Ganz schön bissig ...
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Juli 2008
Ich packe meinen Koffer
von Patricia Kohnle

Seit Wochen hatte sie das erste Mal wieder tief und fest geschlafen. Ihr Blick glitt über den Küchentisch mit den abgeblätterten Beinen, den sie neben ihr Bett geschoben hatte. Jeden einzelnen Gegenstand, den sie sorgfältig darauf ausgebreitet hatte, tastete sie mit ihren Augen ab, um dann mit einem kleinen Seufzer aufzustehen und sich anzuziehen.

Schließlich hievte sie den großen Alukoffer auf das Bett. Den, der keine einzige Gebrauchsspur zeigte. Er war, nach all den Jahren, nur etwas eingestaubt gewesen. Eigentlich hatte sie ihn damals für ihre geplante Lapplandreise gekauft. Eigentlich. Aber dann…Letzten Freitag hatte sie das Alu-Ungetüm polternd vom Speicher durch den Hausflur hinter sich her in die Wohnung gezogen. Damals war sie noch unschlüssig gewesen, was sie alles einpacken sollte. Aber jetzt lag auf dem Küchentisch alles bereit. Heute würde es losgehen und es gab kein Zurück mehr.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. 7.40h. Sie würde sich beeilen müssen. Das Taxi war auf 8.00h bestellt und Franz war immer pünktlich. Clara ließ das Schloss des Koffers aufspringen und breitete die rote Samtdecke darin aus, die sie zuvor an die Wange gehalten hatte. Jan hatte sie damals mitgebracht. Jan, 10Jahre älter als sie. Er hatte sie auf den glutroten Samt gebettet. Sie, die bisher nur das Kitzeln der Grashalme auf ihrer nackten Haut gespürt hatte. Jan.

Es würde auf ihrer Reise sehr kalt werden. Aber sie hatte trotzdem beschlossen, dass zum Mitnehmen nur das Sommerkleid in Frage kam; das weich Fließende mit den kleinen Blumen, das sie so gerne über ihrer Hüfte hoch knotete, wenn die Meeresgischt an ihren Beinen entlang spritzte. Clara wickelte damit vorsichtig ein filigranes Weinglas ein; fein geschliffen, mit einem geschwungenen Fuß und dünnstem Rand, der beim Nippen kaum zu spüren war.

Sie legte das Stoffpäckchen neben eine abgegriffene Schuhschachtel, deren Aufschrift verblichen und deren Ecken eingerissen waren, von einem überquellenden Papierbündel abgelöster Weinflaschenetiketten. Weine, die an besondere Ereignisse erinnerten wie die Sekttaufe eines Schiffes: die erste bestandene Prüfung, das erste Date, die erste Nacht, die erste Stelle, die erste Beförderung…und das erste Verlassenwerden. Als Jan ging. Damals hatte sie aufgehört diese Etiketten zu sammeln, als sie begriff, dass das erste Mal das letzte Mal in sich trug.

Clara tastete nach dem Holzkistchen daneben, deren Schnitzarbeiten und Intarsien kaum wahrnehmbar waren. So schön waren sie. Das Kistchen war fest verschlossen wie das Geheimnis darin. Ihr Geheimnis, das sie nur fünf Wochen unter ihrem Herzen getragen hatte und von dem niemand wusste. Bis heute nicht. Auch nicht Jan.

Sie legte den Rosenkranz darauf. Jede einzelne Perle konnte sie mit geschlossenen Augen erfühlen. Jede einzelne Perle in ihrer eigenen Struktur erkennen. Jede einzelne Perle für jedes einzelne Wort, das ihr im Halse stecken geblieben war.

Die Kette legte sich über das frech grinsende Gesicht von Karlsson. Das Buch von Astrid Lindgren roch bereits etwas modrig, aber es durfte in keinem Fall auf der Reise fehlen. Sie hatte es gelesen, Buchstaben für Buchstaben unter dem muffigen Federbett, nachts, mit einer Taschenlampe. Und jeder abgestotterte Buchstabe war es wert gewesen, um mit Karlsson vom Häuserdach in die Welt hinaus zu fliegen.

Obenauf warf Clara eine CD in den Koffer. Eigentlich nur die Hülle davon, die auf dem Foto die Pianistin zeigte: Clara Huskil, eine bucklige alte Hexe mit strohigem Haar. Die CD selbst ließ Clara auf dem Tisch liegen. Sie brauchte sie nicht. Die Musik war in ihrem Ohr, in ihrem Herz. Himmlische Musik, gespielt von einem vergänglichen Körper, der…

Clara schreckte hoch. Die Türklingel. Franz war wie immer pünktlich. Kaum hatte sie die Wohnungstür geöffnet, dröhnte seine Bassstimme:

„Na, wohin geht es heute, Engelchen?“

„Wie immer Franz.“

„Was heißt, wie immer?“

„Na, du weißt doch…dorthin, wohin man mit voller Haarpracht fährt“, und sie griff in ihre braunen Locken,…“und man kahlköpfig wie Kojak zurückkommt.“ Ihr Mund lachte.

„Dann soll ich dir wohl dein Perückenköfferchen ins Taxi tragen?“ antwortete Franz flapsig und sein Mund lachte zurück.

Sie rief ihn immer an, seit damals, als sie vor fünf Jahren zu ihrer ersten Chemo fahren musste.

„Braucht man im Himmel eine Perücke, Franz?“

Er schaute von ihrem Mund in ihre Augen. „Hast du sonst irgendetwas, das ich dir ins Taxi tragen soll?“

„Ich…ich…“, sagte sie leise und schwang die Wohnungstür hinter sich hilflos hin und her. „Kann man ein ganzes Leben in einen Koffer packen, Franz?“

„Na, das hättest du gleich sagen können, dass wir heute einen ganzen Container zu transportieren haben“, zwinkerte ihr Franz zu. „Die werden staunen, wenn wir auf quietschenden Felgen vor diesem beschissenen Krankenhaus anhalten. Wo ist denn das Ungetüm oder brauche ich einen Hebekran dafür, Püppchen?

„Ich weiß, Franz, den würdest du auch noch für mich organisieren.“

In diesem Moment fiel endgültig die Wohnungstür hinter Claras Rücken krachend ins Schloss. Sie tastete nach ihrer kleinen, blauen Handtasche, nicht größer als eine Tüte Chips, in der es knisterte.

„Franz,…ich fahre…heute zum letzten Mal. Zu meiner ersten Einladung dieser Art. Und zu Einladungen bringt man doch immer etwas zu knabbern mit, oder? Besonders, wenn man den Einladenden noch nicht so genau kennt.“ Ihr Mund bleibt ernst und ihre Augen.

„Nicht so genau kennt? Der Typ scheint ein Friseurkünstler zu sein, der einen Blick hat für die…eben…na ja…ausgefallenen Frisuren.“ Mit einer kleinen Bewegung strich Franz die Haarsträhne aus Claras Stirn. „…und für die süßesten Ohren der Welt. Komm, Engelchen. Heute darf im Auto gekrümelt werden. Ohne Ende.“ Die Tüte raschelte in der kleinen blauen Tasche zwischen ihnen.

Letzte Aktualisierung: 09.07.2008 - 15.32 Uhr
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