Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Juni 2008
Der letzte Tanz
von Heike Pauckner

„Um 16.20 Uhr fährt der nächste Bus!“ Ben Crown kam mit leicht wiegendem Schritt zurück zu der Bank, auf die Emily sich gesetzt hatte. Seine Hüften waren kaputt, genau wie bei ihr, doch sein Stolz hielt seinen ergrauten Kopf und seinen Gang aufrecht, obwohl er bestimmt schon seit ein paar Jahren einen Stock gebraucht hätte.
„16.20 Uhr? Und wie weit kommen wir damit?“ Emily blickte auf den Schokoriegel in ihrer Hand und überlegte, ob ihr Gebiss den harten Nüssen gewachsen war. Sie hatte stark abgenommen und nicht nur ihre Kleider waren zu groß geworden. Vorsichtig biss sie ein Stück ab und lutschte daran. Es würde nicht lange dauern, bis sich der süße Genuss rächen würde, doch im Moment genoss sie ihn, wie eine verbotene Frucht.
„Wir kommen bis nach Pennymountain, dann müssen wir sehen, dass wir den Anschluss nicht verpassen. Ich denke, wir werden nicht vor Mitternacht da sein!“ Ben nahm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, putzte über die Sitzfläche und ließ sich neben Emily auf der Bank nieder. „Willst du mal den Zeitungsausschnitt sehen?“
Emily nickte und kramte in ihrer Handtasche nach ihrer Lesebrille. Zwei Tablettenblister raschelten leise und sie schloss die Tasche schnell, bevor Ben einen Blick hineinwerfen konnte.
„Neueröffnung – Retro-Style – der alte Golden Palace im neuem Glanz!“ Emily überflog den Bericht, während der Wind der vorbeifahrenden Autos das Blatt flattern ließ. Mehrmals begann sie von Neuem, doch irgendwann gab sie es auf. Der Wind, der Ausschnitt und die Arthrose in ihren Finger passten einfach nicht zueinander.
„Ob es so ist wie damals?“, überlegte sie laut und gab Ben den Bericht zurück, den er sorgfältig in seiner Brieftasche verschwinden ließ. „Weißt du noch, wie viel Spaß wir da immer hatten? Du, ich, die Brown-Zwillinge, Bobby, Dodo und Pipps? Es ist so unendlich lange her, und doch ist es manchmal, als wäre es erst gestern gewesen.“
„Ja ich weiß!“, antwortete Ben. „Ich kann es auch nicht glauben, dass ich der alte Mann bin, der mir morgens aus dem Spiegel entgegen starrt. Ich stehe dann stundenlang davor und Mary Lou muss mich in solchen Momenten aus dem Badezimmer holen. Sie ist dann immer ziemlich böse und meint, ich solle mich damit abfinden, dass wir nicht mehr zwanzig sind. Jedes Ding hat seine Zeit, sagt sie und wir sollen froh sein, dass wir überhaupt noch leben.“
„Die Brown-Zwillinge hat es letztes Jahr erwischt. Pipps und Dodo weißt du ja. Was aus Bobby geworden ist, weiß ich nicht.“ Emilys Bauch schickte eine Schmerzwelle durch ihren Körper und sie sog die Luft scharf ein.
„Geht es?“, fragte Ben besorgt und Emily setzte schnell ein Lächeln auf und nickte. Eigentlich wurde es Zeit für ihre Tabletten, doch genau in diesem Moment bog der Bus um die Ecke und kam, schnaubend wie ein Walross, vor ihnen zum Stehen. Die Tür öffnete sich und ein Schwall warmer Luft schlug Emily ins Gesicht. Mühsam richtete sie sich auf und Ben half ihr beim Einsteigen.
„Vielleicht hätten wir uns einfach ein Taxi leisten sollen?“, tuschelte er auf den Weg zu zwei freien Plätzen im hinteren Bereich. Der Fahrer wartete, bis sie sich gesetzt hatten, wie Emiliy dankbar bemerkte. Ein Rucken ging durch den Bus, und die Landschaft flog an ihnen vorbei, mit grauen Fußwegen, verwaschenen Hochhäusern und Stromleitungen, die wie Wäscheleinen aussahen.
„Als wir jung waren, da hätten wir uns nie ein Taxi leisten können oder?“, bemerkte Emily und drückte unauffällig zwei Tabletten aus ihrer Verpackung. „Ich will, dass es so ist wie damals. Ich will das schaffen!“
„Ist gut Emily! Wir machen es so!“ Ben streichelte ihren Arm und legte ihr dann kurzerhand seinen um die Schulter. Schnell nahm Emily ihre Tabletten und versuchte den Schmerz zu ignorieren, der wie ein heißes Schwert in ihren Eingeweiden bohrte. Die Tabletten halfen, doch sie machten Emily benommen. Sie sah die Brown-Zwillinge ein paar Reihen vor sich sitzen, zwei junge Mädchen mit braunen Zöpfen, die sich nach ihnen umschauten und ihnen zuwinkten und da war Pipps! Er grüßte sie militärisch und lachte, bevor er sich auf seinen Platz setzte.
Ben war da! Da vor ihrem Fenster. So wie er war, als er noch jung war. “Du bist meine beste Freundin, Emily“, rief er ihr zu, während er neben dem Bus herlief. „Ich kriege den letzten Tanz heute Abend. Wie immer! Der letzte Tanz für den besten Freund!“
Der Bus fuhr schneller und er konnte nicht mehr mithalten. Emily blickte durch die schmutzige Scheibe zu ihm zurück.
„Emily?“ Sanft rüttelte eine Hand an ihrer Schulter.
„Was?“ Emily fuhr aus ihren Träumen hoch und blickte sich verwirrt um.
„Alles in Ordnung Emily, wir sind da!“, sagte der alte Ben neben ihr.
„Aber... wir hätten doch umsteigen müssen?“ Erstaunt nahm Emily zur Kenntnis, dass es mittlerweile Nacht war und die Sterne am Himmel funkelten.
„Du hast fast die ganze Zeit geschlafen, und als wir umgestiegen sind, da habe ich dich kurz geweckt. Der Busfahrer hat mir geholfen, dich in die andere Linie zu bringen. Du kannst dich nicht erinnern oder?“
Emily schüttelte stumm den Kopf. Die Tabletten dachte sie.
„Ach, mach dir nichts daraus!“, versuchte Ben sie zu trösten.
„Ich vergesse auch ganz oft irgendwelche Dinge.“ Er hatte ihren verwirrten Blick durchaus richtig gedeutet.
Vorsichtig nahmen sie Stufe um Stufe aus dem Bus hinaus. Gegenüber des Busbahnhofes zeichnete sich die Silhouette eines hohen Gebäudes ab.
„War es immer schon so groß?“, fragte Emily und war dankbar dafür, dass Ben sie stützte, während sie langsam über die Straße gingen.
„Ich habe es auch kleiner in Erinnerung, aber es ist das alte Golden Palace!“ Sie betrachteten den Eingang, über dem eine erloschene Leuchtreklame hing. Bunte Pappe in den Fenstern pries die Neueröffnung in zwei Tagen an, mit Happy Hour und einer Live-Band, die Songs aus den Fünfzigern spielen würden.
„Kannst du hier stehen bleiben, Emily? Ich müsste kurz telefonieren!“ Ben verschwand um die Ecke, während Emily schnell in ihrer Tasche nach den Tabletten kramte. Nein - dachte sie bei sich und schloss die Tasche wieder. Sie würde jetzt keine Tablette mehr nehmen. Sie wollte diesen Moment genießen, wollte noch einmal jung sein. Sie strich über den abgegriffenen Türknauf, der immer noch derselbe war wie damals, als sie hier noch ein- und ausgegangen waren. Links daneben war die Eisdiele gewesen und die Straße herunter, da hatte Sam eine Coffee-Bar betrieben. Emily hatte dort viele Jahre lang gekellnert. Die Welt drehte sich weiter, niemand konnte sie aufhalten.
„Er kommt gleich!“, rief Ben, fast schon ein bisschen aufgekratzt und deutete auf sein Handy. „Eine alte Freundschaft, die sich nun bezahlt macht.“
Langsam gingen sie vor dem Golden Palace auf und ab, bis auf der anderen Straßenseite ein Motorrad hielt. Der Fahrer stieg ab und kam auf sie zu.
„Ben Crown?“, fragte ein junger Mann in den Zwanzigern.
Ben nickte. „Sie sehen aus wie ihr Großvater! Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend!“
Der junge Mann lächelte und zog einen großen Schlüsselbund aus der Tasche. Er blickte sich vorsichtig um, dann schloss er die Tür auf und ließ Emily und Ben eintreten.
Dieser Geruch! Diese Mischung aus Alkohol und Zigarettenrauch hing noch immer in der Luft. Selbst der frische Farbgeruch konnte ihn nicht überdecken. Emily schossen die Tränen in die Augen, als er auf sie einstürmte. Es war fast wie damals. Gerüche vergaß man nie, hatte sie einmal gelesen, und doch war sie nicht darauf vorbereitet gewesen.
„In zwei Stunden muss ich zum Dienst! Ich hole den Schlüssel dann wieder ab.“ Der junge Mann ging zu einem Kasten an der Wand, öffnete ihn und legte mehrere Schalter um. „Alles fertig!“ Er nickte ihnen zu und verschwand durch die Tür.
„Darf ich bitten?“ Ben verbeugte sich vor Emily und hielt ihr seinen Arm hin. Emily hakte sich unter und Ben führte sie auf die Zwischentür zu, die den Hauptsaal vom Foyer trennte.
„Ein Schritt in die Vergangenheit!“, sagte er und schob die Tür auf.
Emily blieb stehen und schluckte. Da war es! Das Golden Palace aus ihrer Erinnerung. Sie hatten es wieder hergerichtet, ganz wie es einmal gewesen war. Der glänzende Parkettfußboden, die Bühne für die Live-Bands, die roten Teppiche und die Tische, die alle mit einer kleinen Lampe versehen waren. Sie leuchteten einladend. Ben führte sie zu einem der Tische und verschwand. Emily setzte sich und ließ ihre Hand über den Tisch gleiten. Das Holz fühlte sich kalt an und sie betrachtete ihre Hand, die mit Altersflecken übersät war. Schnell zog sie sie weg.
„Eine Cola, die Dame?“ Ben stellte zwei Cola-Flaschen ab und hüpfte dann, fast wie ein junger Mann, auf die Jukebox zu. Er warf ein Geldstück ein und kurze Zeit später erklang ein Lied, das Emily seit ihrer Jugend nicht mehr gehört hatte. Schmelzende, samtene Töne einer schwarzen Schönheit, deren Name Emily vergessen hatte. Verstohlen wischte sie sich eine Träne fort.
„Ein Tanz, die Dame?“ Ben stand vor ihr und hielt ihr einladend seine Hand hin. Emily stand auf und ließ sich von Ben in die Mitte des Saals führen. Dort umfasste er sie und gab ihr den Halt, den sie brauchte, um nicht zu Boden zu stürzen. Sanft und behutsam tanzte er mit ihr über das Parkett. Emily fühlte sich geborgen und legte ihren Kopf an seine Schulter. So tanzten sie, bis das Lied verklang.
„Bitte lass es noch einmal spielen! Ich möchte noch einmal tanzen!“ Emily ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken und lächelte Ben voller Erwartung an. „Es ist genau wie damals!”
„Ganz wie du möchtest, meine Freundin!“ Ben ging erneut zur Jukebox, während Emily schnell ihre Handtasche öffnete und alle Tabletten aus den Blistern drückte. Sie ließ sie in die Cola fallen und betrachtete den Schaum, der sich auf dem Getränk bildete. Nicht nachdenken, Emily, sagte sie zu sich selbst. Sie setzte die Cola an und trank sie in einem Zug aus.
„Da bin ich wieder, junge Frau!“ Ben lachte sie an. Ben half ihr hoch, Ben führte sie in die Mitte der Tanzfläche. Ihr bester Freund - der, der es verstehen würde.
„Der letzte Tanz gehört immer dir!“, antwortete Emily.

Letzte Aktualisierung: 21.06.2008 - 14.32 Uhr
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