Der himmelblaue Schmengeling
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Mai 2008
Muttertag
von Barbara Hennermann

Arlene hätte später nicht mehr sagen können, wann er in ihr Leben getreten war. Irgendwann hatte Kurt ihn nach Hause mitgebracht und als „mein alter Freund Drago“ vorgestellt. Kurts Frau Ruth hatte dem Gast ein Zimmer im Hause hergerichtet, es war ja genug Platz. Dort war er eingezogen und machte seitdem keine Anstalten, das Haus wieder zu verlassen. Arlene hatte nicht so genau zugehört, aber offenbar war sein eigenes Zuhause im Kosovo nicht mehr bewohnbar. Sie wusste nicht viel über den Krieg und das Elend dort, nur so viel sie eben im Fernsehen zufällig mitbekommen hatte. Der Gast selbst sprach kaum von seiner Heimat und es blieb Arlenes Phantasie überlassen, ihn sich als Anführer einer Gruppe Rebellen vorzustellen – wie auch immer das abgelaufen sein mochte.
Drago machte sich in Haus und Garten nützlich, was Kurt und Ruth als echte Erleichterung ansahen. Beide waren beruflich sehr eingespannt und häufig unterwegs. Auch Arlene war mit dem Gast einverstanden, denn er brachte Abwechslung in ihr kleines Leben, das bisher recht eintönig und mitunter einsam verlaufen war. Endlich war praktisch rund um die Uhr ein Mensch da, der ihr Aufmerksamkeit und Anerkennung schenkte. Er half ihr bei ihren Hausarbeiten, unterhielt sie mit lustigen Geschichten und unterstützte sie bei der Umsetzung ihrer manchmal skurrilen Ideen und Pläne. Bereits nach kurzer Zeit war er zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden.
Die Veränderungen kamen schleichend. Zuerst fiel Arlene auf, dass Ruth und Drago sich anders ansahen als bisher, einerseits fordernd, andererseits betont unauffällig. Ruth begann, sich jugendlicher zu kleiden und sorgfältiger zu schminken. Arlene wunderte sich, dass Kurt dazu nichts sagte. Doch schließlich ging sie das im Grunde nichts an. Dann beobachtete sie, wie Ruth immer öfter mit roten Wangen und zerzaustem Haar aus Dragos Zimmer kam – schlich, das wäre wohl der bessere Ausdruck gewesen. Arlene sprach mit keinem darüber, aber in ihrem Kopf jagten die Gedanken hin und her. Zu gerne hätte sie genau gewusst, was sich hinter dieser Tür wirklich abspielte! Jedoch sie wusste auch, dass es ihr nicht zustand, danach zu fragen oder das Zimmer des Gastes ohne Erlaubnis zu betreten.
Weder Ruth noch Kurt waren im Hause, als ihre Neugier die Oberhand gewann. Sie hörte Drago im Garten mit dem Rasenmäher hantieren und huschte rasch in sein Zimmer, das sie seit seiner Ankunft nicht mehr betreten hatte. Die Angst vor Entdeckung prickelte in ihren Kniekehlen und irgendwie empfand sie dieses Gefühl der drohenden Gefahr als seltsam angenehm. Arlene kuschelte sich in den großen Ohrenbackensessel am Fenster und stellte sich vor, was in diesem Raum wohl schon geschehen sein mochte. Als sich plötzlich zwei große Hände von hinten um ihren Hals legten, schrie sie in panischer Angst auf. Lachend zog Drago sie aus dem Sessel hoch und nahm sie, die hysterisch aufschluchzte, in den Arm. Er drückte sie an sich und murmelte beruhigende Worte in ihr Haar, bis das Schluchzen abebbte. Dann schob er ein wenig sie von sich, doch Arlene presste ihr Gesicht wieder an seine Schulter und badete in dem Duft aus Rasierwasser, Zigarettenrauch und frisch gemähtem Gras, der seinen Körper umspülte. Er hob sie hoch, trug sie zum Bett, legte sich zu ihr. Die Bewegungen seiner Hände wurden eindringlicher, der zunehmende Druck auf ihren Körper begann ihr Angst einzuflößen. Er aber verschloss ihren Mund mit seinen Lippen und erstickte so ihren Protest. Ein Teil von ihr genoss seine Liebkosungen, während der andere erstarrte und zu Eis gefror.
Von da an zog Drago sie immer in sein Zimmer, sobald sie alleine im Haus waren. Ihre Liebesaffäre spielte sich hinter verschlossenen Türen und im Geheimen ab, was ihren Reiz vor allem für ihn noch erhöhte. Arlene, gepeinigt vom schlechten Gewissen, war ihm hilflos ausgeliefert. Das Geheimnis, das sie miteinander verband und aneinander kettete, stellte sie außerhalb der Gesellschaft, in der sie lebte. Es verlieh ihr aber dennoch das Gefühl, etwas Besonderes zu sein und ließ sie seine „Zärtlichkeiten“ sogar dann noch ertragen, als diese ihren Körper in eine einzige schmerzende Wunde verwandelten.
Sie begann, sich mehr und mehr in sich zurückzuziehen. Wie eine Raupe spann sie einen Kokon um sich, in dem sie sich geschützt und abgeschottet fühlte. Kurt machte sich über sie lustig, wenn sie beim Sprechen stotterte, was neuerdings immer öfter vorkam. Sie selbst bemerkte das kaum, denn Sprache war für sie bedeutungslos geworden – sie redete nur noch, wenn es unbedingt notwendig war. Die Anzeichen ihrer inneren Auflösung schlugen sich nachts bisweilen in peinlichen Vorkommnissen nieder, die auch Ruth nicht verborgen blieben. Wenn sie deren Blicke forschend auf sich gerichtet fühlte, verpuppte sich Arlene schuldbewusst weiter in die Tiefe ihrer geschundenen Seele.
Längst war der Nervenkitzel des Anfangs der Angst vor der Wiederholung gewichen und was sie einst belebt und erregt hatte, lähmte sie jetzt. Dass sie wie eine Tote neben ihm im Bett lag, reizte den Mann wiederum zu immer größerer Rücksichtslosigkeit. Wenn er von ihr abließ, rollte sie sich vollständig im Bettlaken ein und glich mehr denn je einer verpuppten Raupe, unerreichbar für die Außenwelt. So blieb sie in Regungslosigkeit erstarrt liegen, bis er nach kurzem Schlummer ächzend das Bett und kurz darauf den Raum verließ.
Aber was war heute los? Warum lag er noch immer neben ihr? Sie hatte sein Ächzen gehört, doch sie spürte immer noch deutlich sein Gewicht, das die Matratze neben ihr niederdrückte. Warum stand er nicht auf? Was hatte er mit ihr vor? Vorsichtig schob Arlene den Zipfel des Bettlakens von ihrem Gesicht.
Sie blickte in ein rotes Meer. Mitten in diesem Meer schwamm Drago, die blicklosen Augen verständnislos weit aufgerissen. Ihr Blick schwebte weiter und erfasste Ruth, die mit ebenfalls weit aufgerissenen Augen und hängenden Schultern neben dem Bett stand. Ihre jetzt kraftlos herab hängende rechte Hand umklammerte ein rot verschmiertes Tranchiermesser.
Mit einem Ruck befreite sich Arlene aus ihrem Kokon und flog der Frau an die Brust. Ein einziges Wort durchschnitt schreiend die tosende Stille: „MAMA!“

Letzte Aktualisierung: 10.05.2008 - 09.40 Uhr
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