Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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April 2008
Kirschen auf Grieß
von Hajo Nitschke

Weit tasten sich die Gedanken zurück. Fassen Fuß, bekommen Nahrung. Vertraute Straßen und Häuser. Aber auch manche Veränderung nach so vielen Jahren…..

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Regen prasselt aufs Verandadach. Gemütlicher, wenn auch unablässiger Trommelwirbel. Eine kleine Garderobe. Niedriges Holztischchen, eine alte Bank mit noch älteren Kissen. Und darauf Peter, Horstchen und ich. Immer erste Leser von Krögers Hamburger Abendblatt. Letzte Seite, Fortsetzungscomics wie Zorro oder Tim und Struppi. Oder Akim, der Herr des Dschungels, von Lehrer Korthals allerdings auf den Index gesetzt. Daher voll unglaublicher Spannung. So begann meine Liebe zur Literatur. Nichts ist anregender als die gemeinschaft-liche Presseschau beim Staccato eines Schleswig-Holsteinischen Regentropfenpräludiums (Holstein natürlich mit hanseatischem ST).
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Auch Gewitter schweißen zusammen. – Ohrenbetäubende Totenstille. Mit nichts vergleich-bar. Fast unbemerkt eingeschlichen. Hat sich bei alttestamentarischer Finsternis untergehakt. Die Welt geduckt. Ihre Bewohner überbieten sich an Lautlosigkeit. Und diese Schwüle! Greifbare Unerträglichkeit! – Alles rein kommen!!! - Horstchen, sonst gerne etwas schwer-hörig, säumt keinen Augenblick. Ich folge auf dem Fuß. Und da sitzen wir nun mit angeleg-ten Ohren in Krögers Küche, Moltkestraße 23. Frau Kröger schöpft warme Kirschen auf den Grießpudding. Die gespenstische Stille drückt sich immer tiefer ins Haus. Kriecht auf den Esstisch und in den Pudding. Hörbar nur noch das Ticken der Wanduhr. Unwirklicher Kon-trast zwischen Grabesstille und tickendem Jüngsten Gericht. Unerschrockenheit vortäuschend, wagen wir kaum, zu atmen. Blicken uns an. Schauen zu Frau Kröger. Sie sieht unbesorgt aus. Aber Zehnjährige – immer auch Psychologen – wissen natürlich genau, warum. Horstchen zieht den Kopf ein. Das Weichei! Dann gehts los! Von markerschütternden Kanonenschlägen durchgerüttelt das kleine Städtchen an der Pinnau. Dauerbeschuss. Feuer vom Himmel. Ein-schlag im Hof. Auch ich ducke mich, aber nur leicht. Sintflut. Plötzlich klatscht Horstchens Mutter in die Hände: Kinder, lasst die Kirschen nicht kalt werden! Immer praktisch, die Frauen, selbst unter Sperrfeuer! Langsam löst sich die Beklemmung. Weltuntergang – aber köstlich schmeckt es dennoch. Ganz besonders Kirschen auf Grieß.
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Fußball im Marschgras an Uetersens Peripherie am Rand der Hintergärten. Gräben statt Spiel-feldlinien. Zuschauer einige Kühe, braune, weiß gefleckt. Wenig interessiert, mit null Sach-verstand. Unsere Straße gegen die Ostpreußen vom ehemaligen. Ich im Tor, den knappen Vorsprung souverän verteidigend. - Horst-chen, rein kommen!!! - Mal wieder seine Mutter. Wie unpädagogisch! Zum Glück ist Horstchen ja etwas schwerhörig. Hört nur, was er hören will, wogegen aus Beweisgründen nichts zu machen ist. Zahlt sich auch jetzt aus, denn mo-mentan ist er unverzichtbar. Leider währt die Gnadenfrist nur kurz. Peter erscheint, Horst-chens älterer Bruder und manchmal verlängerter Arm der elterlichen Gewalt. Der verlängerte Arm nimmt unseren linken Verteidiger aus dem Spiel, und mit einem Mann mehr können die Ostpreußen kurz vor Spielende ausgleichen. Mütter können so grausam sein! Und verstehen nur unwesentlich mehr vom Fußball als die braunen, weiß gefleckten Kühe.
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Sommer hinterm Deich. Träge hocken wir im Gras. Schauen den vorbeiziehenden Schiffen nach, die Richtung Elbe oder zu uns unterwegs sind. Vielleicht, um in Uetersens kleinem Hafen Getreide aufzunehmen. Oder um Rohstoffe für die Papierfabrik zu bringen. Manchmal Zweimaster, deren Segelspitzen wir sonst aus unseren Fenstern langsam über den fernen Deich vorbei kriechen sehen. Jetzt aber liegen umgekehrt Uetersens Häuser klein und ver-schwommen hinter Koppeln und ungezählten Gräben. Sie haben durch ihr Zurückweichen auch die Linien elterlicher Späher zurückverlegt. So rauchen wir um die Wette und halten Maulaffen feil. - Guten Tag, bitte für meinen Vater eine Schachtel HB. – Wieder einmal gut gegangen! Der Vater weiß von nichts. Ist leider im Krieg gefallen. Die meisten Glimmstängel werden für uns aber von Peter beschafft. Peter ist drei Jahre älter und damit als Anführer ge-setzt. Schüchtert Gegner ein. Plant Logistik von Feldzügen. Deckt unseren Rückzug beim Re-quirieren des Floßes der Mühlenstraßenbande. Steht Schmiere beim Äpfelabholen in Stahls hundebewachter Obstplantage. Kennt alle Überlebenstricks in der Marsch. Großes Vorbild. Unangefochtener Boss der Moltkestraßenkinder. Hat uns aber mit dreizehn zu Gunsten seines ersten Mädchens im Stich gelassen. Und immer lockt das Weib.
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Wie klein meine liebe alte, in Hamburgs Einzugsgebiet gelegene Heimatstadt doch geworden ist, als ich sie langsam durchfahre! Jetzt, nach beinahe fünfzig Jahren. Entfernungen, als Kinderbein-Halbtagsmarsch in Erinnerung, schrumpfen unter den Autorädern zu Kurz-strecken. Es geht fast im Minutentakt. Schule, Hallenbad, Rosengarten. Verschwunden der kleine Laden von Milchmann Früchtenich, dafür in vielen Fenstern Mobilfunkgeräte. Das Hotel dort war früher ein Kino. – Mutti, bitte nur dies eine Mal! Der Film ist auch ganz be-sonders wertvoll! - Der Film hieß Liane, das Mädchen aus dem Urwald. Liane kam aber trotz der alles Wertvolle verhüllenden wirren Haartracht an der eher skeptischen mütterlichen Film-zensur nicht vorbei. Kino gabs nur einmal im Jahr. Das Geld einer Kriegerwitwe war knapp. Reichte auch kaum für den Jahrmarkt, dessen ehemaliger Sandplatz sich jetzt gepflastert prä-sentiert. Drei Groschen, wie in der Oper: Es galt, sorgsam zu investieren. Ach ja, hier nun der Sportplatz! Schon von weitem sonntags die Aahs und Oohs der Menge, wenn der legendäre TSV Uetersen seine Heimspiele austrug. Mein Vorbild der unvergleichliche Torwart Zenker, der sich katzengewandt vor die Gästefüße warf. Einmal aber machtlos gewesen, als ein stäm-miger Halbwüchsiger aus Hamburg namens Uwe Seeler ihm die Bude voll schoss. Ich war dabei, wenn auch wie immer nur als Zaungast. - Am Stadtrand nun schon der Hafen. Marsch und Deich, erstaunlich klein geworden. Nur Bruchteile der in Erinnerung gebliebenen Dimen-sionen. Unbegreiflich, sich hier als Kind den ganzen Tag in grenzenloser Weite umhergetrie-
ben zu haben! Leichte Enttäuschung. Dennoch Schmunzeln beim Gedanken, in damaligen Wintern stundenlang über schnurgerade, zugefrorene Gräben auf rostigen Schlittschuhen dahin geglitten zu sein. Patrouilleposten auf einsamer Wacht in tief verschneiter Taiga: Zarewitsch zwischen Haseldorf und Tornesch. Gewehr über der Schulter, Militärproviant im Mantel (Eishockeyschläger und Schulbrotreste, es steht ein Soldat am Pinnaustrand).
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Zurück ins Städtchen. Zuletzt nochmal die Moltkestraße. Die mittlerweile asphaltierte Fahr-bahn nach wie vor geteilt durch eine gewaltige, natürliche Verkehrsinsel, die wuchtigen Drei-Eichen. Riesige, anscheinend altersresistente Kastanienbäume auf ummauertem Erdsockel. Einst unser Piratenschiff, Schauplatz heroischer Karibikgefechte. Schräg gegenüber Moltke-straße 35, das Haus Oberstudienrats Schmidt. Hier wohnten Mutter und ich zuletzt zehn Jahre lbis zur Umsiedlung ins Rheinland. Im Schmidtschen Haus für uns erstmals Bad und WC mit echtem Toilettenpapier. Oberstudienrat und Plumpsklo schließen sich eben gegenseitig aus! Inzwischen hat der Hausherr gewechselt, der neue kennt mich nicht. Einige Häuser weiter wohnte eine weitere Familie Schmidt. Die Tochter Antje, wenngleich auch etwas älter als wir, war Schwarm aller männlichen Bandenmitglieder von Mühlen- und Moltkestraße bis zum Ostpreußenhaus. So lange, bis alle flächendeckenden Träume durch Peter beendet wurden, der das Rennen um Antje gewann. Sieh da, nebenan das Haus von Krögers! Ich klingele, und wahrhaftig, Frau Kröger selbst kommt herausgewankt. Sehr alt geworden. Sehr weißhaarig und gebeugt. Mit näheren Hinweisen bringe ich mich erfolgreich in Erinnerung, Ich frage, ob es noch Kirschsuppe mit Grießpudding gibt. Frau Kröger zeigt ein feines Urahnenlächeln. Klatscht aber nicht mehr in die Hände wie damals. Keine Kirschen, kein Grieß, und, leider, auch kein Horstchen! Horstchen ist nämlich nach Hamburg gezogen. Hat dort Arbeit und Fa-milie. Drei Kinder, keines schwerhörig, aber auch schon groß und mit eigenem Nachwuchs. Und ja, auch Peter ist weg. Hat nach Itzehoe geheiratet. Natürlich keine Antje, und wie ich denn überhaupt auf die komme. Grüßen Sie bitte schön von mir, sage ich.

Letzte Aktualisierung: 23.04.2008 - 08.49 Uhr
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