Der Cousin im Souterrain
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Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Juni 2008
Die roten Schuhe
von Kirsten Riehl

Das Mädchen betrat ihr Zimmer, das wegen der sommerlichen Hitze mit den zwei hellgrauen Vorhängen abgedunkelt war. Sie blähten sich leicht, als die sich öffnende Tür einen leichten Luftzug ins Innere des Zimmers ließ. Der Vater würde erst in zwei Stunden von der Arbeit kommen. Dann war er immer müde und saß in seinem Sessel vor dem Fernseher mit seiner Bierflasche. Die von gestern musste sie noch wegräumen, das durfte sie nicht vergessen. Papa wurde immer traurig, wenn sie vergaß, die Bierflasche vom Abend vorher wegzuräumen. Jedes Mal sagte er dann: „Als Mama noch lebte, war es immer aufgeräumt.“ Ja als Mama noch lebte, war es immer aufgeräumt. Mama mochte keine herum stehenden leeren Flaschen. Und Mama mochte keine getragenen Socken auf dem Fußboden liegen. „Die laufen des Nachts herum und schleichen sich an die Füße und dann musst du laufen und laufen und laufen und kannst nicht eher aufhören, als bis du am Ende der Welt angekommen bist, “ hatte sie immer mit todernstem Gesicht gesagt, wenn sie getragene Kindersocken auf dem Fußboden entdeckt hatte. Dann musste sie aber jedes Mal furchtbar lachen und das Mädchen hatte energisch den Kopf geschüttelt und auch gelacht, aber die Socken räumte sie doch lieber weg. Man konnte ja nie wissen….
Sie stellte den Schulranzen in die Ecke. Genug Zahlen und Buchstaben für heute! Unter dem Kopfkissen ihres Bettes lugte die Ecke eines Kataloges heraus. Sie zog ihn hervor und setzte sich lesend aufs Bett. Auf Seite 593 hatte sie einen Knick gemacht, damit sie die Seite jederzeit schnell wieder finden würde. Die Damenschuhe! Herrliche Lackschuhe blitzten da an den Füßen der wunderschönen und lächelnden Myladys. (Das Wort hatte sie mal in einer Fernsehserie gehört, und seitdem waren alle fein gekleideten und wohlfrisierten Damen Myladys für sie). Da gab es Myladys mit goldenen Sandalen und welche mit silbernen. Und manche trugen schwarze Schuhe mit ganz hohen Absätzen. Die Seite mit den Pantoffeln wollte sie nicht betrachten; das waren keine Myladys, nur einfach Frauen mit Pantoffeln. Wenn sich Mama fein gemacht hatte, dann hatte sie immer nach Parfüm geduftet und die Haare irgendwie besonders frisiert und sie hatte Lackschuhe mit Absätzen getragen und die weiße Perlenkette um den Hals. Und glücklich ausgesehen hatte sie! Leise vor sich hin summend hatte sie in den vielerlei Schminksachen gekramt und sich allerlei Farben ins Gesicht gestrichen. Das Mädchen hatte ehrfürchtig davor gestanden und die Finger vorsichtig in die ein oder andere Farbe gesteckt. Alles hatte so gut gerochen! So nach Glücklichsein und Geheimnis und nach Mama. In der hellen Lampe des Schlafzimmers, in dem der große Spiegel stand, vor dem Mama sich schminkte, glänzten die Lackschuhe wie Weihnachtskugeln am Tannenbaum.
Sie klappte den Katalog wieder zu, um im Wohnzimmer Ordnung zu machen. Papa sollte nicht traurig sein, wenn er von der Arbeit kam. „Ach du bist ja eine fleißige Biene“, sagte er oft, wenn sie Geschirr zusammentrug. „Du arbeitest ja schon so fleißig wie Mama.“
Als der Schlüssel sich im Schloss drehte, hatte sie die Bierflaschen weggeräumt, die Sofakissen aufgeschüttelt, den Tisch gewischt. „So eine fleißige Biene“, sagte Papa, als er das Zimmer ansah. „Du arbeitest ja schon so fleißig wie Mama.“ Und müde ließ er sch in den Sessel plumpsen. „Hol mir doch ein Bier, mein Schatz“, bat er und sie war so froh, dass er nicht traurig war heute. „Du bist ja meine kleine Frau“, meinte Papa, als sie ihm ein Wurstbrot brachte.
Wenn sie ganz fleißig sparte, dann konnte sie sich vielleicht eines Tages solche schönen Mylady-Schuhe leisten. Ihr absolutes Lieblingsstück waren die dunkelroten Lackschuhe auf Seite 596. Eine Mylady mit schwarzen Haaren und einer weißen Perlenkette um den Hals trug sie. Sie lächelte dabei so glücklich und freundlich, dass das Mädchen diese Schuhe sofort gegen jedes ihrer Spielzeuge eingetauscht hätte.
„Als Mama noch bei uns war, haben wir immer alle drei am Tisch gesessen und gegessen.“ „Ja Papa.“ An dem Tisch hatten sie zu dritt gegessen, ja. Aber Papa setzte sich jeden Abend in seinen Sessel vor den Fernseher. Sie räumte die drei leeren Bierflaschen in die Mitte des Tisches, damit sie nicht auf den Boden kullerten, wenn Papa aufstand und an den Tisch stieß. „Meine kleine Frau“, seufzte Papa da schwer und müde.
Die roten Lackschuhe waren viel eleganter als die schwarzen, ja sogar schöner als die goldenen und silbernen Sandalen. Sie hatten einen hohen Absatz. Der würde herrlich klackern, wenn man damit über Asphalt lief!
„Es ist schon spät. Wir müssen schlafen gehen“, sagte Papa mitten in ihre Schuh-Träume hinein. Heute würde sie die Bierflaschen schon jetzt am Abend wegräumen. Dann war Papa nicht traurig, wenn er morgen früh aufstand, um zur Arbeit zu gehen und vielleicht ins Wohnzimmer schaute. Sie konnte nur drei Flaschen auf einmal tragen. Für die andern beiden musste sie noch mal ins Wohnzimmer und dabei kam sie am Schlafzimmer vorbei. Drinnen hörte sie Papa schon mit dem Bettzeug rascheln. „Komm, meine kleine Frau“, hörte sie zwischen dem Geraschel.
Mit den roten Lackschuhen an den Füßen würde sie dann auf einen Ball gehen. Dort waren nur lauter feine Myladys eingeladen. Die tanzten die ganze Nacht bei Kerzenschein und unter großen Kristallleuchtern. Sie hatten alle lange Kleider und die silbernen und goldenen Schuhspitzen ragten unter den Säumen hervor. Die Absätze klackerten beim Tanzen laut und im Rhythmus der Musik. Und das Mädchen hätte auch ein langes Kleid bis zum Boden und darunter guckten rote Schuhspitzen hervor und glänzten mehr als alle anderen Schuhe. Und alle Myladys im Saal würden sich nach dem feinen Mylady-Mädchen umschauen, das da so feine Schuhe trug und so königlich tanzte. Und sie würde die ganze Nacht tanzen und den Morgen und den ganzen Tag und aus dem Ballsaal hinaus unter den freien Himmel und durch den Wald und über die Berge und bis ans Ende der Welt.

Letzte Aktualisierung: 17.06.2008 - 16.11 Uhr
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