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Juli 2008
Streife
von Anna Stern

Als die Lebensmittelkrise über die Stadt hereinbrach, verwandelte sich der tägliche Streifendienst in einen Vorstoß auf feindliches Gebiet. Die Plünderer lauerten an den dunklen Ecken in der Nähe der Supermärkte; sie hatten sich zu Banden zusammengerottet und gingen gemeinsam auf die Jagd, ihre Waffen griffbereit in den Gürtel gesteckt.
In den Läden war kaum etwas zu holen, die spärlich bestückten Regale starrten wie offene Münder auf die hilflosen Mitarbeiter. Vor allem auf die Lieferwagen, die in unregelmäßigen Abständen die Märkte anfuhren und von Sicherheitskräften begleitet waren, hatten es die Banden abgesehen. Dort schlugen sie zu, feuerten ihre Magazine leer und fielen über die gepanzerten Wagen her. Sie waren nicht so gut ausgerüstet wie die Leute von Sicherheitsdienst, aber sie waren aggressiv und verzweifelt genug, um ihr Leben für abgepackte Brote und Paletten von H-Milch aufs Spiel zu setzen.
In der Zeit zwischen den Lebensmittellieferungen überfielen sie Passanten und verwüsteten Wohnungen bei ihrer Suche nach versteckten Vorräten. Immer öfter prallten Streife und Angreifer bei solchen Übergriffen aufeinander; im Kugelhagel waren schon viele von Hansens Kollegen gestorben.

Hansens fünfundsechzig Jahre altes Herz schlug laut, als sein Blick an dem roten Kreis um das aktuelle Datum des Kalenders hing. Sein letzter Tag im Dienst. Der letzte Morgen, an dem er mit Angst im Magen das kleine Haus verlassen hatte; in der Tür seine Frau, die ihm besorgt nachsah, bis er um die Ecke gebogen war. Das letzte Mal die Panik davor, nicht lebend zurück zu kommen.
Sein jüngerer Kollege Baumann stellte sich neben Hansen und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Rücken.
„Du verdammte Schweinebacke, ich kann nicht glauben, dass Du heute die Biege machst. Und uns mit der ganzen Scheiße hier alleine lässt.“
Baumanns Stimme klang belegt.
Hansen bemühte sich um ein gequältes Grinsen: „Darauf kannst Du einen lassen.“
Er stockte. Seine Kehle war eng. „Aber der Dienst ist erst heute Abend vorbei. Vorher laufen wir noch Streife.“ Acht Stunden da draußen. Mit den schießwütigen Irren, denen die Gier das Hirn aufgefressen hatte.
„Heute passiert Dir nichts mehr. Mann, daran darfst Du gar nicht denken.“
Hansen bekam noch einen kräftigen Schlag auf den Rücken.
„Komm jetzt. Bringen wir es hinter uns.“

Bis Mittag gingen sie nebeneinander durch ihren Bezirk in der Innenstadt. Seit mehr als zwanzig Jahren lief Hansen hier Streife, aber in den letzten Monaten waren ihm die Straßen fremd geworden. Die hellen Steine auf dem Boden der Fußgängerzone waren übersäht mit Glasscherben und Abfall, der auf der Suche nach Essbarem aus den Mülleimern gerissen wurde. Nur vereinzelte Passanten hasteten vorüber, die Augen auf den dreckigen Boden geheftet.
Baumann hob warnend die Hand, als sie sich der zerbrochenen Scheibe eines Schaufensters näherten. Mit entsicherter Waffe spähten sie zwischen den nackten, verstümmelten Puppen hindurch in das Innere der ehemaligen Edelboutique. Hansens Hand schwitzte auf dem Griff seiner Walther. Als sich nichts bewegte, gingen sie weiter.
Morgen ist alles vorbei, dachte er, morgen fängt ein neues Leben an. Er würde lange schlafen, die Zeitung vom Nachbarn leihen und später im Garten arbeiten. Vor zwei Monaten hatten sie den Rasen geopfert, um auf der kleinen Fläche Gemüse zu ziehen. „Das erspart mir demnächst das Mähen,“ hatte Hansen gelächelt, als Tränen in den Augen seiner Frau standen. Die Liegestühle hatte er in den Keller getragen. Würde er sie je wieder heraufholen? Viel weiter als Morgen konnte er nicht denken.
Hansens Magen begann zu knurren, als sie an dem türkischen Imbiss vorbeikamen, bei dem sie früher gelegentlich ihre Mittagspause eingelegt hatten. Sie hatten sich das Gerede des dürren Inhabers angehört und riesige Portionen Fleisch mit Pommes verschlungen. Damals hatten die Uniformhemden gespannt, jetzt hingen sie locker. „Ich könnte töten für einen Döner. Mit viel Zaziki und Pommes. Und dazu ein kaltes Bier“, murmelte Baumann sehnsüchtig. Hansen zuckte zusammen. Töten für einen Döner, das sagte sich mal so leicht, war doch nur eine blöde Redensart. Aber die Zeiten hatten sich geändert.
Die Tür des Lokals war herausgerissen und die Theke stand schief, verschoben von der Wucht des Pöbels, der hereingedrängt war und den dünnen Türken geprügelt hatte, bis sein Blut die weißen Kacheln des Bodens verschmierte. Bittere Magensäure kratzte an Hansens Speiseröhre.
Er spürte die Gefahr, noch bevor er das Geräusch hörte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sein Kollege seine Waffe herausriss, und griff zum Holster.
„Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus“, brüllte Baumann.
Ein erstickter Laut ertönte hinter der Theke. Langsam erschienen knochige Finger und ein Kopf mit fettigen, blonden Haaren. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, stand der Mann einen Moment lang zitternd mit erhobenen Händen, dann ließ er die Unterarme auf die Theke fallen. Ein Ausdruck von Erleichterung erhellte sein schweißglänzendes Gesicht.
„Polizei! Ich dachte schon, ihr gehört zu den Banden.“
Hansen atmete tief durch und ließ seine Waffe los.
„Was haben Sie hier zu suchen“ fragte er barsch.
Der Blonde war um die Vierzig und trug ein schmutziges Polohemd mit der Stickerei eines teuren Labels. Er starrte die Polizisten durch eine schiefe Brille aus Horngestell an.
„Ich wollte mich nur mal umgucken“ stotterte er.
„Sie wissen, dass es verboten ist, in fremdes Eigentum einzudringen?“ Hansen versuchte, mehr Schärfe in seine Stimme zu legen, die ihm schwach und leise erschien. „Sie wissen auch, dass auf Plündern das Notrecht angewandt wird? Plünderer sind sofort zu inhaftieren, wenn sie auf frischer Tat ertappt werden.“
Der Mann wurde bleich.
„Ich bin kein Plünderer, das schwöre ich. Ich, ich dachte, ich habe etwas im Laden gehört. Ich wollte nur nach dem Rechten sehen.“
Baumann stieß ein ungläubiges Lachen aus.
„So ein Scheiß. Kommen Sie mal hinter der Theke her und halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.“
Hansen ging um den zerkratzten weißen Aufbau herum. Sein Puls schlug unregelmäßig, als er die pralle Plastiktüte entdeckte, die halb in einen Einbauschrank geschoben war. Er kniete sich hin und sah vorsichtig hinein. Ein widerwärtiger Geruch zog seine Nasenflügel zusammen. Hansens Augen schwammen, als er gegen den Würgereflex kämpfte. Schnell sprang er auf.
„Sind Sie total durchgedreht? Das ist verdorbenes Fleisch, das kann keiner mehr essen“ keuchte Hansen. Der Blonde fing an zu wimmern.
„Die Tüte gehört mir nicht. Ich habe nichts getan. Ich war Architekt in dem Büro in der Westermannstraße, das letzten Monat ausgebrannt ist. Ich bin ein ehrbarer Bürger. Ihr dürft mich nicht mitnehmen.“
Einen Moment lang sahen sich Hansen und Baumann ratlos an. Dann hatte Hansen plötzlich eine Eingebung. Er zog Schutzhandschuhe an und beugte sich mit zugehaltener Nase erneut über die Discountertüte. Der Ekel erzeugte Gänsehaut auf seinem Körper, als er unter das wabbelige, grünliche Fleisch griff. Er stieß auf etwas Eingepacktes, Festes und zog es aus der Tüte. Durch die luftdichte Verpackung schimmerte das Silberpier mehrerer Tafeln Schokolade. Wortlos legte Hansen die Tafeln auf die Theke. Sein Kollege konnte die weit aufgerissenen Augen nicht von der Schokolade lösen und schluckte hörbar.
„ Jetzt haben wir dich, Freundchen. Hehlerei kommt direkt nach Plündern auf der Knast-Skala. Pack schon mal deinen Koffer.“
Hansen zog den Gummihandschuh aus und warf ihn auf den Boden. „Lass uns gehen“, sagte er hastig. Wenn sie mit ihrem Fang ins Revier zurück kamen, musste der Papierkram erledigt werden. Das ersparte ihm vielleicht den Rest der Streife.
Der Schlag des Blonden auf den Solarplexus kam unerwartet und war so hart, dass Baumann keinen Laut von sich gab, als er in sich zusammensackte. Der Mann riss ihm die Dienstwaffe aus der Hand und richtete sie auf Hansen.
„Leg deine Waffe auf den Tresen und schieb sie mir mit dem Päckchen zu. Langsam“ Hansen öffnete seinen Mund, aber kein Laut kam heraus. Seine Hand zitterte, als er die beiden Gegenständen in Richtung des Blonden stieß. Das Gesicht des Mannes hatte sich verändert, seine Züge waren hart, die Lippen schmal zusammengepresst.
„Ich sollte dich erschießen. Ihr verdammten Bullen macht nur Ärger. Euch braucht keiner mehr, habt ihr das noch nicht kapiert? Jetzt haben andere das Sagen. Wo wart ihr denn, als die Plünderer mein Büro niedergebrannt haben?“ Der Blonde spuckte voll Verachtung auf den Boden.
Der Lauf der Waffe zielte direkt auf Hansens Stirn. Hansen blickte starr geradeaus, sein Atem ging stoßweise. Die Angst lähmte seine Gedanken, seine Glieder und legte sich wie dichter Nebel vor seine Augen. Das war es. Das Ende.
„Mieser Versager, für Dich ist jede Kugel zu schade.“ Hansen erhielt einen Schlag gegen die Brust, er taumelte rückwärts, fiel auf die Tüte mit dem Gammelfleisch. Wie aus weiter Ferne hörte er die schnellen Schritte des Mannes, der die Straße hinunter lief.

Der Abschied im Revier war kurz. Die Kollegen starrten erschöpft auf den Boden, als sein Chef eine kleine Rede hielt und ihm danach die Hand drückte. Baumann murmelte ausdruckslos „Mach es gut.“ Hansen nickte kurz, dann drehte er sich um und ging durch die Schwingtür nach draußen auf die Straße.

Als Hansen seine Frau sah, die ihn an der Haustür erwartete, durchzuckte ihn ein Glücksgefühl. Er hatte alles hinter sich. Mit einem breiten Grinsen schloss er sie in die Arme. Dann blickte er in ihr Gesicht und erschrak, als er Tränen auf ihren Wangen sah. „Es tut mir leid“, schluchzte sie. „Das ist dein letzter Tag und ich heule herum. Aber wir haben nichts mehr zu essen. Zwei Jugendliche haben mich mit Schlagstöcken bedroht und unsere Vorräte gestohlen.“ Verzweifelt presste sie sich an ihn. „Was soll nur werden?“ Es ist nicht vorbei, dachte Hansen und spürte den dumpfen Schmerz in seiner Brust. Es fängt gerade erst an.

Letzte Aktualisierung: 27.07.2008 - 21.51 Uhr
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