Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Juni 2008
Zaida´s Tanz
von Patricia Radda

Der Fluss Vanja war nach der Königin benannt. Er schlängelte sich vom namenlosen Nordmeer bis zum Uligo, dem Meer im Süden. Im Norden war der Fluss Vanja breit und tief, er rauschte scheinbar unaufhaltsam durch das große Weideland und wurde von vielen kleineren Flüssen, die meist nicht einmal einen Namen hatten, genährt. Im Süden wurde er jedoch immer sumpfiger, so stark er auch war, nicht einmal er konnte sich gegen die Mortalitas durchsetzen. Wenn der Fluss es also endlich durch die totbringenden Wälder geschafft hatte, war nur noch ein Bächlein übrig, welches ins Uligo fließen konnte.
Mitten im Zentrum des Kontinents machte der Fluss einen Bogen, einen beinahe vollendeten Kreis, auf den letzten hundert Metern überlegte er es sich jedoch anders und statt den Kreis zu schließen, floss er wieder Richtung Süden weiter. Jukot, so nannten die Leute das heilige Land innerhalb des Bogens, das ja fast eine Insel geworden war. Jukot war Weideland, weite Wiesen, wie das umliegende Land auch. Doch dann, einfach so, ragte ein hoher Berg empor. Ein einzelner Berg, als hätten die Götter einen Stein fallen lassen. Hinauf führten nur zwei verschlungene Wege. Der Berg war kahl, steinig, und selbst mit einem guten Pferd brauchte man einen ganzen Tag, um hinauf zu kommen. Und wenn man es schaffte, dann sah man sie. Am Gipfel lag die Burg der Herrscher, das älteste Gebäude der Welt. Die Außenmauern waren meterdick, das schwere, mit Eisen beschlagene Holztor so hoch und breit, das zwei Pilu Params, elefantenartige Wesen, nebeneinander hindurchgehen konnten.
Die Burgmauern waren mit in den Stein gehauenen Figuren geschmückt. Es waren ausnahmslos Frauen dargestellt. Alle Bilder zusammen formten den Chawata, den Tanz, den uralten Wettkampf der Königinnen. Im Inneren der Burg waren andere, nicht so wichtige Tänze, dargestellt. Die Böden in der ganzen Burg waren Mosaike aus Achaten und Opalen und alle paar Meter brannte ein Feuer in einer Grube im Boden. Die Eingangshalle war beeindruckend, mit poliertem Marmor und Elfenbeinschnitzereien, aber jene alte Frau, die zwei Tage und Nächte hindurch gegangen war, um den Gipfel zu erreichen, ließ sich nicht in Erstaunen versetzen.
Der Name der Frau war Elin Paloma, und in den wohl achthundert Jahren ihres Lebens war sie schon unendlich oft in der Burg ein- und ausgegangen. Elin Paloma ging, wie seit etlichen Jahren, auf einen langen Stock gestützt, den sie eigentlich nicht brauchte. Sie roch immer nach Kamille und war mit einem langen, einfach geschnittenen Kleid aus Schafsleder verhüllt. Ihr schwerer Mantel war aus Wolfspelz, ihr Haar unter einer Kapuze verborgen, die ihr weit ins Gesicht hing. Sie hatte kräftige, sehnige Arme, die braun gebrannt waren, und abgenutzt aussahen. Sie verrieten, dass Elin Paloma eigentlich nicht auf der Burg lebte. Sie zog meistens durch das Land, auf der Suche nach Auserwählten. Sie fand sie oft und schnell, denn sie wusste, wohin sie gehen musste. Doch es war schon lange her, seit sie ein Mädchen gefunden hatte, dass passte. In diesem Jahr waren alle Mädchen, die das richtige Alter hatten, schon gefunden. Diesmal ging Elin Paloma zielstrebig durch die Eingangshalle und dann die steile Treppe hinunter, die in eine große, in den Berg gemeißelte, Höhle führte. Hier unten hatten sich schon alle versammelt. Kinder, Erwachsene, Alte; Fremde, die vielleicht schon wochenlang unterwegs waren. Sie alle saßen oder standen im Halbkreis, an die Wände des Raumes gedrückt. In der Mitte blieb ein großer Kreis frei, den an diesem Tag noch niemand betreten hatte. Sie alle begannen Elin Palomas Anwesenheit zu spüren. Und als der letzte Verschlafene die Augen aufschlug, war sie plötzlich da. Sie schüttelte das lange schwarze Haar und hob den Arm mit dem Stock weit über ihren Kopf. Alle verstummten und Elin Paloma fing an zu sprechen. „Seit vielen tausend Jahren sind diese Mauern Zeugen und Wächter. Sie bürgen für die Richtigkeit des Tanzes, den nur Königinnen beherrschen. Seit dem Beginn der Zeit ist es die Pflicht einer jeden Tänzerin in die Burg der Herrscher zu kommen und ihren Tanz darzubieten. Die Weisen lassen sich von den Göttern, den Geistern und unserer großen Mutter leiten, um die wahre Königin zu wählen.“ Elin Palomas Stock sank zu Boden. Elin dachte an die Königin, alt und müde, und hoffte auf eine Entscheidung der Geister. Sie machte sich von ihren Gedanken frei, dann klopfte sie einen Takt auf den Boden. Als ihr Stock wieder still stand, hob sie einen Fuß leicht an. Ihre nackten Zehen und Fersen klopften einen nie gekannten Rhythmus. Schließlich warf sie sich zu Boden, mit Knien, Kinn und Handflächen berührte sie den glatten, abgewetzten Stein und betete. Das Gebet sprach sie seit Jahrhunderten nur alle sieben Jahre am ersten Tag des neuen Jahres. Sie bat die große Mutter, aus deren Bauch alle Menschen der alten Zeit gekommen waren, um das Recht, auf ihrem Boden tanzen zu dürfen. Danach fügte sie hinzu, dass sie Hilfe brauchen würden, um eine wunderbare nächste Königin zu finden. Sie dankte der Erde und dem Stein, auf dem sie lag. Dann richtete sie sich auf, öffnete die Augen, murmelte leise Worte, daraufhin begannen siebzehn Lagerfeuer zu lodern, klein und warm, in der ganzen Halle. Jedes Feuer entfaltete seinen eigenen Rhythmus, seine eigene kleine Melodie. Trommeln ertönte, Flöten und Klingeln, alles aus dem Knistern des Feuers erzeugt. Bis es eine Musik ergab. Elin Paloma rief noch einige Worte. Plötzlich wurde neben jedem Feuer eine Tänzerin sichtbar. Sie begannen ihre Arme, Beine und Hüften nach dem Rhythmus der Musik zu bewegen. Und nun geschah es. Selbst in ihrem langen Leben hatte Elin Paloma es erst ein einziges Mal erlebt. In diesem Jahr entschieden sich die Geister sehr rasch. Schon nach wenigen Minuten hörten die anderen Tänzerinnen eine nach der anderen auf, sich zu bewegen. Sie standen mit geöffneten Mündern da und starrten. Elin Paloma war aufgesprungen und unterdrückte Freude und Stolz. Zaida, ihre wunderbare Nichte, Enkelin der Königin, war alt genug. Genau zwanzig Jahre hatten die Geister mit angesehen, wie sie sich zu einer Führerin, einer Tänzerin, entwickelt hatte. Sie hörte nicht auf zu tanzen. Ihre Bewegungen waren fließend und perfekt. Niemand hatte ihr gezeigt, wie sie tanzen sollte. Ihr Leben lang hatte sie ihrer Großmutter beim Tanzen zugesehen. Jahrelang war sie um die Burg der Herrscher gegangen und hatte versucht die Fresken und Reliefs über den Chawata zu erkennen, und die Figuren nachzuahmen.
Nach einigen Stunden des vollkommenen Tanzes hatte Zaida alle Bilder, die ihr in den Sinn gekommen waren, nachgestellt. Sie war bereit.

Letzte Aktualisierung: 08.06.2008 - 00.57 Uhr
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