Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Juli 2008
Traum
von Manuela Schulz

Mathilde lag auf dem Rücken in ihrem Bett, starrte an die Decke und malte sich aus, sie wäre tot. Sie hatte eine klare Vorstellung davon, wie es sein würde, tot zu sein, denn sie war schon ziemlich oft gestorben. Sie lag dann immer in einem weißen Sarg auf hellblauer Spitzenbettwäsche und war bis zum Hals zugedeckt. Der Sarg war innen ganz weich und mit weißem Tüll ausgeschlagen. Um ihn herum brannten Kerzen und alle weinten ganz fürchterlich. Am bitterlichsten weinte immer ihre Mutter. Sie schluchzte schrecklich und ihre langen Haare, die sie sonst immer zu einem eleganten Knoten hoch steckte, hingen feucht und wirr an ihr herunter. Wie die feuchten Haare in ihre Phantasie geraten waren, konnte sich Mathilde nicht erklären. Sie sahen bei jeder ihrer Beerdigungen so aus und Mathilde erfand quasi im Nachhinein, dass ihre Mutter von ihrem Tod unter der Dusche erfahren hatte und sofort los gerannt war. Auch heute waren ihre Haare wieder nass und strähnig und diesmal stammelte sie unter Tränen, dass es falsch von ihr gewesen sei, ihr nicht zu erlauben, bei Clara Lotetzke zu übernachten, bloß weil deren Mutter mit einem Spanier abgehauen und ihr Vater Barkeeper in einer Nachtbar war. Sie wühlte verzweifelt mit beiden Händen in ihren glitschigen Haaren und presste schließlich unter Schniefen und Schluchzen hervor, dass ihr alles schrecklich leid tue und sie bestimmt immer viel zu streng gewesen sei und dass sie, wenn sie nur gewusst hätte, was passieren würde, gewiss alles anders gemacht hätte. Normalerweise sagte Mathilde darauf in bestimmtem und manchmal auch etwas giftigem Ton: „Das hättest du dir früher überlegen sollen!“ Nach diesem Satz empfand sie immer eine solche Genugtuung, dass sie ganz tief ausatmen musste. Die schlimmste aller denkbaren Strafen war verhängt und Mathildes Totsein damit für gewöhnlich auch zu Ende.

Nur heute wollte ihr Schluss nicht gelingen. In dem Augenblick, als sie mit ihrem triumphalen Schlusssatz an der Reihe was, riss die Handlung plötzlich ab und das schmale Gesicht von Liona Maibach tauchte auf. Eigentlich war es auch gar nicht so richtig ihr Gesicht, sondern nur ein verschwommener Umriss davon. Mathilde versuchte, das Bild beiseite zu schieben und ihr Totsein einfach noch einmal von vorn zu beginnen. Doch so sehr und so oft sie sich auch mühte, das Schemengesicht von Liona tauchte immer an derselben Stelle auf und Mathilde wurde langsam wütend. Sie wurde wütend auf Liona und zugleich fühlte sie sich schlecht, denn Liona war wirklich tot und es war ziemlich gemein, auf jemanden, der ernsthaft tot war, auch noch wütend zu sein.

Liona Maibach war in der Adria ertrunken. Mathildes Vater hatte es vor zwei Wochen beim Abendbrot erzählt. Er hatte es erfahren, weil er Lionas Mutter die Zähne machte und wegen des Trauerfalls alle Termine abgesagt wurden. Als ihr Vater es aussprach, er sagte einfach: „Wusstet ihr schon, die kleine Maibach ist tot. Sie ist in der Adria ertrunken.“, konnte Mathilde plötzlich nicht mehr weiter kauen. Alles, ihr Atem, ihre Gedanken, ihr Herz, ihr Blut, schien für einen Moment still zu stehen. Mathildes Mutter legte ihr Besteck beiseite, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und sagte: „Das ist ja furchtbar!“ Ihr Vater nickte und sagte: „Ja, wirklich tragisch, die Sache.“ Dann biss er von seinem Wiener Würstchen ab. Mathilde spürte, wie das Brötchenstück in ihrem Mund dicker und dicker wurde, während in ihrer Phantasie Liona unter strahlender Sonne in einem himmelblauen Meer versank, die Arme nach oben gestreckt, regungslos, ohne jede Gegenwehr. Zuletzt schwammen nur noch ihre langen Zöpfe auf dem Wasser. Sie sahen aus wie Seetang, nur dass die roten Schleifen darin leuchteten, wie zwei winzig kleine Bojen. Und plötzlich fühlte sich Mathilde schuldig. Sie wusste nicht genau warum. Es war dumpfes Unbehagen, das sich langsam in ihr ausbreite, wie klebriger dunkler Sirup, und Mathilde konnte nicht anders. Sie musste an diesen Nachmittag im letzten Winter denken, den sie längst vergessen hatte und der jetzt aus einem einzigen Grund wieder auflebte – nur weil Liona tot war.

Liona zählte für Mathilde zu den Mädchen, die es zwar gab, aber eigentlich auch wieder nicht. Sie war so blass und still, dass Mathilde keinen Anlass sah, sich jemals auch nur in Gedanken mit ihr zu beschäftigen.
An jenem Nachmittag im letzten Winter sah sie Liona mit ihrem Schlitten neben der Treppe stehen, die den Abhang vor dem Bahnhof hinabführte. Ihr Schlitten war nagelneu und Liona stand bewegungslos daneben, in ihrer straff sitzenden dunkelblauen Skihose, dem knallroten Anorak und der weißen Lederkappe mit dem Pelzrand, die aussah, wie eine umgedrehte Schüssel. Mathilde registrierte das alles aus den Augenwinkeln und wusste sofort, dass Liona keine Konkurrenz sein würde. Denn hier fuhr man blind, die Pudelmütze über die Augen gezogen, auf dem Bauch liegend, allein oder mit einem Steuermann auf dem Rücken, man raste Rücken an Rücken an Rücken hinunter, Schlitten wurden hintereinander zusammengebunden oder sogar übereinander, es gab Stürze, Schreie, Tränen und Gelächter. Und inmitten aller Atemlosigkeit vom Hinaufhetzen, inmitten der tiefen Erleichterung und des kurzen Glücksrausches nach einem heil überstandenem Hinabrasen, spürte Mathilde langsam einen Widerwillen gegen die reglose Liona oben an der Treppe. Sie störte. Mathilde wusste nicht genau warum, aber irgendwie erschien ihr die artige, saubere und kerzengerade Gestalt wie ein Mahnmal, ein Spion, ein hämischer Beobachter oder auch alles zusammen. Sie gehörte einfach nicht dazu. Vielleicht war es auch nur das. Mathilde fasste kurzerhand einen Entschluss. Als sie keuchend wieder oben auf dem Hang ankam, stürmte sie schnurstracks auf Liona zu. Sie wollte etwas in der Art von „Verschwinde, hau ab, verpiss dich!“, sagen, doch als sie direkt vor ihr stand und sah, wie Liona ängstlich zurückwich, überkam sie aus einem Winkel ihres Innersten eine Woge des Mitgefühls und sie sagte mit einer Stimme, die nicht zu ihr zu gehören schien: „Willst du mal mit runter fahren?“ Liona nickte. Als sie auf den Schlitten stiegen, Liona vorn, Mathilde hinten, konnte Mathilde durch ihre drei dicken Pullover spüren, wie steif Liona war. Sie saß starr wie eine Galionsfigur auf dem Schlitten und Mathilde kam der Gedanke, sie könnte bei einem Sturz vielleicht in tausend Teile splittern. Die Abfahrt mit der hölzernen Liona kam ihr endlos vor. In ihrem Rücken meinte sie die verächtlichen Blicke der anderen zu spüren und sie fühlte sich auf seltsame Weise gedemütigt und erhaben zugleich. Als sie unten ankamen und Liona vom Schlitten stieg, wünschte Mathilde in ihrem Innersten, Liona möge sich auflösen, einfach weg sein, doch ihr Mund sagte: „Und, war` s gut? Willst du noch mal?“ Liona sah mit ihren grünen Augen auf den zerfurchten grauen Schnee, kratze mit ihrem Stiefel eine kleine Rille hinein und sagte leise: „Weißt du, ich denke, ich gehe jetzt besser nach Hause.“ Mathilde fühlte sich plötzlich durchschaut und schämte sich für ihre gemeinen Gedanken. Gleichzeitig war sie erleichtert und beides zusammen konnte sie kaum aushalten, so dass sie hoch zu den anderen brüllte: „Und jetzt fahre ich im Kopfstand!“

An dem Abend, als Mathilde erfuhr, dass Liona tot war, lag sie noch lange wach. Sie versuchte sich vorzustellen, dass Liona nicht mehr da war. Aber das ging nicht. Immer erschien ihr Lionas zierliche Gestalt. Liona auf dem Gehweg, mit ihrer bunten Schulmappe und den geflochtenen Zöpfen, Liona in ihrem roten Anorak oben auf dem Rodelberg und Liona vor ihr auf dem Schlitten. Immer wenn Mathilde versuchte, sich Liona von diesen Plätzen wegzudenken, entstand an dieser Stelle ein Loch. Es war ein Loch mitten in der Luft, so groß wie Liona, und als Mathilde denken musste, dass sich dieses Loch niemals wieder füllen würde, da war es, als sei das Loch plötzlich auch in ihr selbst. Es hatte keinen Boden, keinen Rand, einfach nichts, wo es aufhörte, und Mathilde wunderte sich, wie es überhaupt in ihr Platz finden konnte. Ihr Herz pochte laut und schnell und ihr wurde ein bisschen schwindlig. Dann dachte sie schnell daran, dass es ja gar kein Loch in der Luft geben konnte, weil die Luft von selbst das Loch wieder zumachte. Es war also in Wirklichkeit gar nichts mehr davon zu sehen. Dann fiel ihr ein, dass auch der Gehweg aussah wie immer, dass es weiter den Bahnhofshang gab, die Kastanienbäume oben drauf, das Geländer, den Schlitten, ja sogar Lionas roten Anorak! All die Dinge waren immer noch da, sie sahen aus wie immer und das wiederum erschien Mathilde so ungeheuerlich, dass sie es an diesem Abend nicht weiter denken mochte. Sie dachte es auch in den nächsten zwei Wochen nicht weiter.

Nun aber lag Mathilde auf dem Rücken in ihrem Bett, starrte an die Decke und sah dort Lionas Schattenriss. Plötzlich wusste sie, dass sie nie wieder tot sein konnte. Sie rappelte sich hoch, knipste die Nachtischlampe an und zog seufzend ihre Nachttischschublade auf. Irgendwo hinten in der Ecke musste noch ein Schokoriegel liegen. Natürlich durfte sie den nicht essen, weil sie davon Karies kriegte, einen fetten Hintern und später einen Herzinfarkt, wie Onkel Fred. Mathilde fingerte nach dem Riegel und als sie ihn gerade auswickeln wollte, kam ihr eine neue Idee. Sie legte den Riegel wieder zurück in die Schublade. Es war der erste Proviant für ihre Flucht in die Wildnis, wo sie mit einem alten Wolf in einer Höhle leben würde. Alle würden sie suchen und ihre Mutter würde mit ihren nassen Haaren an jeder Tür klingeln und allen erzählen, dass sie alles anders machen würde, wenn sie nur Mathilde wieder bekäme, und Mathilde würde sich manchmal nachts heimlich zurückschleichen und durchs Schlafzimmerfenster linsen und wenn ihre Mutter schon ganz leer geweint wäre, dann könnte sie ja vielleicht reingehen und sagen: „Da bin ich wieder!“

Letzte Aktualisierung: 27.07.2008 - 15.39 Uhr
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