Ganz schön bissig ...
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Mai 2008
Schmetterlinge
von Carolin Frey

Bisher war es ein Morgen wie jeder andere gewesen. Gerade schloss sich die Haustür hinter mir, als eine Stimme die Musik aus meinen Kopfhörern übertönte. Ich sah auf. Am Geländer des Laubengangs im ersten Stock lehnte eine ältere Frau, die mir offensichtlich etwas zugerufen hatte.
Ich zog einen Stöpsel aus dem Ohr. „Was bitte?“
„Mir geht’s nicht gut; schwindlig ist mir und mein Blutdruck ist ganz hoch.“
Ich nahm auch den zweiten Stöpsel aus dem Ohr.
„Soll ich zu Ihnen kommen und einen Krankenwagen rufen?“
„Ja …“, der Mittelteil ging unter, „…mir geht’s nicht gut.“
„In Ordnung, ich komme hoch.“
Als ich auf ihrem Stockwerk ankam, stand sie noch immer unverändert am Geländer und sah nach unten. Sie trug einen Frotteebademantel, einen Schlafanzug und Hausschuhe. Sie mochte um die siebzig Jahre alt sein.
„Sollen wir reingehen und einen Krankenwagen holen?“, fragte ich erneut.
„Mir ist ganz schwummrig.“ Sie wandte sich mit langsamen, schlurfenden Schritten ihrer offenen Wohnungstür zu. „Drinnen ist einfach keine Luft; ich kann da gar nicht atmen.“
Ich hielt sie am Arm und spürte nach zwei Schritten, wie sie in die Knie sackte, sich dann aber wieder aufrichten ließ. Ich entschied, den Notarzt sofort zu rufen und prägte mir den Namen auf der Klingel ein. In diesem Haus, neun Stockwerke hoch und jeweils sieben Parteien breit, kannte man die wenigsten gut genug, um Stockwerk und Wohnung mit einem Namen oder Gesicht mit zu verbinden.
In ihrer Wohnung führte ein schmaler Flur rechts zu einer winzigen Küche und geradeaus in das einzige Zimmer, in welchem sie sich auf ihre Schlafcouch fallen ließ und sich dem Blutdruckmessgerät widmete. Währenddessen fand ich das Telefon und wählte das erste Mal in meinem Leben die 112. Ich bemühte mich um eine mustergültige Meldung, nannte meinen Namen, schilderte den Zustand der Nachbarin, betonte ihre Ansprechbarkeit und gab alle sonst nötigen Informationen:
„Von Rebenhoff. Genau, erster Stock. … Ich kann auf das Rettungsteam warten. … Ja, vielen Dank!“
„Sehen Sie?“, sagte sie. „Hundertvierzig zeigt er jetzt an.“
Sie stellte die Anzeige auf Null und begann von Neuem. Ich setzte mich neben sie. Das Zimmer mochte irgendwas um die 20 Quadratmeter haben. Die Möbel – die Schlafcouch, ein Schreibtisch, ein Vitrinenschrank, ein Pianino, eine Kommode, ein runder Tisch und ein Stuhl – verringerten den Platz für Bewegung auf die Fläche eines Bügelbretts.
Diese Möbel waren allesamt Treibgut eines anderen Lebens; zu jung um antik zu sein, doch keine Möbelhausware. Die Bücher auf dem Wandregal waren nicht die üblichen Buchclub-Bände; die Bilder waren keine Heimatdrucke sondern Schwarz-Weiß-Fotografien; auf dem Pianino stand eine Beethoven-Büste. Neben der Tür zum Balkon hing ein einzelnes Farbfoto, das einen jungen Mann zeigte. Um den Rahmen war ein schwarzes Netztuch drapiert in dem bunte Stoff-Schmetterlinge steckten.
Sie war meinem Blick gefolgt.
„Das ist mein Sohn. Der ist mit 32 an einem Herzinfarkt gestorben. Mit 32! Stellen Sie sich das vor! Das war ein so guter Kerl. … Fotograf war er, wie ich. – Sie müssen mal kommen, dann zeig ich Ihnen meine Bilder. Überall war ich. Indien, Australien, Peru, ach, wo ich überall schon gewesen bin.“
Ich legte ihr sachte einen Arm um die Schulter und versuchte, meine Anteilnahme zu beherrschen. Das Blutdruckmessgerät piepste erneut.
„Und jetzt ist es nur noch bei 80, das schwankt so. … Ich bin von Aschaffenburg nach Frankfurt gezogen, weil ich dachte, dass man in Frankfurt nicht so allein ist, aber hier ist es noch schlimmer. … Wissen Sie, mein Mann ist im Krieg gefallen. Ich hab niemanden mehr. Glauben Sie’s?“
Diese Schmetterlinge ließen mich nicht los und setzten mir sehr zu. Sie erschienen mir wie der Ersatz für ein gepflegtes Grab, das sie vermutlich nicht mehr besuchen konnte, das vielleicht in Aschaffenburg lag; sie waren das Symbol der Seele; das Zeichen ihrer Zuneigung; der Beweis, dass nichts vergessen war. Ich stellte mir die alte Dame vor, wie sie die bunten Falter in das Tuch einsteckte; jeder Handgriff von einem Seufzer begleitet.
Mir stiegen Tränen in die Augen, was mir sehr unpassend erschien. Ich kannte weder diese Frau (obwohl sie, wie sie sagte, schon zwei Jahre in diesem Haus wohnte), noch ihren Sohn. Was hatte das mit mir zu tun, warum ging mir das so nahe?
Der Krankenwagen fuhr vor. Ich trat auf den Gang hinaus. Meine genauen Angaben hatten dem Rettungspersonal das Blaulicht erspart und auch sonst ließen sie sich Zeit. Der Fahrer war ein junger Mann, die Beifahrerin trug den Arztkoffer.
„Ich mach Ihnen auf“, rief ich und lief los. Ich öffnete die Haustür und führte sie nach oben.
„Warum ham Sie denn nicht einfach aufgedrückt?“, fragte die Beifahrerin gereizt.
Richtig, warum hatte ich nicht einfach aufgedrückt, kannte ich doch die Sprechanlage.– Wahrscheinlich war ich den beiden entgegengekommen, weil Postboten, Ablesedienste und Spediteure ein gehöriges Problem mit den halben, versetzten Stockwerken haben und ich für jeden Augenblick dankbar war, in dem ich nicht in der Wohnung bei den Schmetterlingen sein musste. Aber war die Frage nicht viel eher, warum das die Beifahrerin störte? Wissen Sie, hätte ich am liebsten geantwortet, ich zupfe jeden Tag eine alte Dame vom Gang und rufe dann den Notdienst. Alles öde Routine. Beim nächsten Mal schau ich einfach weiter Fernsehen.
Das Rettungsteam betrat das Zimmer, womit der zur Verfügung stehende Platz nun erschöpft war. Im gereizt-genervten Ton von zuvor begann die Beifahrerin ihr Verhör: „Hier waren wir doch erst letzte Woche. Sie waren doch dann im Krankenhaus. Was ham die denn da gesagt? Was ist denn da raus gekommen?“
Meine Nachbarin wiederholte, dass ihr Blutdruck so hoch wäre, dass ihr schwindlig sei, dann ergänzte sie: „… und letzte Woche bin ich ganz bös’ gestürzt. Sehen Sie?“
Sie hob das Hosenbein ihres Schlafanzugs und zeigte einen Bluterguss von der Länge eines Unterarms, der sich von der Mitte ihres Schienbeins bis hinauf zu ihrem Oberschenkel erstreckte und das gesamte Knie in lückenloses Blau tauchte.
„So?“, erwiderte die Beifahrerin. „Aber deswegen ist Ihnen ja jetzt nicht schwindlig.“
„Kann ich gehen?“, fragte ich, um weiteren Bemerkungen der Notärztin zu entgehen.
„Sicher“, antwortete mir ihr Kollege und schenkte mir ein gequältes Lächeln. Immerhin.
Ich sammelte meine Sachen auf, zwängte mich durch die beiden Notärzte zu meiner Nachbarin und strich ihr noch einmal über den Rücken. „Machen Sie’s gut. Es wird Ihnen bestimmt bald wieder besser gehen.“
Ich war noch nicht zur Wohnungstür hinaus, als mir die Tränen über die Wangen liefen, nicht unwesentlich war der Anteil von Wut. Wie konnte das sein, dass man so mit einem Menschen umging? Was war da los? Stand es so schlecht, dass man vom ärztlichen Personal nicht einmal mehr ein Mindestmaß an Freundlichkeit erwarten konnte?
Auf dem Weg zur U-Bahn und während der Fahrt versuchte ich mich zu beherrschen, was mir nicht gelingen wollte. Die Tränen liefen einfach immer weiter, versiegten für einen Moment und schossen beim nächsten Gedanken wieder hervor. Der Anzugträger schräg gegenüber versuchte mich angestrengt zu ignorieren. Den Leuten auf den anderen Sitzen gelang das wunderbar.
Ich wusste nicht genau, warum ich weinte, aber es war vermutlich wegen der falschen Entscheidung, vor der Einsamkeit zu fliehen und ihr damit direkt in die Arme zu laufen; vielleicht weil manche alles haben, während andere alles verlieren; vielleicht weil mich der Ton der Ärztin verletzt hatte; möglicherweise weil ich selbst Angst vor dem Alter, der Einsamkeit und der Hilflosigkeit habe und weil ich schon in diesem Moment ahnte, dass ich mir nie die Zeit nehmen würde, die einsame Frau zu besuchen.
Erst als ich einen Plan zur möglichen Verbesserung der Situation gefasst hatte, konnte ich mich beruhigen.

Ingrid, meine 68-jährige Nachbarin von nebenan, war eine engagierte, fitte und lebenslustige Person, immerzu mit ihrem Mann und den Fahrrädern unterwegs, vom Garten, vom Wandern, von den Enkelkindern kommend, zu einem kurzen Schwatz bei den Briefkästen aufgelegt. Ingrid arbeitete ehrenamtlich in einer sozialen Einrichtung, die sich um alleinstehende, hilfebedürftige Menschen kümmerte. Wenn ich ihr von Frau von Rebenhoff berichten würde, dann wüsste sie, was zu tun wäre.
Und wie es kam, traf ich Ingrid am nächsten Morgen vor den Briefkästen.
„Hast du mitbekommen, was gestern los war?“, fragte ich sie.
„Nee, was denn?“
Ich gab ihr einen Abriss.
„Ach, die! Ja, die kenn’ ich. Und da hast du gestern den Krankenwagen gerufen?“
„Klar, ich wollte kein Risiko eingehen. – Sie ist ja auch kurz weggesackt, obwohl’s dann ging.“
Ingrid lächelte.
„Ja, das kann sie gut. – Die mussten schon öfters wegen ihr kommen.“

Ingrid führte das weiter aus. Mir wurde klar, dass ich eine Variable im Kampf gegen die Einsamkeit gewesen war. Ich fühlte mich getäuscht und schämte mich etwas vor Ingrid, das Spiel nicht durchschaut zu haben. Frau von Rebenhoff war es vermutlich weder schlecht genug gegangen, um den Einsatz eines Krankenwagen zu rechtfertigen, noch war sie die schicksalhaft verlassene, vereinsamte Person, für die sie sich ausgab, da sie, nach Ingrids Schilderung zu schließen, ein nörglerischer, meist unzufriedener Mensch war, der sich kaum je für andere interessierte. Man musste nur Ingrid ansehen, um zu wissen, dass der Lebensabend auch ganz anders aussehen kann.
Ich war aus dem Schneider und das Gewissen beruhigt. Nur mein Verstand, der wusste, weshalb mir dieses Ende so sympathisch war, machte den Trick nicht mit.

Letzte Aktualisierung: 18.05.2008 - 12.47 Uhr
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