Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Juni 2008
Zwischenstation
von Linda Meyer

Der Zug pfiff, bevor er losfuhr. Als die Geräusche verklungen waren, schaute Katharina sich auf dem Bahnsteig um. Die anderen Fahrgäste verschwanden in verschiedene Richtungen. Sie waren angekommen, während sie selbst nicht wusste, wohin ihr Weg sie führte. Im Ort B. würde sie einen alten Studienfreund ihres Vaters finden, hatte man ihr gesagt. Bis dorthin waren es noch zwei Stunden. Und in diesem Nest saß sie jetzt fest. Erst am nächsten Tag würde es einen Anschlusszug geben, wenn sie den Schaffner richtig verstanden hatte. Der hatte den Kopf geschüttelt und auf seine Uhr gezeigt. „Verso le quattro“, hatte er wiederholt.
Warum hatte sie kein Italienisch gelernt. ‚Mädchen’, klangen ihr die Worte ihres Vaters in den Ohren, ‚Italien ist das schönste Land der Welt. Wenn du mich besuchen willst, wird es dir nützen, die Sprache zu sprechen.’
Zu dem Besuch war es nie gekommen. Vielleicht hatte sie sich gescheut, weil zwanzig Jahre nicht leicht aufzuholen sind. Und jetzt hatte die Nachricht seines Unfalls alle Pläne zunichte gemacht.

Sie hob die Reisetasche auf und schob den Riemen über die Schulter. Dort, wo der Zug verschwunden war, erhellten letzte Schlieren den Himmel, doch die gelbe Straßenbeleuchtung war bereits eingeschaltet. Katharina lief los, ohne zu wissen wohin. Vielleicht würde sie eine Unterkunft finden und irgendwo etwas Warmes essen können.
Kein Taxi am Bahnhofsvorplatz, dazu war der Ort zu klein. Nur ein paar Hunde, die auf dem noch warmen Pflaster lagen. Hinter geöffneten Fenstern hörte sie das Klappern von Geschirr, eingeschaltete Fernseher und laute Wortwechsel. In den kleinen Gärten neben den Häusern dufteten Blumen.
Es schien weder Hotel noch Restaurant zu geben. Katharina überlegte gerade, ob sie an eine Tür klopfen und nach einer privaten Unterkunft fragen sollte, als Stimmengewirr und Musik in einiger Entfernung sie aufhorchen ließen. Vielleicht ein Lokal oder eine Veranstaltung.
Sie folgte dem Lärm um ein paar Häuserecken. Tatsächlich, ein Fest. Hinter einem größeren Gebäude wurde an langen Tischen im Freien getafelt. Die Männer steckten in Anzügen, die Frauen hatten sich fein herausgeputzt.
Kellner eilten mit hochgekrempelten Ärmeln, volle Teller und Tabletts in Händen, zwischen den Stühlen hindurch. Kinder spielten um die Tische herum Fangen. Ein Baby schrie. Eine junge Frau schaukelte den Kinderwagen mit einer Hand. Nackte Glühbirnen und bunte Lampions beleuchteten die Szenerie.
Dann sah Katharina die Braut und den Bräutigam, die in einiger Entfernung standen. Sie lachten und unterhielten sich mit jüngeren Gästen, er legte den Arm um ihre Schultern, sie holte mit einer weiten Geste aus. Das Haar der Braut war hochgesteckt, ihr weißes Kleid bauschte sich lang.

Jemand entdeckte sie. „Mangi!“ Sie wurde zum Essen aufgefordert.
Mit Bestimmtheit drückte eine junge Frau sie sanft auf eine Bank. Sie konnte eine Freundin der Braut sein, vielleicht sogar ihre Schwester. Schon stand ein Teller vor ihr. Katharina mochte nicht nein sagen. Sie lächelte der Frau zu und griff zur Gabel. Das Essen schmeckte gut, die flinken Kellner schenkten auch ihr Wein ein.
„Ma, non hai mai sentito che …” – “Cosa mi vuol dire … “ – “ … “
Lebhafte Sprachfetzen umschwirrten Katharina und lösten eine behagliche Müdigkeit aus. Sie stützte das Kinn in die Handfläche und sah umher.
Hinter den Sitzreihen war auf glatt gestampftem Boden eine Tanzfläche freigehalten worden, ringsum mit Girlanden geschmückt. Auf einem Podest saßen die Musiker. Nach einer Weile standen sie auf, schauten sich an und begannen zu spielen. Eine Geige, eine Gitarre, ein Akkordeon und ein Blasinstrument, das Katharina nicht kannte. Gespielt wurde volkstümliche Musik.
Zwei junge Männer führten ihre Mädchen zur Tanzfläche. Auch ein älteres Paar begann sich zu drehen, er mit weißen Haaren und einen halben Kopf kleiner als sie, sie mit ärmellosem Kleid, geschmückt mit Ringen.

Auf einmal stand er vor ihr.
“Vuole ballare?” Seine Stimme war ruhig und klangvoll.
Katharina war so verblüfft, dass sie nichts erwiderte, sondern einfach aufstand. Der Mann nickte ihr zu und nahm ihre rechte Hand. Die linke legte sie auf seine Schulter. Dort lag sie gut.
Er tanzte nicht besonders schnell. Katharina war das nur recht. Einen Schritt vor. Einen zur Seite. Langsam. Bedächtig. Mit einem leichten Schwung. Ihre Füße folgten.
Er war nicht viel größer als sie, aber seine Gestalt war breit und kräftig. Katharina nahm einen Duft nach Rasierwasser wahr. Angenehm.
Seine Hand stützte ihren Rücken. Einen Schritt nach rechts ... Ihre Finger fanden bequem Platz in seiner trockenen, rauen Handfläche. Einen Schritt nach links ...
Einmal sah er sie an und lächelte nachdenklich. Sonst blieb er ernst. Sie setzten ihre Füße dicht nebeneinander auf den Boden. Katharina fühlte sich schwer und leicht zugleich.
Einen Schritt nach vorne. Langsam bewegte er sich mit ihr im Kreis, während die Geige seufzte und der Gesang einer hohen Männerstimme anhob. Katharina hörte die Musik wie von fern. Einen Schritt zur Seite.
Ihr war danach, sich an seine Brust zu lehnen und den Kopf auf seine Schulter sinken zu lassen.
Sie tat es. Für einen Moment nur.
Auf dem Rücken spürte sie unverändert seine Hand. Mit der anderen strich er ihr nach kurzem Zögern kaum merklich über das Haar.

Katharina machte sich los und sah ihren Tanzpartner an. Ein steingrauer Blick. Unergründlich. Er hob fragend die Augenbrauen.
Sie trat zurück. Seine Arme hingen unbeweglich neben dem Körper. Nutzlos, schoss ihr durch den Kopf.
Dann drehte sie sich sich um und lief zur Bar. Zwischen Getränkekisten und gestapelten Stühlen zerrte sie ihre Reisetasche hervor. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie den Hof verließ. Sie musste blinzeln. Benommen lief Katharina zum Bahnhof. Die Geräusche des Festes waren noch zu hören, eine fröhliche Melodie
hatte begonnen, die zu einem schnellen Rundtanz passte. Rufe dazwischen, Klatschen.
Einen Schritt vor, einen zur Seite ... Mehr hätte es nicht gebraucht.
Ein magerer Hund bellte sie an. An der Ecke des Bahnhofsgebäudes roch es nach Pisse. Sie lief durch die leere Schalterhalle, kickte zerknülltes Papier zur Seite und sah auf die Abfahrtstafel. Um 4 Uhr fuhr der nächste Zug, der erste am Morgen. Noch fünfeinhalb Stunden.
Katharina stapfte zum Bahnsteig und ließ sich auf eine Bank mit Schalensitzen fallen. Sie könnte zurückgehen, das Fest war noch nicht zu Ende. Sie lauschte in die Nacht. Gelächter von weither.
Noch fünf Stunden und zwanzig Minuten.
Sie würde es nicht tun. Eine Katze streunte über die Gleise. Kurz darauf vernahm sie ihr Fauchen und die Schreie eines kleinen Tieres.
Katharina legte die Arme auf ihre Reisetasche und bettete den Kopf darauf. Bis der Zug kam, würde sie schlafen. Eine breite Schulter, sie schluckte.

Irgendwann wurde sie durch das Pfeifen des einfahrenden Zuges geweckt. Dort, wo ihr Gesicht gelegen hatte, war die Tasche nass.

Letzte Aktualisierung: 21.06.2008 - 14.29 Uhr
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