Der Tod aus der Teekiste
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Juli 2008
Kranke pflegen
von Herbert Dutzler

Es würde auf jeden Fall das letzte Mal sein. Mehr als ein halbes Jahr hatte er jetzt durchgehalten. Bei den ersten Malen waren es manchmal nur wenige Wochen, oft sogar nur Tage gewesen, bis der Drang wieder so stark wurde, dass er es tun musste. Es war wie Durst, unermesslich dringender, heißer Durst, und niemand verlangte doch von einem Verdurstenden, du musst dich halt beherrschen, du musst das unter Kontrolle bringen. Er hatte unbeschreiblichen Durst. Aber es würde endgültig das letzte Mal sein, dass er versuchen würde, ihn zu löschen. So oder so.
Seit mehr als einer Stunde saß er schon im Wagen. In seiner Krankenpfleger-Kleidung. Hatte immer gut funktioniert. Manchmal hielten sie ihn für einen Arzt und stiegen gern zu ihm ins Auto, und wenn er zugab, nur Pfleger zu sein, hatte er ihr Vertrauen schon gewonnen. Er war doch ehrlich, man konnte ihm vertrauen, er war doch kein Hochstapler.
Rund um die Landdiscos, so um drei, vier Uhr früh, gab es oft junge Frauen, die, angetrunken, alleine unterwegs waren. Mal waren sie aus Leichtsinn ohne Begleitung entlang der Straße auf dem Heimweg, mal waren sie schon aus dem Wagen eines zudringlichen Lenkers geflüchtet, mal war ihnen eine Freundin abhanden gekommen, die zu einem Mann ins Auto gestiegen war. Man musste nur Geduld haben, ein, zwei Stunden durch die Gegend fahren, vielleicht auch zwei, drei Nächte abhaken, in denen einfach nichts geschah.
Er bog auf den Parkplatz ein, der für das Zeltfest einer Freiwilligen Feuerwehr eingerichtet worden war. Auf einer Wiese, nur mühsam bahnte er sich den Weg durch den Schlamm zwischen Reihen geparkter Autos. Man konnte ihn auch für einen Sanitäter halten, der zur Verstärkung herbei gerufen worden war. In einiger Entfernung zuckten die blauen Lichter eines Rettungsfahrzeugs, in den Autos, zwischen den geparkten Wagen, auf den Kühlerhauben konnte man Paare in verschiedenen Stadien des Geschlechtsakts in der Dunkelheit erahnen.
Da sah er sie. Mühsam stakste sie auf immer wieder im Dreck versinkenden High Heels in Richtung Landstraße, wütend offenbar, zornig waren ihre Haltung, ihr Schritt. Er fuhr an ihr vorbei, öffnete die Wagentür rechts. „Mitfahren?“ Sie beugte sich zu ihm hinunter, lange, blonde Haare fielen über die Schulter, Brüste, die sich freundlich im Ausschnitt drängten, ein breites Lächeln, sie schwang sich in den Sitz. „Ganz allein heute?“ Sie stieß nur verächtlich und tonlos Luft aus. „Scheiß Dreck. Schau dir meine Schuhe an!“ Vorsichtig, umsichtig, immer rechtzeitig den Blinker betätigend, näherte er sich der Ausfahrt aus dem Parkplatz, die von einem Feuerwehrmann mit Leuchtkelle gesichert war. Durchs offene Fenster winkte er ihm zu, als er nach links auf die Landstraße abbog.
Mehr als dass er sie sah, fühlte er ihre Anwesenheit neben sich. „Wohin sind wir denn noch so spät unterwegs, Doktor?“ „Bin kein Doktor, nur … Sanitäter.“ Schien ihm jetzt geschickter, als zu behaupten, er habe gerade im Krankenhaus Dienstschluss gehabt. Was hätte er da auf dem Parkplatz zu schaffen gehabt? „Bin gerade abgelöst worden. Sanitätszelt.“ „Ach ja. Die Alkoleichen.“
Ihre Stimme klang nicht so jung, wie er sie sich vorgestellt hatte. War sie zu alt? War sie zu kräftig? Jedenfalls verunsicherte sie ihn. Zu wenig betrunken, möglicherweise. Er riskierte einen Blick auf ihren Schoß. Sehr kurzer Rock, weiß. Sehr schlanke Beine. Er fühlte etwas in sich. „Wo soll ich dich denn absetzen?“ „Einfach in der Stadt, ich finde dann schon heim.“ Er fuhr in Richtung Stadtmitte. Vertrauen aufbauen.
Die Worte fehlten ihm, die Worte, die ihn harmlos erscheinen lassen würden, die sie überzeugen würden, dass es völlig ungefährlich sei, mit ihm zu fahren. Seine Fahrt wurde hektischer, schneller, an einer Abzweigung bog er zu ungestüm ab. „He, Vorsicht! Willst du mich umbringen?“ Er hatte ihr Vertrauen missbraucht, nicht gewonnen, musste vorsichtiger sein. “Habe selten so schöne Beine im Auto, macht mich nervös.“ War das plump oder charmant gewesen? Schweißperlen traten auf seine Stirn.
Sie hatte das Stadtzentrum erreicht. „Du kannst mich hier rauslassen.“ Er täuschte vor, auf dem gut ausgeleuchteten Stadtplatz stehen zu bleiben, verzögerte, lächelte ihr zu. „Tschüs dann.“
Dann trat er urplötzlich aufs Gas. Praktisch, diese modernen Autos, in denen man vom Fahrersitz aus alle Türen verriegeln konnte. „Was soll das jetzt? Lass mich raus!“ Die Panik in ihrer Stimme erregte ihn, ließ ihn endlich etwas fühlen, war der erste Schluck, der begann, seinen Durst zu löschen. Viele Schlucke würden folgen müssen, bis er gestillt war.
Unauffällig, alle Verkehrsregeln beachtend, verließ er die Stadt, gelangte auf unbeleuchtete Landstraßen. Er genoss ihren schneller werdenden, heftigen Atem, der ihre Angst verriet. „He, mach keinen Scheiß, alles kein Problem, wenn ich dir einen runterhole, lässt du mich dann gehen? Ist mir echt egal, ich will nur hier raus, ohne dass du mir wehtust, was willst du?“ Wie sollte er ihr erklären, dass diese Angst, diese Stimme, ihre ganze Ausstrahlung, dass es genau das war, was er brauchte? Was konnten Worte ausrichten. Er wollte nichts von ihr, keinen Sex, keine Zärtlichkeiten, wonach er gierte, war ihre Angst. „Okay. Du lässt mich jetzt aussteigen. Ich zeige dich nicht an. Wir treffen uns morgen. Ich mache, was du willst. Oder gleich. Bleib stehen, und ich mache, was du willst.“ Er konnte hören, spüren, wie die Angst ihre Stimme würgte, atemlos machte, und jedes ihrer Worte war ein Schluck für ihn, ein Schluck, der ihn labte, der seinem unergründlichen Durst zu trinken gab.
Er bog von einem Güterweg ab, in einen Wald, eine Traktorspur, er wusste, noch hundert Meter konnte er fahren, dann musste er stehen bleiben, aber dort war niemand, niemals war jemand dort, niemals konnte jemand an dieser Stelle sein, es würde dunkel sein, sie würden im Dunkeln sein, und allein, ganz allein, und er würde trinken von ihrer Angst.
Er stoppte, stellte den Motor ab und hörte nur noch ihr Atmen. Es war dunkel. Es würde das letzte Mal sein. Das allerletzte Mal, komme, was da wolle. Nur noch ihr heftiges Atmen war da im Raum. Er wandte sich ihr zu, konnte im matten, durch die Bäume gefilterten Mondlicht ihr Gesicht mehr erahnen als sehen, sah, wie sich ihre Brust im heftigen Atem hob und senkte und war glücklich, fast war sein Durst schon gelöscht, aber nur fast, es musste weiter gehen, weiter, durfte hier nicht enden, musste vollendet werden, musste vollkommen werden, musste geschehen.
Er zog sein Tuch aus der Hosentasche, das rote. Sie wandte ihm den Blick zu, scharf, fest, so, wie er es nicht gewohnt war, sie hatte zu wenig Angst, woher nahm sie ihren Mut. „Lass die Finger von mir!“ Sollte, konnte das hier schief gehen? Schnell schlang er ihr das Tuch um den Hals, hörte sie husten, würgen, konnte diesen Schluck aber nur Sekundenbruchteile genießen, die Scheibe vor seinem Gesicht verwandelte sich in einen milchigen, weißen Nebel, in dem ein winziges, schwarzes Loch klaffte, ein heißer Schmerz durchglühte seine Brust, es war das letzte Mal gewesen, das letzte, nie mehr würde er auf diese Art seinen Durst löschen müssen, ausgestanden, vorbei.
Abteilungsinspektor Karin Lechner riss die Wagentür auf, schleuderte die blonde Perücke zwischen die Bäume und fuhr sich mit den Fingern beider Hände durch ihre schwarzen, stacheligen Haare. „Ihr voll blöden Idioten, was habt ihr euch gedacht? Warum habt ihr nicht früher zugegriffen?“
Mehrere Einsatzfahrzeuge hatten inzwischen ihre Scheinwerfer eingeschaltet, Blaulicht zuckte, Funkgeräte schnarrten. Karin Lechner stöckelte unbeholfen auf ihre Kollegen zu, deren ratlose Gesichter im fahlen Licht ihrer Taschenlampe aufglänzten. „Der Befehl war, zu warten, bis wir Beweise hatten“. „Und da müsst ihr warten, bis er mich erwürgt, und ihn dann totschießen? Ein Schulterschuss hätte genügt!“
Mehr als ein Stirnrunzeln wollte der hoch aufgeschossene Schütze, der Karin um mehr als einen Kopf überragte, nicht als Kommentar abgeben. „Was willst du. Wir haben den Krankenpfleger. Das war der Sinn der ganzen Aktion. Wir haben dich einer kalkulierbaren Gefahr ausgesetzt, denke ich.“ Hinter den beiden Uniformierten war ein Kriminalbeamter in schwarzem Anzug aufgetaucht, der zu Karin trat und ihr auf die Schulter klopfte. „Gut gemacht. Gibt eine Prämie.“
„Scheiß auf die Prämie!“ Die Polizistin riss ihre roten Schuhe von den Füßen und schleuderte sie mit wütend ausladenden Bewegungen in den Wald. „Das nächste Mal könnt ihr euch euren Lockvogel selber machen. Für mich war das garantiert das letzte Mal!“

Letzte Aktualisierung: 22.07.2008 - 13.48 Uhr
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