Der Tod aus der Teekiste
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Juni 2008
Tanz der Zuckerfee
von Hajo Nitschke

Die Schusswaffe ist der Hand des Toten entglitten, der zurückgesunken vor dem großen Schreibtisch sitzt. Auf dem Fußboden des Dienstzimmers hat sich eine Blutlache ausgebreitet. Kommissar Werner nimmt den unkuvertierten Brief vom Tisch. Angeheftet ist eine Pressemitteilung, in Zeiten des Ungarnaufstandes und der Suezkrise des Monats November 1956 eher eine Randnotiz. „Nussknacker-Ballett: Die bekannte Ballerina Sara Feingold gastiert am 23.11.56 im Opernhaus“. Das Pressefoto zeigt eine junge Frau, eine Tänzerin in weißem Tüll-Rock, der in wirbelnder Tanzpose fast gänzlich das fleischfarbene Beintrikot freigibt. Werner erkennt das Gesicht wieder. Die feinen, ausdruckstarken Züge haben sich ihm eingeprägt, noch mehr aber das, was sie ihm erzählte. Er ist zu spät gekommen. Bürgermeister Heinz Mildenburger hat sich der irdischen Gerechtigkeit entzogen.

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„Verzeih mir, Maria! Diese Schande ertrage ich nicht! Bitte lass mich Dir sagen, dass ich Dich liebe! Aber ich führte ein Doppelleben, von dem Du nichts wusstest. Nicht, dass ich mich dessen schäme, aber Du wirst es dennoch nicht verstehen. Ich erinnere mich noch genau an unsere Hochzeit, vier Jahre nach Kriegsende, kurz vor Gründung der Republik. Sieben Jahre ist das jetzt her: Das verflixte siebente Jahr! Was Du damals nicht ahnen konntest: Ich kam NICHT aus britischer Gefangenschaft heim! Nein, ich darf endlich stolz bekennen, im Dritten Reich SS-Mitglied im Arbeits-Camp (heute KZ genannt) gewesen zu sein. Ich war Kommandant eines mit dem kompletten, bewährten Bereinigungs-Instrumentarium ausgestatteten Lagers. Es war meine Pflicht, für Gehorsam und Disziplin zu sorgen und mit eisernem Besen zu kehren, damit die Arbeitsmoral und damit der Auftrag gesichert blieben. Das kannst Du Dir heute gewiss nicht vorstellen. Es waren schwere Zeiten! Glaub nicht, dass es mir große Freude bereitete, nicht-arische Elemente in die Kammern zu schicken. Aber es waren damals einfach zu viele, deren Arbeitsleistung im Missverhältnis zu ihrem Funktionsbedarf stand. Der Tod durch Zyklon B war ein gnädiger, rascher und sanfter. Duschen, dachten die! Als ob wir damals für nutzlos gewordene Zigeuner, Homosexuelle und vor allem die jüdische, immer wieder die jüdische Brut Wasser verschwendet hätten! Wir bewältigten die Probleme nach besten Kräften, in deutscher Gründlichkeit und mit Organisationsgeschick. Züchtigungen, Diätpläne, medizinische Hilfen in Reihe, Massen-Fangschüsse, Einschläfern: Die Verbrennungsöfen liefen zuletzt Tag und Nacht, denn Nachschub kam pausenlos und herdenweise. In rußgetränkter Luft eliminierten wir, reduzierten, entfernten und musterten aus, Stück um Stück, wie am Fließband. Taten all das, was getan werden musste, ohne zu klagen. Doch das Leben hatte auch andere Seiten: Abends die Entspannung, wenn wir bei einem Glas Wein an unsere Lieben zu Hause dachten und unsere Heimatlieder sangen. Oder wenn uns Lagerorchester und –ballett erfreuten. Ja, doch, wir waren viel gefühlvoller, als man denkt. Nicht selten traten mir Tränen der Rührung in die Augen, wenn sich die harte Tagesarbeit dann ihr Ventil suchte…..“

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„ Wenn es ‚I-him schööön-sten Wie-sen-gruuu-hun-de’ aus der Kommandatur erscholl, wussten wir in den vorderen Frauenbaracken, dass vorerst nichts zu befürchten war. Ich fand Zeit zum Träumen: Die glückliche Kindheit in Warschau. Das Elternhaus, meine Ausbildung zum Ballett. - ‚Kopf hoch! Kreuz durchdrücken! Grundstellung! Halbe Spitze - demi pointe! Ganze Spitze - pointe! Plié auf den Spann! Gewicht auf die Füße, Sara, nicht auf die Stange! Beine durchstrecken! Abrollen! Und Stand! Und jetzt Echatés!’ - Es waren harte, wunderschöne Lehrjahre. Und meine spätere Lebensrettung! Wir wurden 1940 alle drei ins Lager deportiert und gleich bei Ankunft getrennt. Mammele und Papachen haben das Lager nicht überlebt. Obersturmführer Gehrke machte mich als Sechzehnjährige zum Mitglied eines hochtrabend Lagerballett genannten Ensembles. Im Vorhof zur Hölle war ich, die blutjunge jüdische Spitzentänzerin, so etwas wie eine Ballerina. Das Personal bestand aus Teufeln, aber der Schlimmste war Gehrke. Er stand morgens gelangweilt am Fenster, erschoss meine Landsleute nach dem Zufallsprinzip mitten im Lager wie Tontauben und lachte nur dabei. Er peitschte aus, wickelte in Stacheldraht, dirigierte höhnisch in die Gaskammern, ließ die Häftlinge verhungern, abknallen oder grausamen, sogenannten Medizinern ausliefern. Aber er war, wie unvorstellbar, andererseits ein Musik- und Ballettliebhaber. Da ging ihm das Herz auf, das wir als abhanden gekommen wähnten. Anfangs war noch russische Musik erlaubt, da sie mit deutscher Romantik verwandt war. Ihm hatte es die Nussknacker-Suite, Opus 71a, angetan. Ich war seine Zuckerfee, musste ihm immer wieder ihren Tanz vorführen. Zunächst in Schnürschuhen, vorne mit Papier ausgepolstert (meine Zehen waren immer blutig). Später besorgte er italienische Spitzenschuhe mit Schaumstoffkappe, und der gestreifte Arbeitsanzug wich abends einer richtigen Balletthose nebst weißer Seidenbluse. Sogar den Stern durfte ich dann beiseite lassen. Gehrke, den ich bald Heinz nennen durfte bzw. musste, hing wie gebannt an meinem Spitzentanz, in seinen Augen ein Gemisch aus Gier und Abscheu. Irgendwann überwog die Gier.. Immer wieder, und wenn er betrunken war, umso öfter, begehrte er mit Ergriffenheit und Widerwillen zugleich: ‚Darf ich bitten!! Den Tanz der Zuckerfee!!’ - La-la-laaa---laaa-laaa-laaa---lalalaa---lalalaa---lalalaa---lalalalalaaa…Sie kennen ihn?“


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Kommissar Werner kannte ihn. E-Moll, Andante ma non troppo. Zweiter Akt des berühmten Balletts Opus 71. Er war vorgestern bei der Aufführung selber im Publikum gewesen. Hatte sich in den Bann der Tänze ziehen lassen. Zur Zuckerfee waren die Glockenspielklänge der eigens hierfür ausgewählten historischen Celesta ertönt: So etwas hatte das damalige Lagerorchester gewiss nicht zu bieten! Wie hatte er die jüdische Primaballerina bewundert, die Anmut ihres Tanzes, die grazile Eleganz der Sprünge und Dreher! Und diese Körperbeherrschung! Wie im Fluge, alle Grenzen der Schwerkraft sprengend! Man musste sich den Namen merken: Sara Feingold von der Deutschen Oper Berlin! Anfang Dreißig. Schwebender Engel, makellose Schönheit einer Garbo, Gestalt einer Göttin, Talent einer Pawlowa! – Werner überfliegt die nächsten Passagen des Abschiedsbriefes. Sie berichten in schwülstigen Tönen von der Leidenschaft zum Ballett, besonders dem Nussknacker. Er weiß es schon: Der Schreiber hatte damals eine junge Spitzentänzerin aus der Masse der Häftlinge hierfür „engagiert“, eben Sara Feingold. Die folgenden Passagen interessieren ihn besonders….


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„Nein, ich habe sie nie begehrt! Sie war Jüdin!! Zumindest ein Lagerleiter durfte so tief nicht sinken. Einerseits war es eine Zumutung, einen Untermenschen auf diese aufreizende Art posieren zu lassen. Andererseits liebte ich diese Musik, verstehst Du? Als im Sommer 1941, nach unserer russischen Verteidigungsoffensive, auch Tschaikowsky verboten wurde, ließ ich mir von Sara, so hieß die junge Judengöre – Sara Feingold – Vorstellungen im Geheimen geben, nur für mich allein. Das ging jahrelang so, während die Arbeitsanforderungen stiegen.. Wir blieben standhaft, ließen uns auch von dem oft menschlichen Jammer vortäuschenden Gehabe dieses selektierten Abschaums nicht ablenken. Daher lagen wir stets im Plan. Was dann aber 1944 passierte, war ungeplant: Sara warf ein Judenjunges! Wagte es, mir die Vaterschaft in die Schuhe zu schieben! Drohte gar, mich zu verraten, stieße dem Sprössling etwas zu. Aber ich bin und war kein Unmensch. Als wir uns kurz vor Einmarsch dieser selbstgerechten Alliierten absetzten, nahm ich den Balg mit. Es war nämlich später förderlich, den Behörden einen Schutzbefohlenen vorweisen zu können. Noch bevor ich Dich kennen lernte, kam er als Kriegswaise Peter Iljitsch Feinbaum hier ins Kinderheim, wo ich natürlich jeden Kontakt abbrach. Ich selbst vermochte, ebenfalls unter falschem Namen, die lasche Entnazifizierung der britischen Besatzer zu überstehen, machte Karriere im Rheinland, blieb hier im Ort und wurde gar Bürgermeister, wie Du weißt. Und dann das! Sie ist zwölf Jahre älter als damals, aber ich erkannte sie sofort wieder. Und ausgerechnet das Nussknackerballett! Ich musste einfach nach Köln fahren, musste sie sehen! Es war ein Rausch! Ich verfolgte den Tanz wie im Fieber, und anschließend bat ich sie um ein Autogramm. Sie erkannte mich erst, als ich lächelnd fragte: ‚Darf ich bitten? Den Tanz der Zuckerfee?’ Doch jetzt denke nicht, dass sie sich etwa dankbar für die kleine Galanterie ihres Lebensretters zeigte! Nein, sie stürzte sich wie eine Furie auf mich und verlangte Auskunft, wo sich der kleine Bastard befinde (sie nannte ihn vornehm ‚unseren Sohn’). Kaum hatte ich es ihr – reichlich verwundert – berichtet, rannte sie schreiend aus der Garderobe. Das letzte, was ich noch hörte, war: ‚Gehrke, du Schwein!! Du wirst ganz schnell Besuch von der Polizei bekommen!’ Ach, Maria, nun gelangt es ans Tageslicht! Was werden die Kameraden sagen! Rassenschande!! Kind mit einem Judenweib! Andenken des Führers besudelt! - Ich kann nie mehr zu den Versammlungen gehen (nein, es war nie der Skatclub!), kann ihnen nicht mehr in die Augen sehen! Das ertrag ich nicht! Leb wohl! Und nochmals, verzeih mir, wenn Du kannst! Ich weiß nicht, wie das mit dem Judenbalg passieren konnte!“


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Kommissar Werner nimmt mit einem Gefühl von Ekel und Trauer den Brief an sich. Es wird nicht leicht sein, die Witwe Mildenburgers alias Gehrke zu informieren. Berichte an diverse, auch israelische, Behörden sind zu schreiben. Und dann muss er noch ins Haus Sonnenschein, um die Leiterin über die wahre Herkunft eines zwölfjährigen deutsch-jüdischen Buben zu unterrichten, der jetzt endlich eine Mutter haben würde.



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Letzte Aktualisierung: 10.06.2008 - 09.46 Uhr
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