'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Juni 2008
Versuch und Irrtum
von Daniel Siewert

Mit weit aufgerissenen Augen schaute er aus dem Fenster. Er konnte nicht oft so weit schauen und musste sich erst daran gewöhnen. Es war auch nur möglich gewesen, weil Mike ihn auf der Fensterbank abgestellt hatte, als er von seiner Mutter ins Erdgeschoss des Hauses gerufen worden war. Jetzt sah er über die Straße direkt in eines der Fenster des gegenüberliegenden Hauses, das sich an diesem hellen Sommertag stark von dem blauen Himmel absetzte. Dort sah er ein kleines Mädchen, welches wild im Zimmer herumhüpfte und die Arme dabei mitschwingen ließ. Er beobachtete es eine Weile, bis ihm einfiel, dass er so etwas schon einmal gesehen hat.
Es war vor Jahren im Supermarkt gewesen, als er noch in dieser Verpackung aus Pappe gesteckt hatte, von der aus er zum ersten Mal das Licht der Welt erblickte. Er konnte damals nur in eine Richtung schauen, da sein Kopf an den Karton fixiert worden war, aber in den Augenwinkeln sah er ständig auf einen Kasten. Darin zappelte ebenfalls ein Mädchen. In seinem neuen Zuhause, in dem er jetzt seit einem halben Jahr lebte, war ebenfalls so ein Kasten. Mike nahm ihn öfters mit dorthin. Sie setzten sich dann gemeinsam auf eine Couch und starrten zusammen dort hinein. Allerdings war dort nie so ein Mädchen zu sehen. Mike nannte es immer „Fernsehschauen“.
Aber das auf der anderen Seite war kein Fernsehbild, sondern ein echtes Mädchen. Und sie wollte nicht aufhören mit der Zappelei.
Nach einer Weile merkte er, dass das Mädchen immer die gleichen Bewegungen wiederholte. Sie hopste zwei Male, klatschte dann zweimal in die Hände, machte zwei Schritte zurück und wieder vor. Er verstand nicht, warum sie dies tat. Falls es ihr nicht gutgehen würde oder jemand ihr sagte, dass sie es tun müsse, würde sie dabei nicht lächeln. Je länger er darüber nachdachte, kam er zu dem Schluss, dass es dem Mädchen Spaß machen musste. Aber er konnte nicht verstehen wieso.
Und dann versuchte er es selbst. Dem Mädchen in dem Fernseher im Kaufhaus hatte es Spaß gemacht und dem Mädchen gegenüber schien es ebenfalls viel Spaß zu bereiten, also warum nicht?
Zuerst hopste er einmal, indem er erst die Knie beugte und dann die Beine wieder schnell in eine gerade Position brachte. Es erforderte etwas Koordinierung, denn so etwas hatte er noch nie zuvor gemacht. Doch er schaffte es, schnellte ein paar Millimeter in die Höhe und landete mit einem metallenen Klappern wieder auf der Fensterbank. Bei diesem Geräusch erschreckte er sich, doch er versuchte es gleich ein zweites Mal. Wieder gelang es ihm. Er bemühte sich, das Klappern etwas zu unterdrücken, doch seine Beine machten bei der Landung wieder dasselbe Geräusch.
Jetzt war er bereit für das Klatschen. Er bewegte seine Arme langsam nach vorne und brachte die Hände genau so in Position, dass er sie so schnell wie möglich zusammendrücken konnte. Der Laut, den die beiden aufeinandertreffenden Hände erzeugten, war aber nur ein leises Drücken, als ob zwei Blechdosen aufeinandertreffen würden.
Er wiederholte die Bewegung ein zweites Mal und versuchte, mehr Schwung in die Sache zu bringen. Es gelang ihm nicht.
Vorsichtig machte er nun zwei Schritte zurück, was ihm gut gelang. Zwar etwas langsam, aber dennoch war er das Rückwärtslaufen eher gewohnt als dieses Hopsen oder Klatschen. Die zwei Schritte nach vorn waren für ihn nun gar kein Problem mehr und motivierten ihn, den ganzen Vorgang noch einmal zu wiederholen.
Zweimal Hopsen ... zweimal Klatschen ... zwei Schritte zurück ... zwei Schritte nach vorne.
Der zweite Durchgang lief schon wesentlich schneller ab und beim dritten und vierten Mal fühlte er eine leichte, positive Aufregung durch seinen Körper fließen, auch wenn er diese Tätigkeit nur als absolut sinnlos klassifizieren konnte.
Während er die Reihenfolge zum fünften Mal durchlief, warf er wieder einen Blick in das Fenster, in dem eben noch das Mädchen die Schritte vorgemacht hatte. Er sah, wie das Mädchen auf der anderen Seite ihn mit großen Augen anblickte. Sofort erstarrte er, denn sie durfte nicht sehen, wie er sich bewegte. Das war nicht richtig.
Er schaffte es, sein Sprungprogramm, welches er grade ausführte, zu unterbrechen. Allerdings war er für diesen Vorgang nicht ausgelegt und verlor bei der Landung das Gleichgewicht. Um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, versuchte er die Arme in eine schnell berechnete Stellung zu bringen. Aber sie bewegten sich zu langsam, um ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Er betete, dass bei seinem Sturz nichts kaputt gehen würde, doch all sein Hoffen half nichts. Er bereitete sich auf den Aufprall auf der harten Fensterbank vor, aber der Aufprall geschah nicht. Stattdessen sah er, wie sich die Fensterbank, wo er eben noch herumgehopst war, nach oben von ihm weg bewegte. Schnell begriff er, dass von der Fensterbank gefallen war. Nun bereute er sein sinnloses Verhalten von eben. Warum hatte er diese Mädchen nachgeahmt? Hätte er sich nicht beherrschen können? Warum war er nur so töricht gewesen? Doch diese Vorwürfe würden ihm jetzt nicht mehr helfen und er hoffte, dass er nach dem Sturz wieder aufwachen würde. Denn eines wusste er: Bei diesem Sturz würde mindestens ein Arm abfallen, wenn nicht sogar der ganze Kopf.
Dann wurde es schwarz um ihn.

Das Mädchen fand Jimmy, den Roboter, einige Tage später ganz oben auf einer offenen Mülltonne vor dem gegenüberliegendem Haus und beschloss ihm mitzunehmen. Durch Zufall erkannte sie ihn und erinnerte sich, wie er sie damals nachahmte. In dem Moment kurz, bevor Jimmy von der Fensterbank stürzte, hatte sie das Gefühl, als ob der Roboter sie erkannt hätte und daher vor Schreck sein Gleichgewicht verloren hatte . Aber das war absurd. Dennoch wurde dem Roboter in der Werbung die Fähigkeit zugesprochen, eigenständig handeln zu können. Doch dies ging zulasten seiner Bewegungsfreiheit, wusste sie.
Aus Neugier nahm das Mädchen Jimmy mit zu sich nach Haus und fragte ihren großen Bruder, ob er ihn reparieren konnte. Und einige Tage später erweckte er Jimmy wieder zum Leben.

Am nächsten Abend blickte Jimmy auf den Bildschirm des kleinen Fernsehers in dem Zimmer des Mädchens. Auf ihm waren einige gezeichnete Figuren zu sehen, die sich zu elektronischer Musik bewegten. Vor dem flackernden Bild ahmte das kleine Mädchen die Figuren nach. Sofort rekonstruierte Jimmy das Programm, welches er vor seinem Sturz ausgeführt hatte, aus seinem Speicher. Sein Wortschatz umfasste nicht viele Wörter und er wusste nicht, ob durch seinen Sturz sein Sprachchip beschädigt worden war, aber dennoch konstruierte er eine einfache Frage und gab sie über seinen eingebauten Lautsprecher aus.
Das Mädchen drehte sich erschreckt zu ihm um und fragte: „Was? Hast du eben was gesagt? Kannst du sprechen?“
Jimmy verstand die Frage, konnte jedoch nicht darauf antworten. Also wiederholte er seine Frage. „Was machst du?“, sagte er sich mit abgehackten Wörtern.
„Was ich mache?“, fragte ihn das Mädchen verdutzt.
Der Roboter blickte sie nur durch die kleinen, mit sensorenbestückten Kameras in seinen beiden Augen an.
„Tanzen“, antwortete sie. „Das macht Spaß.“ Sie lächelte. „Aber das weißt du ja bereits. Ich habe dich ja gegenüber im Fenster gesehen, wie du mitgemacht hast. Es hat dir doch Spaß gemacht, oder?“
Er überlegte kurz.

Letzte Aktualisierung: 12.06.2008 - 20.53 Uhr
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