Der Tod aus der Teekiste
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August 2008
Die Geschichte von Theobald
von Susanne Ruitenberg

Elsbeth schob einen Stuhl vor das Wandregal und kletterte hinauf. Auf Zehenspitzen stehend, versuchte sie, das oberste Brett zu erreichen. Doch ihre Arme waren zu kurz. Sie überlegte nicht lange, und stieg auf die Armlehnen.
„Elsbeth!“
Die Großmutter! Elsbeth zuckte zusammen, verlor das Gleichgewicht und wäre vom Stuhle gefallen, hätte die Großmutter sie nicht aufgefangen.
Streng blickte die alte Frau ihre Enkelin an. „Kind, wo soll das enden mit dir? Was suchtest du auf der Etagere?“
Elsbeth deutete auf die gläserne Figur.
„Theobald?“ Elsbeth nickte. Die Großmutter nahm den gläsernen Mäuserich und legte ihn in Elsbeths Hand. Ehrfürchtig hielt das Kind die Luft an und betrachtete das Kleinod. Das Mäuschen saß auf seinen Hinterpfoten, aufrecht, die Vorderfüßchen wie zum Gebet erhoben, schwarze Knopfäuglein lugten keck in die Welt hinaus.
„Warum ist die Maus von Glase, Großmama?“
„Setz dich zu mir, ich werde sie dir erzählen, die Geschichte von Theobald.“ Die Großmutter zwinkerte, denn es war nicht das erste Mal, dass sie diese zum Besten gab.


„Es geschah vor langer, langer Zeit. Theobald, ein kleiner Mäuserich, war froh, denn es war Sonntag. Ein jeglicher Tag sollte einer Maus im Schlosse gleich sein, könntest du einwenden. Schließlich hatte er keine besonderen Aufgaben und hätte munter zwischen Speisekammer und Küche seinem Tagewerk von Essen und Spielen nachgehen können. Jedoch merkte er es daran, dass die Königskinder nicht, wie an anderen Tagen, in Arithmetik, Latein und dergleichen mehr unterrichtet wurden. Nein, heute durften sie die Kammer des Hofzauberers aufsuchen, um den Geschichten aus der großen Fibel zu lauschen. Theobald aber beeilte sich, um vor ihnen dort zu sein und versteckte sich am Fuße des Pultes. Kaum hatten die Königskinder ihre Plätze eingenommen, da erschien Meister Hieronymus. Als Theobald sah, was der Meister unter dem Arme trug, schlug sein kleines Herzchen schneller und seine Barthaare bebten vor Aufregung. Hieronymus legte das Buch auf sein Pult, schlug es auf und hub an zu lesen. Die Königskinder hingen, mucksmäuschenstill, wenn du verstehst, was ich meine“ – die Großmutter machte an dieser Stelle, wie stets, eine Pause und Elsbeth lachte pflichtschuldig - „an seinen Lippen. Und während Hieronymus Geschichten vortrug von früher, als die Welt jung und die Feen zahlreich waren, sah Theobald all diese wundersamen Wesen vor seinem inneren Auge wahrhaftig werden: Einhörner tanzten in verwunschenen Wäldern, Hexen mit schwarzen Katzen auf der Schulter verzauberten böse Menschen, die Fee Herzerein verwandelte die eitle Prinzessin in einen Seidenbaum. Die Lesestunde neigte sich bald ihrem Ende, da faltete Theobald seine Pfötchen und betete zum Gott der Mäuse, der Magier möge seine Lieblingsgeschichte vortragen.“ Die Großmutter sah Elsbeth an.
„Weißt du noch, welche?“
„Die Geschichte vom harzherzigen Hugo.“
„Es heißt zwar ‚hartherzig’, aber ja, Kind, diese Geschichte meinte ich.“ Die Großmutter nickte.


„Am liebsten hörte er die Geschichte vom hartherzigen Hugo. Das war ein gar böser König. Seine Tochter, die gutherzige Prinzessin, hielt er eingesperrt im Turmverlies. Seinem Volke nahm er alles Korn und allen Schinken, einen jeglichen Weinschlauch und auch alle Rüben und Kohlköpfe weg und ließ ihnen kaum das Allernötigste zum Leben. Als nun das arme Volk im Winter schon die Rinde von den Bäumen nagte, berieten sich die Tiere und befanden, dass diese Tyrannei ein Ende haben müsse. Alle Mäuse des Reichs und alle Katzen des Reichs und alle Wölfe, Bären und Adler des Reichs fanden sich am Schlosse ein. Während die Wölfe und Bären die Wache in Schach hielten und die Katzen den Hofstaat in des Königs Schlafgemach zusammen trieben, nagten die Mäuse die Türen der Kornspeicher und Speisekammern durch, bis diese aus den Angeln fielen, und die Adler beeilten sich, die Säcke, Körbe und Weinschläuche zu dem hungernden Volk zurück zu tragen. Zum Schluss hieb ein Bär des Königs Haupt ab und befreite die arme Prinzessin aus ihrem Verlies. Kaum ward sie in den Schlosshof gebracht, eilten wilde Pferde herbei, in ihrer Mitte den zweitgeborenen Prinzen des Nachbarreiches auf seinem edlen Schimmel, der, da er nicht König seines Reiches werden konnte, auf dem Weg in die Fremde gewesen war, sein Glück zu versuchen. Er sah die Prinzessin und befand, dass er weit und fremd genug geritten sei, sie wurden vermählt und herrschten fortan weise und gerecht über ihr Volk.

An dieser Stelle klappte Hieronymus das Buch zu und erklärte die Märchenstunde für beendet. Die Königskinder knicksten artig, dankten und verließen die Stube. Theobald aber blieb am Fuße des Pultes sitzen. Jedes Mal, wenn er diese Geschichte hörte, fühlte er sich groß und stark, als habe er eigenhändig den hartherzigen Hugo vom Throne gestoßen. Ach, wie gerne hätte er selbst in dem Buch gelesen! Doch Hieronymus schloss es stets in seine Truhe ein. Heute jedoch ... kaum hatten die Königskinder die Kammer verlassen, da taten die Wachen Schreckliches kund: Ein Zaubersturm näherte sich, geschickt vom finsteren Magier Necronos. Hieronymus stürzte aus der Kammer, den Sturm abzuwenden, und vergaß das Buch. Theobald konnte sein Glück kaum fassen und erkletterte mit flinken Pfötchen das Pult. Da lag es, in seinem abgegriffenen Einband von braunem Leder. Golden schimmerten die Kanten der Buchseiten und ein rotes Band lugte dazwischen hervor. Theobald versuchte es aufzuschlagen. Zuerst wollte der Buchdeckel sich gar nicht bewegen, so sehr der Mäuserich sich auch mühte. Schließlich holte er tief Luft und schob mit all seiner Kraft den Deckel hoch, dann endlich konnte er die einladend duftenden Seiten umblättern. Ungläubig starrte er auf die Buchstaben. Er konnte lesen, hatte er doch oft genug den Unterrichtsstunden beigewohnt. Aber die Zeichnungen waren es, die ihn verzauberten. Hier waren sie abgebildet, all die wunderbaren Wesen, von denen er so gerne hörte. Schließlich fand er auch die Geschichte vom hartherzigen Hugo. Und da war das Bild! Die Mäuse, wie sie an der Türe nagten, und erkannte er da nicht seinen Ur Ur Ur - wie viele auch immer – Großvater? Ganz gefangen in der Geschichte, sprang Theobald auf das Buch und half seinen Ahnen beim Nagen. Endlich, endlich wäre er ein Teil dieser mutigen, großen Tiereschar, und könnte dereinst seinen Enkeln ... Ein Aufschrei der Rage füllte die Kammer. Theobald erstarrte vor Schreck. So gefesselt war er gewesen, dass er nicht das Verstreichen der Zeit, noch die Rückkehr des Magiers bemerkt hatte. Anstatt wegzuhuschen, blieb er auf dem Bilde stehen, die Pfötchen flehend erhoben, seine Knopfäuglein blitzten, um Verzeihung bittend, den Magier an. ‚Welch schändlichen Frevel hast du meiner Fibel angetan‘, brüllte der. ‚Warte, dir werd‘ ich dein schändliches Tun austreiben.‘ Er hob die Hand mit dem Zauberstab, sprach einen Spruch und eh Theobald es sich versah, war er zu Glas erstarrt. Der Magier hob ihn vom Buch herunter und sah ihm in die Augen. ‚Du wolltest mein Wissen erwerben? Nun, so darfst du fortan auf meinem Schreibpulte weilen, bis in alle Ewigkeit. Erst in vielen, vielen Jahren, wenn die Welt eine andere geworden ist, keine Einhörner mehr in den Wälder tanzen, keine Hexen ihre Künste ausüben und Könige rar geworden sind, sollst du ins Leben zurückkehren dürfen. Aber erst, wenn ein Geschichtenerzähler in dein Innerstes geblickt und vom Glitzern deines Regenbogens aus Licht zu einer neuen Geschichte gefunden hat, dann sollst du wieder frei sein und dein kleines Mäuserichleben zu Ende leben.“

Die Großmutter strich Elsbeth über den Kopf. „Und der Magier vererbte den gläsernen Theobald seinem Nachfolger, und der wiederum an den Seinen, auch später, als Hofhexen Einzug hielten, wurde das Mäuslein weiter gereicht. Bis meine Großmutter und dann meine Mutter, die Heilerinnen, des Theobalds Hüter wurden. Und wer weiß, vielleicht wirst du ihn eines Tages erben. Doch nun ist es Zeit, schlafen zu gehen, mein Kind.“
Die Großmutter setzte Theobald ins Regal zurück und trug das schlafende Mädchen in sein Kämmerlein.


* * *
Die junge Frau schüttelte sich und erwachte wie aus einer Trance. Einen solchen Schreibrausch hatte sie noch nie erlebt. Ihre Schultern spannten, wie lange hatte sie vor dem verdammten Rechner gesessen? Drei frische Seiten, über eintausend Wörter, die wie aus dem Nichts auf das virtuelle Papier geflogen waren. Nur weil sie vorhin das Glasmäuschen angestarrt hatte. Wie lustig sich die Lichtstrahlen darin brachen, ein ganzer Regenbogen leuchtete aus dem Kerlchen. Wer hätte gedacht, dass in Omas Nachlass so ein hübsches Ding auftauchen und sie zu einer Geschichte inspi... Moment! Ungläubig starrte die junge Frau den Zettelkasten an. Da hatte sie das Kerlchen hingesetzt und dabei gedacht, dass der Papierwürfel einen würdigen Sockel abgeben würde. Jetzt war es weg! Wie vom Erdboden verschluckt. Aber – was war das? Schwarze kleine Krümelchen, die sich in einer Spur vom Würfel bis an den Rand des Schreibtisches entlang zogen. Hinter ihr ertönte auf einmal freudiges Miauen. Fortuna, die wie üblich eines ihrer Spielzeugmäuschen als Geschenk darbrachte. Die junge Frau drehte sich um, die Hand schon ausgestreckt, um die Katze zu streicheln. „Danke, meine Süße, hast du mir ...“ Mit einem stolzen Laut ließ Fortuna fallen, was sie getragen hatte und strahlte die junge Frau aus ihren grünen Augen an. Ganz schwach zuckten seine Vorderpfötchen, dann holte Theobald ein letztes Mal tief Luft und verschied.

Letzte Aktualisierung: 27.08.2008 - 10.45 Uhr
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