Bitte lächeln!
Bitte lächeln!
Unter der Herausgeberschaft von Sabine Ludwigs und Eva Markert präsentieren wir Ihnen 23 humorvolle Geschichten.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Helga Rougui IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Mai 2008
La vie est dure sans confiture - vielleicht doch lieber unbehaust?
von Helga Rougui

Monsieur Martin sagte zu mir: „Dies ist also mein Zuhause“, und ließ mich eintreten.
Halbdämmer empfing mich, einige Lichtstrahlen nur drangen durch die wenigen Ritzen ansonsten fest zugezogener schwerer Samtvorhänge. Ein betäubender Blumenduft lag in der Luft, der sich mit süßlichem Pfeifentabakgeruch mischte - natürlich, auf einem Tisch nahe des großen Erkerfensters standen mehrere Töpfe mit Gardenien, deren Blüten milchweiß im Halbdunkel schimmerten, dazwischen eine Glaskugel mit einem Goldfisch, der stetig seine engen Kreise zog, durch nichts aufgehalten in seiner klaren Flüssigkeit, Sicht bis ins Unendliche und kreisrunde Gefangenschaft.
Manchmal schien mir dieses Glas ein Symbol meines eigenen Lebens.
Und – nach einem erneuten Blick auf das Interieur – stellte sich mir die dringende Frage: wie sollte ich hier als Vorleserin fungieren??? Da war keine Leselampe, kein helles Licht.
Ein großer Raum, elegant möbliert, dunkles Holz, wie es sich für einen gutsituierten Privatier gehörte. Auf einer Anrichte funkelten Karaffen, gefüllt mit blauen, roten, dunkelbraunen Elixieren, daneben, wie lässig hingeworfen, einige ledergebundene Bücher, aus denen goldgewirkte Lesezeichen hervorlugten, etwas weiter standen silberne Rahmen in verschiedenen Größen, aus denen die freudig lächelnden Gesichter der Gespenster längst vergangener Zeiten wie kleine weiße Blumen auf Sepiagrund hervorstachen.
Monsieur Martin hatte die Tür geschlossen und wandte sich mir zu. Plötzlich wurde ich mir seiner Nähe bewußt, er stand genau hinter mir, und ich ging einen Schritt nach vorn, auf den mit grünen Damastdecken überhäuften Diwan zu, und er kam mir nach und sagte: „So setzen Sie sich doch, bevor wir nach nebenan in die Bibliothek –“ und ich dachte noch, als ich in Ohnmacht fiel, hoffentlich falle ich aufs Sofa und nicht daneben.

Ich bewohnte zu dieser Zeit eine Dachkammer im siebten Stock eines ehemals hochherrschaftlichen Mietshauses in einem der besseren Viertel der Stadt, und ich konnte mir vorstellen, was für eine gute Kondition die Dienstmädchen gehabt haben mußten, die diese Etage früher bewohnt hatten.
Und Monsieur Martin war dieser pensionierte, würdig aussehende ältere Herr aus der Beletage, der mir, wenn wir uns vor dem Haus oder beim Betreten desselben begegnet waren, stets einen höflichen „Guten Morgen“ oder „Guten Tag“geboten hatte. Vor drei Tagen hatte er mich gefragt, ob ich seine Vorleserin sein wolle – seine Augen würden immer schlechter und er könnte inzwischen seine Lieblingsbücher nur mehr mit Mühe lesen. Nach dem Tod meiner Mutter konnte ich nicht allzu wählerisch sein, wenn ich auf relativ ehrbare Art ab und an auch etwas Marmelade aufs Brot haben wollte, und mein Job als Putzmacherin reichte kaum für das Nötigste, also sagte ich zu.

Aber nun, durch meine nervlich bedingte Ohnmacht dieses überaus vollgestopften Zuhauses gegenüber, befand ich mich vielleicht in einer verletzlichen Position – diese Situation war überaus heikel und unannehmbar für ein junges Mädchen.
Das Riechfläschchen und der Cognac waren beunruhigenderweise schnell bei der Hand gewesen, und so kam ich umgehend wieder zu Kräften und war auf Kampf eingestellt. Das erste, was ich feststellte, als ich wagte, ihn wieder anzusehen, war, daß er mich sichtlich verwirrt betrachtete
Das verwirrte mich.
War ich nicht das Opfer eines Verführungsversuchs gewesen?
Er sagte: „Bitte gönnen Sie mir einen Augenblick – darf ich?“, half mir sachte in die Senkrechte und setzte sich anschließend auf den grünen Ledersessel mir gegenüber.
„Bitte verzeihen Sie mir, ich scheine Sie vorhin erschreckt zu haben, bitte nehmen Sie meine aufrichtige Entdschuldigung an. Ich hätte Sie vielleicht sofort in die Bibliothek führen sollen. Aber bedenken Sie - Sie könnten immerhin meine Tochter sein – und wenn ich fragen darf, wie alt sind Sie?
„Nächsten Monat werde ich zweiundzwanzig Jahre alt“, erwiderte ich, noch wie betäubt, „ und ich nehme Ihre Entschuldigung an. Ich war eine Idiotin, aber seit dem Tod meiner Mutter bin ich so allein – und weiß manchmal nicht, woran ich bin -“
Er wischte sich umständlich mit einem blütenweißen Taschentuch die Stirn.
„Tatsächlich habe ich sogar eine Tochter, irgendwo auf dieser Welt, aber ihre Mutter hat mich wegen eines anderen verlassen, als sie noch nicht geboren war – später einmal erhielt ich einen kurzen Brief von ihr, daß es ihr gut gehe, daß sie unsere kleine Tochter Mathilde genannt habe und daß ich nicht nach ihr suchen solle -“
„Mathilde? Auch ich heiße Mathilde, Mathilde Dubonnet, und meine Mutter war Revuetänzerin und ist vorigen Monat gestorben…“ – meine Stimme versagte…
„Mathilde? Tatsächlich? Mathilde? Die Tochter von Rosalie Dubonnet?“ In seiner Stimme zitterten Tränen, er erhob sich schwerfällig und kam auf mich zu und nahm mich behutsam in die Arme.
„Heute habe ich, wie es scheint, durch einen unglaublichen Zufall meine Tochter gefunden. Ja, ich bin dein Vater, und deine Mutter war die wunderschöne Rosalie Dubonnet, und sie hatte für alle ein Herz, nur nicht für mich – “
Ich brach in Tränen aus.
„Lieber Vater, so will ich Dir denn eine liebevolle Tochter sein und gutmachen, was meine Mutter an dir verbrochen hat.“
„So heiße ich dich nun willkommen in deinem neuen Zuhause, und hier wirst du in Sicherheit sein, ein gutes Leben führen und keine Angst mehr haben müssen- “

… … …

als sie klein war
hatten ihre eltern ihr und ihrer schwester ein perfektes zuhause gerichtet
es gab schutz vor den bösen da draußen
und nahrung und liebe
und jede menge bücher

vielleicht kam es daher
daß ihr beim wort zuhause eine menge romane aus dem 19. jahrhundert eingefallen waren
die hatte sie alle in diesem zuhause lesen dürfen
die bandbreite reichte von balzac bis marlitt

nun
da sie offensichtlich nicht wie balzac schreiben konnte
entrichtete sie ihren tribut an den tatbestand zuhause im stil der marlitt

denn die junge frau
die wiedergefundene tochter
würde es bald erleben
zuhause kann auch ein zweischneidiges schwert sein
denn immer kommen auch ein paar regeln daher
die unbedingt einzuhalten sind
und wenn man sich befreien will
merkt man daß das oftmals nicht geht

bis
ja bis zu dem zeitpunkt
wo man endlich sein eigenes zuhause hat
wo man endlich frei ist und frei handeln kann
und sich ganz anders als früher sein eigenes zuhause einrichten will

und dann stellt man fest
daß man das wiederholt was man in der kindheit gelernt hat
denn die bösen sind ja immer noch da draußen nicht wahr
und ein zuhause ist doch ein perfekter ort um den anderen beim leben zuzusehen
und so sitzt man jahr für jahr
verläßt sein selbstgestaltetes gefängnis nur um arbeiten und einkaufen zu gehen
und das reichlich

und man häuft sachen an
und das ist wieder eine andere variante

zuhause ist da wo die dinge sind?
und eines tages ist man die dinge
und sucht sich selbst in dieser anhäufung von kleinen ewigkeiten?
aber man wird sich nie dort als teil des ewigen finden
das ist mal sicher
und man stellt fest
daß man sich vor dem tod niemals in einer noch so putzigen vase wird verstecken können

das letzte zuhause auf dieser welt wird für jeden nun mal eine kiste aus sechs brettern sein

… … …

aber es gibt immer einige
die irgendwann genug wut angesammelt haben
und die die mauern durchbrechen

… … …

und damit klappte sie ihren lap top zu
und während sie nach unten in den frühstücksraum ging
dachte sie
wie angenehm es doch war im hotel zu leben

Letzte Aktualisierung: 26.05.2008 - 19.20 Uhr
Dieser Text enthält 7532 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.