Der himmelblaue Schmengeling
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Juni 2008
Die zertanzten Schuhe
von Barbara Hennermann

„Es war einmal ein König, der hatte zwölf Töchter, eine immer schöner als die andere. Sie schliefen zusammen in einem Saal, wo ihre Betten nebeneinander standen, und abends wenn sie darin lagen, schloss der König die Tür zu und verriegelte sie. Wenn er aber am Morgen die Türe aufschloss, so sah er, dass ihre Schuhe zertanzt waren, und niemand konnte herausbringen, wie das zugegangen war….“

Jeden Abend hatte sie die gleiche Geschichte hören wollen, kannte mit der Zeit jedes Wort und korrigierte die Mutter, wenn die beim Vorlesen die Betonung änderte. Und Nacht für Nacht träumte sie in ihrem Kinderbett den gleichen Traum, wie sie im großen Ballsaal mit ihrem Prinzen tanzte. Aber niemand, das schwor sie sich, würde ihr dieses Glück zerstören können und ihr den Prinzen wieder wegnehmen!

Mit einer raschen Handbewegung strich sich Annabell das immer noch blonde Haar aus der Stirn und räumte mechanisch das Nähzeug wieder in den Korb ein. Kinderträume! Wurden sie überhaupt jemals wahr?
Wie gern wäre sie auf die Balettschule gegangen wie andere kleine Mädchen aus ihrer Klasse, aber das Geld langte hinten und vorne nicht, um die acht hungrigen Mäuler am Familientisch zu stopfen. So begann sie nach der Schulzeit eine Schneiderlehre, um möglichst bald den Eltern nicht mehr auf der Tasche liegen zu müssen. In der Berufsschule traf sie auf Inga, die ihre Liebe zum Tanzen teilte. „Warum tanzt du nicht wie ich in der Faschingsgilde? Da kannst du das ganze Jahr für die Fasnachtstänze üben!“ Annaball war fasziniert, schrieb sich sofort ein und bezauberte mit ihrem Talent den alten Tanzmeister. Bereits nach einem Jahr war sie das erste Tanzmariechen und tanzte auf allen Faschingsveranstaltungen in vorderster Front. Sie lebte nur auf die Übungsabende und vor allem auf die großen Faschingsveranstaltungen hin.

„…Dem Königssohn fiels aber wie Blei auf die Augen und er schlief ein, und als er am Morgen aufwachte, waren alle zwölfe zum Tanz gewesen, denn ihre Schuhe standen da und hatten Löcher in den Sohlen. Den zweiten und dritten Abend gings nicht anders, und da ward ihm sein Haupt ohne Barmherzigkeit abgeschlagen. Es kamen hernach noch viele und meldeten sich zu dem Wagestück, sie mussten aber alle ihr Leben lassen...“

„Dir ist aber auch keiner gut genug, oder?“ Inga zog die Freundin neckend an den langen blonden Haaren. Annabell wehrte sie lachend ab. „Schau sie dir doch an, die Penner!“ Sie glitt mit den Händen unterstreichend über ihren schlanken Körper in der blauen Tanzmariechenuniform. „ Zu lahm, um einen Fuß vom Boden zu bringen die Typen! Mit so einem kann ich nichts anfangen.“ Immer noch lachend wandte sie sich der Tanzgruppe zu und warf herausfordernd ihre langen Beine in die Höhe. Inga schüttelte den Kopf. Wie lange wollte die Freundin das hier wohl noch mitmachen? Sie war weit über die Zwanzig und die jungen Mädchen würden ihr bald den Rang ablaufen. Aber Annabell war wie besessen vom Tanzen, wollte kein Ende sehen. Inga hatte längst das Handtuch geworfen, plante ihre Hochzeit und kam nur noch Annabells wegen zu den Übungsstunden. Bei Auftritten saß sie neben dem alten Tanzmeister im Publikum und bewunderte die Energie und eiserne Disziplin ihrer Freundin, die zwischen all den Teenagern wie eine lebende Legende wirkte. Sie machte sich Sorgen, denn Annabell lebte nur für diese Tanzveranstaltungen. Jeder Annäherungsversuch ihrer Verehrer – und es gab wahrlich reichlich davon! - wurde von ihr abgewehrt.

„…Nun trug sichs zu, dass ein armer Soldat, der eine Wunde hatte und nicht mehr dienen konnte, sich auf dem Weg nach der Stadt befand, wo der König wohnte. Da begegnete ihm eine alte Frau, die fragte ihn, wo er hin wollte. 'Ich weiß selber nicht recht,' sprach er, und setzte im Scherz hinzu 'ich hätte wohl Lust, ausfindig zu machen, wo die Königstöchter ihre Schuhe vertanzen, und danach König zu werden.' 'Das ist so schwer nicht,' sagte die Alte, 'du musst den Wein nicht trinken, der dir abends gebracht wird, und musst tun, als wärst du fest eingeschlafen.'…“

Der neue Tanzmeister war ein schneidiger Mensch, er wollte aus der Tanzgruppe etwas machen, auf Turniere gehen und Preise gewinnen. Die Zeiten hatten sich geändert, man musste dem Rechnung tragen. Die Truppe war auch wirklich nicht schlecht nur….
„Äh…Annabell…wir werden eine kleine Umstellung vornehmen müssen. In dieser Saison wird eine von den jungen Mädels das Tanzmariechen übernehmen. Du kannst natürlich gerne weiter in der Garde mittanzen.“
Eine Welt brach für sie zusammen. Was war ihr Leben noch wert ohne das Tanzen? Sicher, sie konnte weiter dabei bleiben, aber nun drang das Geflüster und Gekicher in ihr Bewusstsein, das sie bisher stets verdrängt hatte. „Die macht sich doch lächerlich mit ihrem Rumgehopse! In dem Alter sollte man auch was Besserer zu tun wissen. Aber wahrscheinlich hat sie keinen Mann abgekriegt und muss sich ihre Streicheleinheiten hier abholen…“

„Nur die jüngste sagte 'ich weiß nicht, ihr freut euch, aber mir ist so wunderlich zumut: gewiss widerfährt uns ein Unglück.' 'Du bist eine Schneegans,' sagte die älteste, 'die sich immer fürchtet. Hast du vergessen, wie viel Königssöhne schon umsonst dagewesen sind? dem Soldaten hätt ich nicht einmal brauchen einen Schlaftrunk zu geben, der Lümmel wäre doch nicht aufgewacht.' Wie sie alle fertig waren, sahen sie erst nach dem Soldaten, aber der hatte die Augen zugetan, rührte und regte sich nicht, und sie glaubten nun ganz sicher zu sein.“

Es wurden furchtbare Abende, an denen sie allein zu Hause saß. Ihr ganzes bisheriges Leben war auf die Tanzabende ausgerichtet gewesen. Alles, was sie in ihrer kleinen Schneiderwerkstatt verdiente, hatte sie für Kostüme und die Tanzgruppe ausgegeben. Sie spürte nur noch Leere in sich.
„Du musst endlich mal wieder raus hier!“ Inga, inzwischen rundlich geworden und mit vier Kindern gesegnet, schüttelte die Freundin energisch. „Los, melde dich bei einem Tanzkurs an und tu endlich was für dich!“ Annabell wehrte müde ab. „Ach Inga, wer wird mit einer alten Jungfer wie mir noch tanzen wollen?“ Da übernahm Inga die Initiative. Widerwillig schleppte sich Annabell zur Tanzschule. Was war wohl von einem „Tanzkurs gegen das Alleinsein“ schon zu erwarten?

„Sie tanzten da bis drei Uhr am andern Morgen, wo alle Schuhe durchgetanzt waren und sie aufhören mussten. Die Prinzen fuhren sie über das Wasser wieder zurück, und der Soldat setzte sich diesmal vorne hin zur ältesten. Am Ufer nahmen sie von ihren Prinzen Abschied und versprachen, in der folgenden Nacht wiederzukommen. Als sie an der Treppe waren, lief der Soldat voraus und legte sich in sein Bett, und als die zwölf langsam und müde heraufgetrippelt kamen, schnarchte er schon wieder so laut, dass sies alle hören konnten…“

Er hieß Martin, war Mitte Fünfzig, geschieden, mit schütterem Haar, leicht korpulent und kaum größer als sie. Von Beruf war er Kfz-Mechaniker. Aber er tanzte wie ein junger Gott. Annabell lebte wieder auf, lebte nur auf die Tanzabende hin, lebte in seinen Armen, die sie im Tanz führten. Beim Tanzen erzählten sie sich ihr bisheriges Leben. Bald gingen sie gemeinsam zu weiteren Tanzveranstaltungen und bedauerten zutiefst, dass sie für Tanzturniere nicht mehr jung genug waren. Das Tanzen schuf zwischen ihnen ein gemeinsames Band, wie sie es zuvor mit keinem anderen erlebt hatte. Martin schien es ähnlich zu gehen. Aber er ließ sich Zeit. Mehr als ein Jahr tanzten sie nun schon zusammen und in Annabell wuchs die Angst, er würde sie wieder allein lassen.
„Du stehst mir in den letzten Wochen ganz schön auf den Zehen herum! Ist was nicht in Ordnung bei dir?“ Martins Stimme klang besorgt. Annabell lächelte schief. Da nahm er sie zum ersten Mal außerhalb einer Tanzformation in den Arm. „Annabell, glaubst du denn, du könntest außer dem Tanzen noch was an mir finden?“ Sie schmiegte sich an ihn. Fühlte, wie ihr Herz sich mit seinem im Takt wiegte, während die Füße still standen. In dieser Nacht erlebte sie, wie es ist, wenn die Seele tanzt und die Welt schweigt.

„Darauf fragte ihn der König, welche er zur Frau haben wollte. Er antwortete 'ich bin nicht mehr jung, so gebt mir die älteste.' Da ward noch am selbigen Tage die Hochzeit gehalten und ihm das Reich nach des Königs Tode versprochen. Aber die Prinzen wurden auf so viel Tage wieder verwünscht, als sie Nächte mit den zwölfen getanzt hatten.“

Sie stellte das Nähkörbchen in den Schrank zurück. Ja, manchmal wurden Kinderträume auf wundersame Weise wahr! Sie lächelte, als sie Martins Schritte in der Diele hörte und ging ihrem Mann mit leuchtenden Augen entgegen. „Guten Abend, mein Prinz! Schön, dass du wieder zu Hause bist.“

Quelle: grimmstories.com/de/grimm_maerchen

Letzte Aktualisierung: 18.06.2008 - 22.58 Uhr
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