Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Mai 2008
Das blaue Buch
von Che Seibert

„Hallo, Sie da!“
Der größere der beiden Jäger winkte mir.
„Wo wollen Sie denn hin?“
Kurz dachte ich daran wegzulaufen. Aber die hundert Kilometer auf dem Fahrrad bis hierher steckten mir in den Knochen. Ich blickte zu Boden.
„Na da, den Weg lang.“
Meine Hand zeigte in die Richtung, aus der die Männer gekommen waren.
Die beiden flüsterten miteinander.
„Haben Sie was? Können wir Ihnen helfen?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nene, ist schon gut, ich geh dann mal weiter.“
„Aber denken Sie daran: es ist bald Dämmerung. Und ab dann gehört der Wald den Jägern.“
Ich nickte, obwohl mir dieser Spruch arrogant vorkam. Packte den Gurt von meinem Rucksack fester und stapfte in die angegebene Richtung. Als ich um die nächste Wegbiegung war, drehte ich mich um. Sie waren wohl auch ihres Weges gegangen. Ich streckte mich, steckte meine Brille in die Jackentasche und fing an zu laufen, laufen, laufen, bis die Stiche in Schläfe und Brust so stark waren, dass ich nicht mehr weiter konnte. Ich ließ mich ins Gras fallen.
Albrecht Goroda klappte das Buch zu. Strich mit den Fingern mit den abgebrochenen Nägeln über den blauen Plastikeinband. An der unteren Ecke war er ihm vorgestern eingerissen. Früher hätte er sich geärgert. Hätte dann mit der Schere ein passendes Stück Tesafilm abgeschnitten und die Stelle geklebt. Heute war es ihm egal. Es passte sowieso nicht mehr viel hinein in das Buch. Zwei Jahre seines Lebens waren darin eingebunden. Zwei Jahre, die er sich so nie hätte vorstellen können. Jetzt passten vielleicht noch zwei oder drei Wochen hinein. Je nachdem, wie viel er schrieb. Und er schrieb immer noch. Obwohl es ihm manchmal absurd vorkam, er schrieb immer noch. Jeden Tag. Es drehte sich so viel in seinem Kopf. Und er las das Geschriebene immer wieder. Er hatte immer gerne gelesen. Meist leichte Kost. Jetzt hatte er nur noch sein Buch. Keine leichte Kost. Aber seins. Er konnte nur noch sich selber lesen. Er war zum Schriftsteller geworden. Er lachte auf.
Dann zog er sich Stück für Stück an der rohen Bretterwand hoch und sah vorsichtig über den Rand der Fensteröffnung. Die letzten Strahlen der Novembersonne leckten an den Ästen vor seinem Ausguck. Es war niemand zu sehen, niemand zu hören. Er schloss die Augen, stützte sich mit der linken Hand einen Moment lang auf den weißen Plastikstuhl und hielt mit der rechten seinen Kopf fest. Immer öfter wurde ihm schwindlig, wenn er von seinem Lager hochkam. Diesmal ging es. Er setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Sechsmal passte das, dann war er an der Tür. Er hob sie ein wenig an, damit sie nicht knarrte, und drückte sie nach außen. In der letzten Nacht hatte es ein paar Stunden geregnet, der kleine Kanister war mehr als halbvoll. Die drei Tage davor war es trocken geblieben. Er würde sich das Wasser einteilen müssen.
Doch dann überfiel ihn die Gier, er setzte den Kanister an den Mund, das Wasser lief durch seine trockene Kehle. Dieses Bedürfnis nach Nassem war nicht klein zu kriegen. Und plötzlich war der Schmerz wieder da, beinahe wäre ihm der Kanister aus der Hand gefallen. Er stellte ihn auf die Plattform und hielt sich den Bauch. Dort drin kämpften Armeen mit Bajonetten und zerlöcherten seine Magenwände, so fühlte sich das an.

Komm komm lockt der Dämon es sind nur die paar Stufen lass Dich vorne auf den Weg fallen der nächste der kommt kümmert sich um Dich Du kennst doch die Geschichte vom barmherzigen Samariter
Und dann? Wenn sie mich wieder fit gemacht haben? Was kommt dann?

Goroda hörte ein Knacken im Unterholz. Sicher ein Stück Wild. Aber wenn nicht? Er musste wieder in seinen Unterschlupf. Er biss die Zähne zusammen und griff nach der Tür. Es dauerte fast fünf Minuten, bis er sich und den Kanister hineinbugsiert und die Tür hinter sich zugezogen hatte.
Das Knacken hatte sich in kieksendes Lachen und ab und zu ein Brummen gewandelt. Goroda versuchte, noch einmal hinauszusehen. Aber er schaffte es nicht, er sank erschöpft auf die Schaumstoffmatratze.
„Opi, Opi, guck mal da, auf den Stelzen! Was ist das? Ein Baumhaus?“
„Das ist ein Hochsitz.“
„Und was ist das, ein Hochsitz?“
„Da sitzen die Jäger und... gucken sich abends das Wild an.“
„Welches Wild?“
„Na, die Rehe, die Hasen und so. Der Martin hat doch so kleine Tiere aus Holz, die kennst du doch.“
„Und die laufen hier richtig in echt rum? Opi, ich will die auch angucken. Komm, wir klettern da rauf. Hilfst du mir?“
Gorodas Herz schlug ihm bis kurz unter die Zunge. Seine Magenschmerzen waren wie weggeblasen. Er hatte plötzlich ganz andere Probleme. Die sollten, die durften nicht hier heraufkommen. Niemand sollte ihn sehen. Er wollte allein sein.

Das Mädchen versucht, die Leiter hinauf zu klettern. Der Opa ist wohl nicht so gut zu Fuß, er ruft immer wieder, aber die Kleine lacht bloß. Plötzlich macht es Kracks, und die Kleine fängt an zu schreien. Da ist bestimmt eine Sprosse gebrochen. Da habe ich noch mal Glück gehabt. Den richtigen Hochsitz ausgesucht. Bequem sollte er schon sein. Mit Matratze, Decken, Kopfkissen. Ich kann doch so schlecht ohne Kopfkissen schlafen. Auch wenn es auf die letzten Meter sozusagen die Sache vielleicht schwerer machen wird. Die Wahl hatte ich ja. Am Anfang bin ich noch öfter herumgestromert, um mir andere Hochsitze anzusehen. Die bequemen waren aber meist auch außen tiptop. Manche wirkten so, als wollten die Jäger da oben ganz anderes Wild erlegen. Nur der Hochsitz hier, wo ich die erste Nacht verbracht hatte, war außen ein wenig marode. Das kann man sofort sehen. Bisher hat auch noch niemand versucht heraufzukommen. Bis auf das Mädchen. Aber nachdem der Opa die Tränen getrocknet hatte, war die Sache vom Tisch, und die beiden zogen von dannen.

Ein paar Tage später sah Albrecht Goroda wieder mal Wildschweine. Sie hatten sich rar gemacht in letzter Zeit. Er zog den Stuhl an das Fenster, das auf die Lichtung ging. Und im Licht des verschwindenden Tages waren sie plötzlich da. Acht, zehn, zwölf Stück, sie rannten so schnell durcheinander, er konnte sie nicht richtig zählen. Er kniepte mit den Augen, ruckelte an seiner Brille. Hielt sie mal näher, mal weiter entfernt. Seine Schwäche, er hatte über drei Wochen nichts mehr gegessen, schien allmählich auf die Augen zu schlagen. Beinahe wäre ihm die Brille aus der Hand gefallen, in die Fichten. Es ist nicht mehr lange bis Weihnachten, und hier steht alles voller Weihnachtsbäume, dachte er. So hatte er das bisher noch nicht betrachtet.

Alles ist weg. Arbeit ist weg. Frau ist weg. Die Tochter auch. Und dann die Wohnung. Und am Schluss das letzte Bisschen Geld. In der Reihenfolge. Und unwiederbringlich. Martha hätte ich gerne noch einmal gesehen. Wir hatten doch auch gute Tage. Das mit den Mädels, unterwegs, auf meinen Reisen, das tut mir leid. Das spielte auch keine Rolle, für mich. Aber es ist vorbei. Ich habe nichts mehr. Ich bin so arm wie damals, als ich diese Welt betreten habe. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr.
Gestern habe ich daran gedacht, von hier oben herunter zu springen. Aber das kann ich nicht. Ich habe Angst davor. Noch mehr als vor dem, was kommt.

Goroda setzte den Kugelschreiber ab. Er schrieb immer kleiner, das Buch war fast voll. Das strengte ihn an. Er zog die Luft tief ein, auch wenn ihn das in den Lungen schmerzte, und wunderte sich beim Ausatmen über die weißen Atemwolken vor seinem Gesicht. Es musste wohl ziemlich kalt sein, er hatte kein Empfinden mehr dafür. Schon vor einigen Tagen hatte er die Fäustlinge in die Ecke geworfen.
Er legte die Hände unter seinen Kopf, zog die Beine an und schloss die Augen. Er wartete.

Was tut man den ganzen Tag, wenn die Welt nur noch zwei mal zwei Meter groß ist? Ich kenne jeden Quadratzentimeter meines Zuhauses. Manchmal möchte ich den Stuhl hinauswerfen, er wird mir zu viel. Aber ich schaffe es nicht mehr. Und dann läge er auch Weihnachten so im Wald herum, das ist doch nicht schön. Der Wald soll doch schön aussehen an Weihnachten.
Ich habe Angst. Keiner ist da, der mir helfen kann. Verdammte Angst.
Angela klappte das Buch zu und starrte den Polizisten an.
„Das glaube ich nicht. Sind Sie sicher, dass das mein Vater geschrieben hat?“
Der Polizist sah sie kurz an, blickte dann nach unten. Das war immer der schwerste Moment. Wenn die Unausweichlichkeit der Erkenntnis von den Menschen Besitz nahm.
„Was ist? Sind Sie stumm geworden?“
Der Polizist schüttelte den Kopf. Er hatte das ganze Buch gelesen, auf der Fahrt, während sein Kollege am Steuer saß. Immer wieder hatte er es sinken lassen. Tränen hatten sich ihren Weg gebahnt. Er konnte es nicht fassen, was er da las. Es war so schrecklich. Das waren die Momente, wo er an seinem Beruf verzweifeln konnte. Aber jetzt stand er hier. Und musste antworten.
„Es war der letzte Wunsch Ihres Vaters, dass Sie das Buch bekommen sollten. Da die Staatsanwaltschaft es freigegeben hat, kommen wir hiermit diesem Wunsch nach.“
Wie steif das klang. Er hatte das Buch gelesen. Er wusste einiges über das Verhältnis zwischen Vater und Tochter. Eigentlich wollte er etwas ganz anderes sagen. Aber das durfte er nicht.
„Nene, nehmen Sie das wieder mit, ich will das nicht. Ich will nichts damit zu tun haben. Verstehen Sie? Nehmen Sie das wieder mit!“
Sie hielt ihm die blaue Kladde hin. Der Polizist schüttelte wieder den Kopf. Er konnte nichts mehr dazu sagen. Er hatte seine Aufgabe erfüllt. Er drehte sich um. Ging die Stufen hinunter, vorbei an den Resten eines Weihnachtsbaumes, zu dem Dienstwagen, wo sein Kollege auf ihn wartete. Die Frau sollte das Buch behalten. So hatte ihr Vater das gewollt. Nun musste sie damit fertig werden. Er stieg in den Wagen, sein Kollege sah ihn fragend an. Als er nicht antwortete, startete sein Kollege den Wagen und fuhr los. Es gab noch viel zu tun.

Letzte Aktualisierung: 12.05.2008 - 22.10 Uhr
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