht mochte. Nur in meinem Leben hatten sie wenig Platz. Mich grauste es beim Anblick der süßen, winzigen Babysachen, die sie mit fröhlicher Begeisterung nach Hause brachte. Ich weigerte mich, an geburtsvorbereitenden Kursen teilzunehmen oder sie zu Arztbesuchen zu begleiten. Unsere Beziehung kühlte ab. Bei der Geburt stand ihr eine Freundin bei, trotzdem war ich bereit, Verantwortung zu übernehmen. Ich kümmerte mich um meine kleine Tochter, so gut ich konnte. Ich vergrub mein Gesicht in ihren weichen Falten, schnupperte ihren unvergleichlichen Duft und warf sie hoch in die Luft, dass sie laut juchzte. Ihrer Mutter reichte es nie aus. Sie schrie und heulte, ich hielt den Mund und arbeitete. Dann war ich es leid und zog aus. Sie wollte keinen Kindsvater, der sich nur die Erziehungsrosinen herauspickte, also unterband sie den Kontakt. Unsere Tochter war gerade ein Jahr alt geworden. Kurze Zeit später verließen sie die Stadt ohne eine Nachricht.
Zwanzig Jahre danach verwirrte mich der Zettel, machte mich unsicher. Ich musste eine Entscheidung treffen. Ich, der es liebte, möglichst viele Optionen, möglichst lange offen zu halten. Ärger stieg in mir hoch: warum bleiben sie nicht, wie all die Jahre, wo der Pfeffer wächst?
Ich traf mich mit Klaus in der Kneipe, wir tranken, und ich redete. Klaus hörte zu und nickte gelegentlich bedächtig mit dem Kopf.
Später beschimpfte Martha mich am Telefon:
„Du widerlicher, dreckiger Jammerlappen! Schämst du dich eigentlich nicht?“
„Wofür?“, wollte ich Martha fragen, legte dann aber doch auf.
Ich schwankte vor und zurück und wieder vor, bis es mich schwindelte. An manchen Tagen fühlte ich mich beinahe stark genug, um es zu wagen. Dann wieder völlig mutlos und deprimiert. Ich schlich um das Telefon wie ein Kater um die Maus, ich nahm mir vor, einen Brief zu schreiben, ich verfluchte den verdammten Zettel zum millionsten Mal. Ich wurde fahrig und übellaunig.
Klaus betrachtete mich mit Sorgenfalten.
„Was ist so schwierig daran?“
Ich zog meine Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.
Martha bot mir an, anzurufen, fast hätte ich sie gepackt und angebrüllt. Daraufhin zog sie sich beleidigt zurück und behauptete, nie wieder ein Wort mit mir sprechen zu wollen.
Inzwischen war der Zettel zerknittert und ausgeblichen. Die Zahlen waren nur noch mit Mühe zu entziffern. Trotzdem behielt ich ihn, so als ob ich diese Erbse unter der Matratze brauchte.
In der Nacht wachte ich auf und lag da, ohne wirklich konkrete Gedanken zu fassen. Jedenfalls würde ich sie nicht wecken. Ich kam keinen Schritt weiter, aber ich drehte mich auch nicht im Kreis. Mir war klar, was zu tun ist. Entweder – oder. Ich strich langsam über die gepflegten, grauen Stoppeln an meinem Kinn und tat nichts von beidem.
Zwischendurch funktionierte mein Leben normal. Ich hatte eine hübsche, nette Frau näher kennen gelernt, die als Kellnerin in einem meiner Lieblings-Cafés arbeitete, und verbrachte die Zeit damit, meinen Charme spielen zu lassen. Sie strahlte und lachte. Ich flirtete mit ihr, bis ich genug hatte und es mich zu langweilen begann. Die Kellnerin brachte mir weiter meinen Tee an den Fensterplatz.
Insgeheim hoffte ich, es würde vorüber gehen, wenn ich nur warten würde. Es blieb. Der Zettel erfüllte gnadenlos seine Erinnerungspflicht. Ein lästiger Ohrwurm, der sich in meine Gehörgänge gebohrt hatte.
Sogar Klaus verlor die Geduld, und wir verabredeten uns immer seltener. Martha ignorierte mich standhaft.
Ich beschloss, zu handeln, wenn es Zeit war.
Das Telefon klingelt. Ich hebe den Hörer ab und höre mich
selbst mit einem knappen:
„Hallo.“
Am anderen Ende wird gezögert.
Meine Finger tasten in der Hosentasche nach dem dünnen, abgegriffenen Stück Papier. Ich halte die Luft an und mein Herz pocht in den Ohren, dass ich fürchte, taub zu werden.
„Ich bin es, Papa“, sagt dann eine Stimme.
Schnell zerknülle ich den Zettel zu einer kleinen Kugel und befördere sie endlich in den Papierkorb.
Letzte Aktualisierung: 07.04.2008 - 16.38 Uhr Dieser Text enthält 10170 Zeichen.
Druckversion
Amazon.de Widgets