In years to come they will discover
what the air we breathe and life we lead are all about
(Paul McCartney, Tug of War)
Rosenheim, 30.06.2008: Sie waren komplett. Zu viert saßen sie am Küchentisch, vor sich den französischen Landwein. Er ist zehn Cent billiger als der Mazedonier, hatte Lena kürzlich erklärt. Gerhard, sonst wie sie dem Rotwein zugetan, brach ohne Appetit ein kleines Stück Fladenbrot ab und schob sein Glas beiseite. Aber selbst jetzt, in dieser Gemütsverfassung, reagierte Lena konsequent und leerte das Glas selber. Sie – wer sonst – hatte auf ein solches letztes Beisammensein bestanden: Ein bescheidenes Nachtmahl, das letzte der Wohngemeinschaft. Morgen würden Lena, Andy und Oswald ausziehen. Gerhards Vormund hatte es knallhart angeordnet: Out of Rosenheim …
Look at all my trials and tribulations sinking in a gentle pool of wine - Andreas, ihr Barde! Wenn er sang, käme niemand auf die Idee, dass er stotterte (weshalb er seine Botschaften oft in – makellose – Melodien verpackte). Gerhard liebte die Songs. Andy und er hatten denselben Geschmack, besonders, was ihren Hausgott Bruce Springsteen anging. Heute abend aber begann Lenas Bruder mit dem leiernden Singsang der Musical-Apostel. Die gute Absicht, ihre gedrückte Stimmung aufzuhellen, scheiterte diesmal allerdings gründlich, weil ihm der pathetische Monolog herausrutschte: The end … when brought about by friends - Gerhard lächelte wehmütig. Die Freunde hatten ein schweres Los: Angeknackst, ohne Arbeit, voller Ängste und Zwänge, verletzlich und schwach. Doch ihre Stärke lag darin, sich gegenseitig zu ergänzen, Halt zu geben. Lena, Alkoholikerin mit krankhafter Herrschsucht; Andy mit dem Sprachfehler; der intelligente, aber überempfindliche und sprunghafte Ossi. Den eigenen Depressionen, Ticks und Aussetzern maß Gerhard weniger Bedeutung bei. Ab morgen jedoch würde es ihnen allen schlechter gehen. Niemand brauche sich Sorgen zu machen (O-Ton Deventer)? Sie MACHTEN sich aber Sorgen! Und sie waren am Rande der Verzweiflung.
Diese Kopfschmerzen! Gerhard rieb sich die Schläfen. Er wollte nicht weinen! Oswald rief, er solle endlich das Gezwinker sein lassen, das mache ihn nervös. Der war wohl in Gedanken nur bei ihrer letzten Schachpartie. Nebenan stand nach wie vor die unveränderte Schlussstellung: Oswald gegen Gerhard, aber Oswald war der Bessere. - Heute spielen wir unsere eigene ‚Unsterbliche’, hatte er erklärt, um - wie damals Anderssen - im 23. Zug mit Le7 Schach anzusagen. Gerhard hatte keine Rettung gesehen und aufgegeben. - „L-l-lass ihn in Ru-ruhe, O-o-o-ossi!“, verteidigte ihn Andy, „Es g-g-gibt W-wichtigeres!“ - Worum ging es? Er merkte, dass er die Konzentration verlor. Wie gestern, als er in einer Seitenstraße nicht mehr wusste, wo und was. Gut, dass plötzlich Andy da war und ihn nach Hause brachte. – Stress, Ausweglosigkeit! - Weshalb? Ach ja, morgen sollte alles enden. Kein Schach mehr, keine Aufträge Lenas, deren Führungsrolle in der WG unumstritten war. Er musste nun den Alltag allein meistern … so they still talk about us when we’ve died – Und nie mehr Andys fast perfekte Imitationen (jetzt hörbar betrübt)! „Schluss mit dem blöden Webber! Niemand stirbt!“, fuhr Oswald den traurigen Sänger an und ergänzte, dass man eine Verteidigungsstrategie brauche. Damit habe Petrosjan schließlich selbst gegen die Stärksten standgehalten. Defätismus (den anderen war dieser Ausdruck fremd) bringe gar nichts! - Wieso er ihren Bruder beleidige, giftete Lena. Andauernd diese kleinen Reibereien zwischen den beiden! Wieder einmal musste Andreas beschwichtigend eingreifen und konnte die Situation schnell entschärfen. Er brauchte nur mit heller Frauenstimme Maria Magdalenas I don’t know how to love him anzustimmen, und Lena musste lachen: Nein, ein J.C. Superstar war hier wahrlich niemand!
Trink endlich deinen Wein, ordnete Lena energisch an und füllte Gerhards leeres Glas. Er gehorchte und beruhigte sich langsam. Sein Zwinkern legte sich, die Düsterkeit blieb. Was tun? „Wir werden ihm einen Brief mitbringen! Wenn er den liest, überlegt er es sich vielleicht“, gab Lena die Parole aus, die Ossi sofort übernahm: Richtig! Petrosjan vergessen, zum Angriff übergehen! Wie Morphy. - „Blinky, du schreibst!“, befahl Lena. Wenn es um Schriftkram ging, musste Gerhard ran. Der gescheitere Ossi war sich hierfür zu schade. Folgsam nahm er den Block und wartete auf allgemeine Einfälle. Ihr Problem war, dass sie die Ursachen Herrn Deventers plötzlicher Grausamkeit nur ahnen konnten. Gewiss, es war mit ihnen nicht einfach. Aber auch wenn die Therapie bei allen vieren nicht so recht wirkte, sahen sie sich selber nicht als Bedrohung für andere. Sie waren zwar „psychisch“, wie Herr Deventer sagte, nicht die Stabilsten, taten aber niemandem etwas zuleide, oder? Er merkte, dass ihm Tränen in die Augen traten. „N-n-nicht a-auf-regen!“ (Andy) - und Lena: „Jetzt fang endlich an: ‚Lieber Herr Deventer…’“ - Na gut. Und weiter, Leni? – Langsam schrieb er: „Warum tuhn sie uns das an! Was haben wir ferbrochen!“ - When you walk through a storm ... don’t be afraid of the dark, intonierte Andy die alte Liverpoolhymne. “Sind wir hier in der Gartenstraße oder in der Anfield Road?”, maulte Ossi, diesmal selber mit Bitterkeit in der Stimme. Trostlos! Vor lauter Kummer konnte Gerhard nicht weiterschreiben.
Sie waren zusammen, seit er im Alter von knapp fünf Jahren beide Eltern verloren hatte. Die Erinnerung reichte vage bis zu einer furchtbaren Katastrophe zurück, bei der nur wenige – auch sie vier – überlebt hatten. Nach vielen Jahren in Heimen, Sonder- und anderen Schulen hatten sie den Versuch eines selbständigen Lebens zu viert gewagt. Herr Deventer war einverstanden gewesen. Der wusste doch, wie sehr sie aufeinander angewiesen waren! Hatte er kein Herz? - Walk on with hope in your heart, and you’ll never ever walk alone - Ob Andy daran wohl wirklich selber glaubte? Oder konnte er lediglich seinen Schmerz inzwischen besser verbergen? Der wusste ja nicht mal, ob er bei seiner Schwester bleiben durfte …!
Was war ihnen vorzuwerfen? Die allgemeine Ratlosigkeit wich allmählich einer wachsenden Betroffenheit, je länger sie nachdachten. Gerhard hatte eine Ohrfeige ausgeteilt, als man ihn wegen seines Augenticks hänselte. Einmal war Lena beleidigt worden, weil sie ein paar Gläser Rotwein zu viel intus hatte. Es gab einen zerrissenen Ärmel, als Gerhard sie verteidigte. Und Andy hatte jemandem den Vogel gezeigt, weil der über sein Stottern lästerte. - „Das kann es nicht sein!“ – wieder Oswald, der Analytiker, der lebende Datenspeicher der WG. Und gleich begann er, eine um die andere Begebenheit in Erinnerung zu rufen. Wie man beim Schwarzfahren erwischt wurde. Wie sich Gerhard nicht beim Vormund meldete. Oder wie sie, immer knapp bei Kasse, den Supermarkt beschwindelten (Lenas Idee): Einen herum stehenden leeren Wasserkasten im Automaten gegen einen Leergutbon getauscht! Hatte für einen Liter Rotwein gereicht und war wirklich kriminell gewesen! Schuldbewusst starrten sie vor sich hin. Ach, und im Herbst hatte Lena doch mal diese Handcreme für immerhin fast drei Euro mitgehen lassen: Es hatte eine Anzeige gegeben!
In diesem Moment fiel es Gerhard wieder ein, und er meldete sich bedrückt: Er allein trage die Schuld, habe er doch die Juni-Miete nicht eingezahlt. Allgemeines Entsetzen. „Aber du hast doch das Geld dafür bekommen!“ oder „Kein Wunder!“ - „Ruhe, verdammt!“ Wieder Lena. „Damit kommen wir nicht durch, Leute! Schluss! Keinen Brief!“ Sie zerknüllte das angefangene Schreiben und warf es in den Abfall. Betretenes Schweigen. Leises Wimmern – war es Lena? Gar Ossi, der nie aufgeben wollte? Gerhard merkte, dass er es selber war. In seiner Qual holte er den Brief wieder heraus, strich ihn glatt und schrieb weiter. „Wir möchten härzlichst um eine endschuldigunk biten. Wir werden es nicht mehr widertuhn! Unt biten sie höflich das sie doch ein härz haben!!!“ Und jeder unterschrieb, sorgfältig und in großer Schrift, sogar Lena.
„Wir schaffen es nicht!“ (Oswald, wütend) – I’ve got a mansion just over the hilltops in that bright land where we’ll never grow old … (natürlich Andy) … And someday yonder we will nevermore wander, but walk on streets that are purest gold (Elvis’ Pilgerlied in seiner schmelzend-weichen Stimme, die Andy, wie alle “seine” Sänger, so gut drauf hatte). Lena beendete das Nachtmahl. Vielleicht ging morgen doch noch was, weil immer was geht? – „Hallo, wo bleibt Herbie?“ Ihr Hofsänger stand nicht so auf Grönemeyers Deutsch, eher auf Billy Joel. Und so endete der späte Abend schrill mit aggressivem, trotzigem Beat, fast im Diskant: We all end in the oceans, we all start in the streams, we are carried along by the river of dreams
Zwei Tage später: Während Gerhard in Rosenheims Gartenstraße 14, lange irritiert über den Rotweinvorrat (er trinkt gewöhnlich nur Leitungswasser), in seiner aufgebauten Endspielstellung mit Läufer e7 endlich eine Rettung entdeckt (kein Matt, sondern in wenigen Zügen „Tot-Remis“, bei dem NIEMAND gewinnen kann), …
… schreibt anderswo jemand einen kurzen Aktenvermerk („Nach jahrelangen vergeblichen Therapien konnte gestern durch klinische Hypnotherapie eine Fusion erreicht werden. Alle drei bekannten Besetzer wurden integriert. Gerhard Jakobsmeier ist von MPS geheilt und stellt nach menschlichem Ermessen keine Gefahr mehr für sich und andere dar.
München, den 02.07.2008, Deventer, Justizamtmann“) …
… und lauscht fünfzig Kilometer entfernt derselbe, sich ungewohnt einsam fühlende junge Mann jener Emigrantengeschichte, die stockend und melancholisch verdunkelt aus seinem CD-Player dringt. Wer hatte nochmal Bruce Springsteens dirty tones oft so gut nachgeahmt? Es will ihm nicht einfallen, aber leise singt er mit: …
… For what are we without the hope in our hearts that someday we’ll drink from God’s blessed waters
(Bruce Springsteen, Across the Border)
Letzte Aktualisierung: 18.07.2008 - 09.45 Uhr Dieser Text enthält 10200 Zeichen.