Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Mai 2008
Das Mädchen Jiao Zhang
von Iris Beimdieck

Ich versuchte, aufrecht zu stehen, meinem Vater in die Augen zu schauen – aber ich schaffte es nicht. Ich schämte mich für mein Dasein und den tief empfundenen Hass meines Vaters gegenüber. Auch wenn seine Hände sich jetzt nicht rührten, beinahe leblos an seinem schmächtigen Körper herabhingen, so spürte ich doch die Schläge auf der Haut, die sonst meinen Bauch, die Arme und Beine so lange geprellt hatten, bis ich wimmernd in einer Ecke zusammen gebrochen war. Und ich hasste meine Vater für das, was er mir in meinen sechzehn Lebensjahren immer und immer wieder angetan hatte. Die Holztür unserer Hütte schlug klappernd gegen den Rahmen und flog vom Wind wieder auf. Sonnenstrahlen glitten für Sekunden wie unnachgiebige Finger in den dunklen Raum, krochen über die schmutzigen Holzdielen, bis sie meine Füße erreicht hatten und dort wieder erstarben. Der Geruch von Pflaumenschnaps stieg mir in die Nase und vermischte sich mit den fauligen Eingeweiden toter Fische. Ich sank auf die Knie, während Selbstverachtung wie ein Pfeil in mein Herz schoss. „Jiao Zhang“, dachte ich, „dein alter Herr hat Recht – du bist eine jämmerliche, alte Kröte, die den Atem in der Lunge nicht wert ist“. Wie konnte ich nur in Erwägung ziehen, meine gute Mutter mit einem solchen Tyrannen alleine zu lassen? Wie nur?! Ich musste ein furchtbar egoistischer Mensch sein. Und doch wog der Wunsch nach Anerkennung, Geliebtsein so stark in mir, dass ich dafür bereit war, selbst die Menschen, die mir viel in meinem Leben gegeben hatten, zu verraten. Denn im Stich lassen war für mich nichts anderes als Verrat.
„Bitte, Vater, lass’ mich gehen“, flüsterte ich und beobachtete das Gesicht meiner Mutter, welches im Halbdunkel der Hütte versank und sich mit einer Mischung aus Angst und Spannung ihrem Ehemann zu wandte.
„Gehen lassen? Dich?! Wohin denn?“ Spuckte er mir entgegen. Seine Schritte knarrten auf den Boden, als er auf mich zu kam.
„Jiao – wohin denn?!“ Fragte Ma-Kasu Zhang, mein Vater, noch mal. Aber ich schwieg, wusste, dass er keine Antwort von mir erwartete. Meine Schultern zitterten.
„Zu deinem Kaiser? Du?!“ Ma-Kasu lachte verächtlich und zeigte mit dem Finger auf meine Brust. Dann beugte er sich zu mir herab und zischte: „Du bist ein Nichts, Jiao! Der Kaiser muss verrückt sein, dass er ausgerechnet dich ausgesucht hat! Aber glaub’ mir, du wirst nur eine Konkubine unter Tausenden sein! Ha – du wirst vor Scham geduckt laufen wie ein Mistkäfer in einer Schar kleinfüßiger Elfen, deren Charme und Intelligenz du niemals, Jiao, niemals erreichen wirst!“
Ich schluckte und senkte meinen Blick noch tiefer. Weinen konnte ich schon längst nicht mehr. Warum auch? Vermutlich hatte mein Vater Recht. Ich war etwas, für das sich Eltern schämten. Aber dennoch hatten des Kaisers Helfer mich für gut genug befunden, vielleicht irgendwann einmal dem mächtigsten Mann des Landes gegenüber zu treten. Ich blickte auf und sah, wie mir meine Mutter fast unmerklich zunickte.
Ma-Kasu hatte sich von mir abgewandt und starrte nun gegen die verrußte Wand.
„Ich werde dich gehen lassen, Jiao“, sagte er plötzlich, „aber weißt du warum? Weil ich sehen will, wie du über die weiten Steppen zurück gekrochen kommst und deinen alten Herrn winselnd um Einlass bittest“.
Dann öffnete Vater die Tür und ging pfeifend nach draußen, als wäre die Welt für ihn in Ordnung. Er steuerte auf sein Holzboot zu, um den nächsten Fischfang vorzubereiten, während die Sonne am Himmel blutrot in Wälder und Wiesen zu versinken drohte.
„Mama...“, sagte ich, doch meine Mutter erhob ihren Arm und brachte mich zum Schweigen. Mit bedächtigen Schritten kam sie auf mich zu.
„Ein guter Vogel wählt den Baum aus, auf dem er rastet, Jiao Zhang. Auch wenn ich ohne dich schlecht leben kann – geh’ so schnell du kannst“.

Bereits 14 Tage später hatte sich für mich alles zum Guten gewendet, dennoch saß ich kopfschüttelnd auf den Boden des Palastes und beugte mich auf meinem Kissen vor. Yoshiko Matsuos Worte waren kalt, für mich unverständlich.
Jeder chinesische Arzt wusste, dass besonders mächtige Männer Geschlechtsverkehr brauchten, um ihre Stärke und Vitalität zu erhalten. Konkubinen dienten dem Beischlaf des Kaisers - wir waren die hübschesten, wohlerzogensten Frauen, die das ganze Land zu bieten hatte. Kaiser Yongle, den ich im Herzen „meinen Kaiser“ nannte, war kränkelnd und kinderlos. Jede Konkubine konnte ihm einen Sohn gebären, der später mit etwas Glück den Thron besteigen durfte. Bisher waren fünf Damen von dem Eunuchen für den Beischlaf auserwählt worden. An mir jedoch war das Silbertablett, auf dem Namensschilder aus Jade angerichtet lagen, bis jetzt ereignislos vorbei gereicht worden.
Sonnenstrahlen durchbrachen das Palastzimmer, überfluteten es mit Wärme, während bunte Schmetterlinge vor den Fenstern auf und ab flatterten. Ja, das war mein Zuhause. Ich fühlte mich geborgen, anerkannt und auch geliebt. Und ich verstand Yoshiko Matsuo immer noch nicht. Ungläubig starrte ich sie an. Doch meine Freundin entwand sich meinem Blick und streifte einen zarten Schuh von ihrem Fuß. Sofort roch es nach entzündeten Fleisch. Die Schmetterlinge draußen vor dem Fenster stoben in einer Windbö auf und flogen davon. 78 Frauen saßen mit uns in diesen Raum auf ihren Brokatkissen, geschminkt, in seidene Gewänder gehüllt und blickten uns fassungslos an.
„Ich schwöre“, zischte Yoshiko noch mal und missachtete damit erneut unser Schweigegebot, „ich werde den Kaiser töten, in tausend Stücke schneiden.“
„Nein!“ Rief ich lauter als gewollt und richtete mein Kreuz auf. Die kirschroten Münder der anderen Frauen öffneten sich im stillen Entsetzen. „Nein“, wiederholte ich leiser, „das kannst du nicht machen.“
„Warum nicht? Nur weil du dies hier dein Heim nennst, Jiao? Weißt du, was die prunkvollen Wände für mich sind?! Ein Gefängnis. Ja, das sind sie. Nichts weiter, als ein Gefängnis. Wir dürfen nicht reden, wir dürfen den Hof nicht verlassen und die meisten von uns, Jiao, hatten nie eine Wahl. Wir wurden gezwungen, hier her zu kommen. Eingesperrt, im Palast der Himmlischen Reinheit, einem erbärmlichen Vogelkäfig“.
„Aber deine Gedanken sind frei. Wir werden nicht misshandelt. Niemals wurde mir in meinem Leben so viel Aufmerksamkeit geschenkt“. Ich dachte kurz an meine Mutter. Ein schlechtes Gewissen beschlich mich. Wenn gleich mein Vater mich nicht geliebt, sondern zeitlebens nur verachtet hatte, so tat ich meiner Mutter jetzt großes Unrecht.
Yoshiko lachte verächtlich und streckte mir ihren nackten Fuß hin. „Freie Gedanken! Was habe ich davon? Schau dir meine Zehe an! Lotusblütenförmige Füße“, sie lachte erneut, „ das Schönheitsideal der chinesischen Mädchen! Weißt du, was man nach des Kaisers Willen mit mir gemacht hat?“ Ihre Augen sprühten mich zornig an, aber ich hielt ihrem Blick stand.
„Ich habe keine Ahnung“.
„Als ich noch ein Mädchen war, hat man mir die Zehe an die Fußsohlen gebunden, bis die Knochen brachen. Weißt du, was das für mich heute bedeutet? Es bedeutet tagtäglichen Schmerz. Meine Gedanken mögen zwar frei sein, aber sie werden benebelt von Schmerz. Ich kenne keine Freiheit mehr, Jiao“. Was immer auch meine Freundin sagte oder empfand – sie durfte nicht den Kaiser töten! Wenn sie meinen Herrscher Yongle umbrachte, zerstörte sie auch mich!
„Das werde ich nicht zulassen!“
„Was willst du denn dagegen tun?“ Yshiko beugte sich vor, unter ihrem Seidengewand blitzte die Klinge einer Sichel hervor. „Deine Freundin verraten, die dir vertraute? Willst du das tun, Jiao? Willst du mich töten?“
Für einen Moment wurde mir schwindelig. Ich schloss meine Augen. Ein Chor aus Kinderstimmen drang mit Trommeln und Flöten durch die Palasttüren und schwoll immer mehr an. Im Namen aller Götter – was sollte ich unternehmen? Ich blinzelte, hörte, wie die Türen geöffnet wurden, und als ich sah, dass der Eunuch mit einem Tablett den Raum betrat, wusste ich, dass mir keine Zeit mehr zum Nachdenken blieb. Ich erkannte, dass von den 80 Jadeplättchen zwei und nicht, wie üblicher Weise, eins umgedreht waren. Erstaunt schnappte ich nach Luft. Der Eunuch ließ seinen Blick durch das Zimmer gleiten. Für einen Moment verweilte er auf Shenay, einem schönen Mädchen, das aus Peking stammte. Dann kreiste er jedoch weiter... Lin, Yamei ....Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Würde der Eunuch mich auswählen? Oder eine andere? Oder, was nun schlimm war, Yoshiko?! Ich biss mir auf die Unterlippe und wusste, dass dadurch meine Schminke verschmierte. Der Eunuch starrte auf die Namensschilder, drehte sich mit raschelnden Seidengewand zu mir um. Er betrachtete mich – dann nickte er plötzlich Yoshiko zu. Nein! Ich griff mit meinen Fingern in das Brokatkissen und zerdrückte den weichen Stoff. Meine Freundin lächelte, schlangenähnlich zuckten ihre Lippen. Ich dachte an die Sichel, die sich verborgen, gegen ihre Haut schmiegte. Der Eunuch ließ noch mal seinen Blick durch den Raum schweifen – ehe er mich traf, diesmal mit einem bedeutsamen Glitzern. Ich schluckte. Wir zwei waren auserwählt worden! Ein weiterer Eunuch betrat das Zimmer und bot mir an, mich auf seinen Rücken durch die Flure des Palastes zu tragen. Geschwind eilten wir durch das Gemäuer, ich spürte seine kräftigen Arme unter meinen Oberschenkeln. Oh, mein Kaiser! Oh Yoshiko! Wir überholten sie mit ihrem Eunuchen. Sie zwinkerte mir zu. Ein paar Haarsträhnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und wehten im Wind.
Ich wurde in ein Zimmer gebracht und begriff erst, als ich entkleidet wurde, dass dies der Zeitpunkt war, an dem Yoshiko sterben würde. Ein Ziehen ergriff meine Brust – ich wusste nicht, ob es Erleichterung, Trauer oder sogar Angst war. Ich schloss meine Lider, beschwor Bilder von meiner Mutter, Yoshiko und sogar von meinem Vater hervor. Und während ich ein Plätschern in der Badewanne wahr nahm, spürte, wie Hände mich ergriffen, in das warme Wasser legten und die Gerüche der Kräuter und Öle meinen Kopf einhüllten, wurde mir eines deutlich bewusst:
Nur das Herz entscheidet, was ein Zuhause ist.

Letzte Aktualisierung: 21.05.2008 - 11.16 Uhr
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