Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Juni 2008
4 Komma 6
von Bernd Kleber

Sie hatte es genau gesehen. Keinen Blick mehr würde sie von Ken lassen. Er hatte sich bewegt, er war gehüpft, als wollte er gleich aufstehen. Anna hielt die Luft an. Sie saß im Schneidersitz, nach vorn gebeugt unter dem Esstisch. Die Ellenbogen auf ihre Knie gestützt starrte sie Ken an.
Er sah sie an. So scharf sogar, als wollte er ihr gleich etwas mitteilen. Sie atmete flach und fixierte ihn. Daneben saß Arielle und sah sie beide empört an.
Aus dem Flur drang eine vertraute Stimme zu ihr, Anna hörte nicht darauf. Sie durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben; wenn sie weg sah oder sich rührte, würde ihr Freund nie wieder wackeln. Das wusste sie genau. Nun weiter wachsam sein.
Da! Wieder! Diesmal Arielle! Sie hatte sich gerührt! Annas Herz schlug schneller. ´Das war ganz in echt!` Damit würde sie sich nachher vehement beim Essen verteidigen. Arielle hat diesmal auch gezuckt, ohne dass Anna eingegriffen hatte. Beide konnten sich tatsächlich bewegen, dachte sie. Vielleicht dauerte es gar nicht lange, und sie begannen zu sprechen. Sie musste in Zukunft mehr darauf achten, ihnen Zeit zu geben, auf ihre Fragen zu reagieren. Diese ewigen Selbstgespräche konnten ja nichts bringen. Anna starrte weiter und wagte nicht einmal mit dem Kopf zu wackeln. Unter der Eichentischplatte staute sich die Wärme, vom Flur waren wieder Rufe zu hören. Energischer diesmal.„Anna geh jetzt ins Bett, Mittagsschlaf, verstanden?!“
Nein, sie konnte jetzt nicht antworten. Der Schrei würde ja Ken und Arielle total verschrecken. Anna blieb ruhig sitzen.
Hier war ihr Geheimzimmer, ihre Burg, ihr Nest, ihr Domizil. Sie hatte den Tisch von ihrer Oma bekommen, die jetzt im Himmel war. Und heute endlich hatten Ken und Arielle das erste Mal gehüpft. Ihre beiden kleinen Vertrauten wollten Kontakt zu ihr aufnehmen, wie in Toystory. Sie hatte geahnt, dass dies einmal passieren würde. Als sie den Film „Der Indianer im Küchenschrank“ gesehen hatte, wusste sie Bescheid.
Da! Wieder!
Diesmal das rosa Pony. Es war auf Ken zugesprungen, wie im Übermut, auszureiten. Und wie! Es hatte einen Riesensatz gemacht. So groß, dass Ken und Arielle erschraken und davon rennen wollten.
Beinahe!
„Anna, bist du im Bett?“
Sie verdrehte die Augen, stöhnte. „Nein, noch nicht, aber gleich!“ schrie sie zurück, ohne Ken, Arielle und Pony aus den Augen zu lassen.
„Dann mach` endlich, wir hatten eine Abmachung und ich muss los!“, rief ihre Mutter zurück. Das Klappern der Schuhe war zu hören und bedeutete, ihre Mutter hatte Absatzschuhe an.
Anna wusste, wenn ihre beiden Liebsten sich jetzt nicht erhoben, würden sie wieder ewig nichts machen. Vielleicht sollte sie die beiden aufmuntern? Sie streichelte das Pony und sagte: „Wenn ihr euch bewegt, nur ein bisschen, hole ich euch Kuchen aus der Küche.“ War überhaupt noch welcher da?
Sie hatte keine Ahnung. Anna konnte man immer mit Kuchen locken, das musste auch bei Ken und Arielle funktionieren. Mit zugekniffenen Augen sah sie beide an und wurde wütend.
Mit dem Zeigefinger gab sie Ken, ihrem Freund Ken, der wie Marcel aus dem Schulchor aussah, einen Stups. Ken fiel um. Mehr geschah nicht, er blieb mit nach oben gestreckten Beinen liegen. Anna kochte. Sie konnte sich nicht so verguckt haben. Die wollen es nicht merken lassen, dass sie sich bewegen können!
„Anna, zum letzten Mal. Ich komme jetzt!“
Mist, jetzt musste sie ins Bett, mit ihrer Mutter wollte Anna keinen Streit. Irgendwie hatte sie gesagt, dass sie zum Amt müsse und eine Stunde fort wäre.
Mittagschlafamt vielleicht? Es war an der Zeit, aus ihrem Schloss ins Bett zu klettern. Einen „winzigklitzekleinenmagerenpupsischnutzi“ Augenblick noch.
Sie hörte am Klappern der Absätze, dass Mutti gleich die Tür erreichte.
Plötzlich passierte es wieder! Pony und Arielle waren wie aus Angst vor den Schritten der Anna-Mutti zusammengehüpft, saßen eng beieinander.
Schon trat Mutti ein: „Anna? Annaaa? Komm hervor. Ich deck´ dich noch zu.“
Anna kroch traurig unter dem Tisch hervor: „Menno, kann ich nicht unter dem Tisch schlafen? Ken und Arielle vermissen mich.“
„Nimm sie doch mit ins Bett.“
„Nein, sie wollen tanzen oder reiten und nicht schlafen!“
„Also pass auf, ich schicke dir Frau Klose rüber und du bist artig und bleibst im Bett, dann bekommst du später eine Überraschung. Sei lieb, bis nachher, Kuss!“
Sie drückten sich, Anna legte sich flach auf den Rücken, die Arme an die Seiten gepresst, Schlafbereitschaft signalisierend. Ihre Gedanken waren aber bei ihren Freunden.
Die Mutter ließ die Zimmertür einen Spalt offen. Anna hörte das Huftrappeln ihres Ponys und hatte eine Riesenfreude.
Ein Grummeln stieg vom Boden empor und ergriff sie! Gewisper aus dem Flur, als würde sie dadurch schneller einschlafen. Püh!
Die Eingangstür klappte und Frau Klose steuerte die Küche an, um Kaffee zu kochen. Anna musste warten, bis sie ins Zimmer geschaut hatte, dann würde die Dicke bald vor dem Fernseher eindösen. Sie mochte Frau Klose deswegen sehr!
Nur nicht einschlafen, Anna, schön wieder die Augen auf, sagte sie sich.
Schritte kamen, die Tür knarrte. Ruhe! Tür wieder zu, Schritte entfernten sich. Prima!
Anna saß wieder unter dem Tisch. Diesmal stupste sie Arielle vorsichtig an und flüsterte: „Ihr könnt euch jetzt bewegen, Mutti ist weg!“ Ken setzte sie wieder auf.
Oh, sie erfüllten Annas Wunsch und machten eine kleine kreisende Bewegung.
Und noch einmal! Eine ganze Runde um sich selbst, alle drei, Ken, seine Freundin und Pony. Toll! Anna juchzte auf! Stets hatte sie geahnt, dass ihre Spielkameraden lebten.
Plötzlich stand Ken auf, hopste einbeinig ein paar Zentimeter auf Arielle zu, die es ihm gleich tat und ein Tänzchen wagte. Dabei hielt ihre Hand sich an ihm fest, Pony sprang um sie herum. Dazu donnerte es komischerweise, grollte, was Anna verwunderte, denn diesen Lärm konnte die drei kleinen Gestalten kaum veranstalten. In dem Moment rumpelte der Tisch, rutschte herum. Eines seiner Beine kam auf Annas Hemdchen zu stehen und klemmte es ein. Anna schaffte es trotz aller Anstrengung nicht, sich zu befreien. Was fiel dem Tisch denn ein, einfach mitzumachen? Der Tanz wurde jetzt so heftig, dass der Boden rappelte und wackelte. Ken, Arielle und Pony sprangen hoch in die Luft, Anne klammerte sich schreiend am Tischbein fest. Sie hatte große Angst, ließ die tanzenden Puppen jedoch nicht aus den Augen. Ein Gemisch aus Angst und Staunen, aus Freude und Unsicherheit bemächtigte sich ihrer, wie eine unbekannte Krankheit.
Ken wollte auf das Pferd steigen, Anna kullerten Tränen über ihre Wangen, das Pferd bäumte sich wild auf. Ken stürzte, es gab einen gewaltigen Knall, noch einen, mit schepperndem Geräusch direkt über ihr und dann ... Staub. Überall Staub um sie herum ...
Anna sah nichts mehr außer weißen Nebelschwaden. Eine merkwürdige Stille strich wie ein Phantom durchs Haus. Dann schrie Frau Klose, hysterisch, unnatürlich verzerrt: “Annaaaaaaaa!“
Anna weinte und wischte mit beiden Händen das Gemisch aus Tränen und beißenden Staub aus den Augen. Sie musste wie bei einem Schluckauf wiederholt heftig nach Luft schnappen und schluchzte ohne Unterlass.
Frau Klose sah sie wie eine Fremde an. Sie hatte sich ächzend auf ihre Knie herab gelassen und zog Anna zu sich: „Gutes, schlaues Kind, ein Wunder, du süße, süße Anna!“ Frau Klose weinte ebenfalls und drückte Anna fest an ihre Kittelschürze, die nach Staub roch.
Dann wieder Schreie, diesmal kamen sie von überall. Anna bekam Angst, was war denn los? Sie hätte im Bett bleiben sollen, dachte Anna ...


Am Abend saßen sie und ihre Mutti bei Frau Klose am Küchentisch und guckten in den Fernseher. Anna knabberte an einer Scheibe Käsebrot und sah abwechselnd zu ihrer Mutter und Frau Klose, die andauernd die Köpfe schüttelten. Sie sprachen von einem Wunder und dass die Decke des Zimmers Anna in ihrem Bett hätte erschlagen können.
Anna dachte nur an den Tanz von Ken und Arielle. Ihre Mutti und Frau Klose hatten milde gelächelt, als sie davon erzählte. Im Fernseher sagte Claus Kleber in den Nachrichten: „ ... am Schlimmsten hat es die Stadt Heidelberg getroffen, die dem Epizentrum des Bebens über dem Rheingraben am nächsten liegt. Das Beben hatte hier eine Stärke von 4,6 auf der nach oben offenen Richterskala. Menschen kamen nach ersten Berichten nicht zu Schaden ...“

Letzte Aktualisierung: 09.06.2008 - 22.33 Uhr
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