Sexlibris
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Wo ist die Grenze zwischen Pornografie und Erotik? Die 30 scharfen Geschichten in diesem Buch wandeln auf dem schmalen Grat.
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Juni 2008
When we were young…
von Helga Rougui

Ein plötzlicher, heftiger Platzregen. Und der frühe Bus war sowieso weg.
Mist.
Gina seufzte und floh vor der sich entfesselnden Sintflut in das nächstgelegene Geschäft.
Die Buchhandlung „Der Lesebaum“.
Na, wenn sie schon mal hier war, dann konnte sie sich auch umsehen. Und sie brauchte ja sowieso ein Geschenk. Warum eigentlich nicht ein Buch?
Der Buchhändler schaute sie aufmunternd an.

Also - mal gucken, vielleicht war das ja was?

tanz auf dem vulkan…äh…herd

manno hab ich heiße füße
wie du heißt füße
nee ich hab sie die heißen füße
zuviel getanzt letzte nacht
die socken qualmen noch
ja du bist ja auch eine blöde maus
warum mußtest du auf die heiße herdplatte klettern
ja aber seitdem kann ich pasodoble
und zwar die lichtgeschwindigkeitsversion
aber mal was anderes
du kennst doch die katze
die hat auch heiße pfoten
is klar sie tanzte auf dem heißen blechdach
gestern aß ich heiße würstchen
wie du heißt jetzt würstchen
nein die aß ich
die hatten aber keine pfoten und haben nirgendwo getanzt
aber als ich reinbiß
spritzte mir der heiße wurstsaft aufs hemd
seit wann trägt eine maus ein hemd
seit ich aus war tanzen
du warst nicht aus
du bist nur auf den herd geklettert
manno laß mich doch in ruh
ich geh mir jetzt die füße kühlen
okee und ich mach mir nen heißen
tee


Gina klappte den Gedichtband zu und legte ihn auf den Stapel zurück. (Ein sehr hoher Stapel im Gegensatz zu den ihn umgebenden. Der Titel lief wohl nicht so gut.)
Also nein, dieses Gedicht, was für ein Nonsens. So was konnte sie Robert nicht schenken. Jemand, der Robert hieß, las bestimmt nicht so einen Unsinn. Aber woher wollte sie das eigentlich wissen. Und immerhin hatte es was mit Tanzen zu tun.
Robert aus dem Nachbardorf.
Robert und sie.
Sie kannte ihn kaum, einmal waren sie zusammen ausgegangen, erst in den „Schrillen Gockel“ zum Schnitzelessen (die hatten da sechzehn verschiedene Sorten, alle möglichen Variationen vom Garten- über das Hotzenplotz- bis zum Piemontschnitzel, verrückt so was), und dann waren sie tanzen gewesen im „Brennenden Heuschober“ - ein schlecht gewählter Name für eine Disco auf dem platten Lande, wie Gina fand.
An dem fraglichen Abend jedoch brannte der Schuppen in der Tat lichterloh – glücklicherweise im übertragenen Sinne: hier gabs die heißeste Musik im Umkreis von fünfzig Kilometern mitten im Landpomeranzenland, und so hatten Robert und sie einen rotglühenden Abend verbracht. Endlich mal ein Mann, der tanzen wollte, und zwar pausenlos. Robert gehörte nicht zu den Eckenstehern, die sich, eine Zigarette nach der anderen paffend, über die Verrenkungen der lieben Mitmenschen lustig machten – nein, er verrenkte sich selber, und zwar gar nicht schlecht, wie sie festgestellt hatte.
Seufzend nahm sie den Gedichtband wieder in die Hand. Robert hatte ihr drei Blue Moon-Cocktails ausgegeben, und das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie revanchierte sich gern. Vielleicht war sie auch deshalb immer noch Single. Aber darüber wollte sie jetzt nicht weiter nachdenken.
Sie kaufte das Büchlein und verließ die Buchhandlung. Der letzte Bus nach Braunfels ging um 18 Uhr 40, und sie hatte keine Lust, per Anhalter durch die Gegend zu fahren.

Sie saßen sich gegenüber in der Imbißbude, es mußte ja nicht immer Schnitzel sein. Robert hatte das kleine Päckchen ausgewickelt und saß nun da mit dem Buch in der Hand. Leicht betäubt, wie ihr schien. Sie schaute ihn forschend an. Gefiel es ihm oder nicht?
- Das ist wirklich lieb von dir, Gina. Das hätte wirklich nicht sein müssen. Wirklich, ich weiß gar nicht, wofür das sein soll.
Die dreimalige Wiederholung des Wortes „wirklich“ störte sie etwas. Wirklichkeit hatte sie genug unter der Woche bei ihrem Job als Kassiererin im Konsum-Markt, das Wochenende war den Träumen und der Romantik gewidmet – und dem Tanzen natürlich.
Deshalb war sie froh, als er fortfuhr:
- Okee, komm, laß uns weiterziehen, in Solms gibts heute abend eine Tanzveranstaltung von der Evangelischen Gemeinde, und ich hab das Auto meines Vaters – also, hättest du Lust?
Keine Frage, natürlich hatte sie Lust. Tanzen war ihr Liebstes, egal von welcher Kirche ausgerichtet.
Im Auto legte er das Buch ins Handschuhfach.
Und da konnte sie es die nächsten Wochen und auch Monate liegen und langsam Staub ansetzen sehen. Manchmal hatte sie das Gefühl, als ob es sie höhnisch angrinse - das war natürlich Quatsch - aber sehr bald hatte sich bei ihr der unangenehme Verdacht verfestigt, sie habe mit ihrem Geschenk einen Griff ins Klo getan. Konnte er etwa nicht lesen? So ein Unsinn, er hatte eine abgeschlossene Lehre als Friseur, da hatte man die Berufsschule besucht.Und er hatte Bücher bei sich zu Hause stehen. Konsalik und so. Die hatten doch nicht nur seine Eltern gelesen.
Sie redeten selten über irgendwas, sie gingen tanzen und nach einer Weile auch ins Bett miteinander und waren glücklich.
Nur das Buch im Handschuhfach störte Gina. Unberührt lag es da, ungelesen. Und es war doch nur eine erste, tastende Geste in seine Richtung gewesen.
Und es bekümmerte sie, daß sie offensichtlich damit völlig falsch gelegen hatte.

Eines Tages – sie waren schon zwei Jahre zusammen gegangen – fuhr Robert in einem DKW 1000 SP Cabrio vor, um sie abzuholen. (Es gab einen Tanzmarathon, ausgerichtet von der Fleischerinnung in Leun, und da wollten sie hin.) Sie stieg ein und fragte sofort:
- Wo hast du denn den Wagen her? Und wo ist das Auto von deinem Vater?
- Das hier ist meiner, nagelneu, grinste er zufrieden, nachdem sie das obligatorische Begrüßungsküßchen getauscht hatten, das Auto meines Vaters brauchen wir jetzt nicht mehr. Isser nicht schön, der Wagen? Und dieses elegante Froschgrün der Ledersitze, das macht sich richtig gut mit deinem pinken Kleid, nicht wahr?
Das fand sie nun wiederum nicht, und es entspann sich eine rege Diskussion über Männer im allgemeinen und ihre Treffsicherheit in Geschmacksfragen im besonderen, und mitten in einem besonders prächtigen Argument blieb ihr plötzlich die Spucke weg. Sie verstummte.
Das Büchlein war da.
Es lag im Handschuhfach, wie immer während der letzten zwei Jahre.
Es schien, als ob er es sogar abgestaubt hätte.
Also lag ihm doch was dran, oder etwa nicht?

Sie heirateten ein Jahr später, bekamen zwei Kinder zusammen, sahen diese Kinder aufwachsen, zur Schule gehen und studieren, denn aus denen sollte was Richtiges werden, und aus dem einen wurde ein Generalbundesanwalt und der andere starb im Alter von dreißig Jahren an Aids.
Sie standen alles zusammen durch, die guten wie die schlechten Tage, und während ihrer ganzen Ehe gingen sie regelmäßig tanzen, zu ihrer beider Freude und um den Widrigkeiten des Lebens zu begegnen. Während der Jahre änderten sich die Örtlichkeiten, aus den Discos wurden Tanztees, aus dem Rockgehopse Gesellschaftstanz (sie hatten zusammen einige Kurse in einer Tanzschule absolviert, und er war der einzige Mann gewesen, der nicht von seiner Frau dorthin geschleift worden war), sie wurden älter und fetter und blieben doch beweglich und tanzten sich durchs Leben.
Und natürlich gab es auch in regelmäßigen Abständen neue Autos, und Robert hatte stets einen treffsicheren Geschmack, und die Sitze waren entweder lapislazuliblau oder resedafarben, aber immer paßte ihr Outfit und in späteren Jahren ihre Kleidung nicht richtig dazu. Was Anlaß zu den üblichen, inzwischen fast rituellen Diskussionen gab.
Aber das Wichtigste bei jeder ersten Fahrt, die sie mit dem neuen Auto machten, war ihr Blick ins Handschuhfach.
Und es lag da, das Büchlein, als säßen sie immer noch im Auto seines Vaters und als hätte er es gerade dorthin gelegt.
Im Laufe der Jahre hatte sich bei Gina hinsichtlich des Büchleins neben all ihren raum- und zeitfüllenden Familienaktivitäten eine sehr verschwiegene Besessenheit entwickelt. Als sie schon einige Jahre verheiratet gewesen waren, war sie eines Tages wieder in die Buchhandlung „Der Lesebaum“ gegangen und hatte sich das gleiche Bändchen noch einmal gekauft (die restlichen Exemplare, und da gab es noch einige, waren inzwischen in eine stille Ladenecke umgezogen), und dann hatte sie ab und an - je nachdem, wie das Alltagsleben es ihr gestattete - in diesem Gedichtband gelesen.
Zuerst fand sie die Gedichte, die eher Minitexte waren, seltsam, dann eigentlich ganz hübsch und immer noch seltsam, dann fand sie sie witzig und begann sie zu lieben, und nach und nach, durch die Jahrzehnte hindurch, konnte sie all diese Gedichte auswendig, lebte mit ihnen und amüsierte sich mit ihnen in ihrem Alltag auf ihre Weise. Und immer schien ihr, als wäre sie, wenn sie in ihrem Kopf herumwanderten, mit ihrem Robert auf ganz besondere Weise verbunden, und das schrieb sie diesen ersten Umständen zu, unter denen sie das Büchlein erworben und verschenkt hatte.

Es kam der Tag, an dem alles, so wie es gut gewesen war, zu Ende ging.
An einem Abend kurz vor Ostern saßen sie gemeinsam vor dem Fernseher. Sie freuten sich auf den Besuch ihres Sohnes mit seinen fünf Kindern, der für Ostersonntag avisiert war, und diese ihre Enkel würden sie locker wegstecken dank des Tanztees im benachbarten Altersheim am Ostersamstag zuvor, an dem sie wie jedes Jahr selbstverständlich teilnehmen würden und der sie für die jugendliche Meute stählen würde, die sie über alles liebten.
Und plötzlich klagte er über ziehende Schmerzen in der Brust, und als die Übelkeit überhandnahm, waren sie bereits im Krankenwagen auf dem Weg zur Klinik, und nun, nach sechundvierzig Jahren Ehe faßte sie sich ein Herz und fragte ihn:
- Ich weiß, mein Schatz, es gibt keinen unpassenderen Zeitpunkt, aber ich muß es wissen – warum hast du das Gedichtbändchen, das ich dir zu Anfang unserer Liebe geschenkt habe, das in jedes neue Auto mitgewandert ist, nie gelesen?
- Mein Liebling, du weißt nach so langer Zeit noch nicht alles von mir. Ich brauchte es nicht zu lesen, ich kannte es bereits. Ich habe es geschrieben.

die maus im hemd
sie tanzt und tanzt
mit heißen pfoten auf dem herd
sie tanzt und tanzt
und
irgendwann
tut sie den letzten sprung
ihr kleines heißes herz zerspringt
sie hat das leben so geliebt

Letzte Aktualisierung: 16.06.2008 - 09.01 Uhr
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